Der Brief an die Galater

Einleitung

Der Brief an die Galater

Der Brief an die Galater ist nicht an eine örtliche Versammlung (Gemeinde), sondern an die Gesamtheit der in der galatischen Landschaft (vgl. Apg 16,6; 18,23) zerstreut wohnenden Gläubigen gerichtet. Es bleibt dabei fraglich, ob man bei dem Namen Galatien an die eigentliche, im Mittelpunkt von Kleinasien liegende Landschaft oder an die größere römische Provinz „Galatia“ zu denken hat. Ist die letzte Annahme richtig, so würden die Versammlungen von Ikonium, Lystra und Derbe miteinzurechnen sein.

Über die Zeit der Abfassung des Briefes sind von jeher die Meinungen auseinander gegangen. Am meisten hat wohl die Annahme für sich, dass er um das Jahr 56 oder 57 n. Chr., also etwa zwei Jahre vor dem Brief an die Römer geschrieben ist. Dies ist insofern von Bedeutung, als man dem Gefühl nach den Galaterbief dem Römerbrief zeitlich nachstellen möchte.

Der Brief selbst entwickelt nicht so sehr eine bestimmte Wahrheit, wie z. B. die Briefe an die Römer, Epheser, Kolosser es tun, sondern trägt eher den Charakter einer Verteidigungsschrift. Seinem Inhalt nach ähnelt er am meisten dem Römerbrief. Aber während dieser das kostbare Evangelium Gottes über Seinen Sohn, die darin offenbarte Gerechtigkeit Gottes, sowie die Rechtfertigung des Sünders durch Glauben ohne Gesetzeswerke lehrt, also die Grundlagen des christlichen Glaubens legt, tritt der Galaterbrief Lehrern und Lehren entgegen, welche das Christentum mit dem Judentum zu verbinden suchten, indem sie die Gläubigen aus den Heiden unter jüdische Verordnungen stellten. Man verwarf zwar nicht den Glauben an Christum und sein Opfer, aber indem man ihm die Erfüllung gesetzlicher Vorschriften, vor allem der Beschneidung, als notwendig hinzufügte, verfälschte man die gesunde Lehre, verließ den Boden der Gnade und trennte die Gläubigen von Christus.

Mit der Verfälschung der Wahrheit seitens der jüdisch gesinnten Lehrer verbanden sich deren eifersüchtige Angriffe auf die Person und das Amt des Apostels. Ein Mann, der so ganz ohne menschliches Zutun, allein durch den verherrlichten Herrn in den Dienst gestellt worden war, dessen Apostelamt sich ausschließlich auf die Autorität Christi und die Macht des Heiligen Geistes gründete, erregte naturgemäß den Ärger und die Feindschaft dieser Leute, die eine Religion liebten, deren Mittelpunkt der Mensch ist, oder die doch wenigstens seinem Meinen und Wirken Spielraum lässt. Die Versammlungen in Galatien hatten diesen Verführern ihr Ohr geliehen. So war es dem Feind nicht nur gelungen, ihre persönliche Stellung zu dem Apostel in unheilvoller Weise zu beeinflussen, das Schlimmste war, dass sie, ohne es zu ahnen, völlig den Boden unter den Füßen verloren hatten, „aus der Gnade gefallen waren“.

Indem der Apostel den Anstrengungen des Feindes entgegentrat, musste er notwendig die ersten Grundsätze der Wahrheit des Christentums, die Rechtfertigung aus Gnaden, ans Licht stellen. So ist er in diesem Brief dahin geleitet worden, zum Nutzen der Gläubigen aller Zeiten, das Evangelium zu seinen einfachsten Elementen und die Gnade zu ihrem einfachsten Ausdruck zurückzuführen. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade, der unüberwindliche Unterschied zwischen Judentum und Christentum, der Religion des Fleisches und der des Geistes, mit besonderer Schärfe hervorgehoben wurde, ferner dass der Apostel mit mehr Nachdruck als vielleicht irgendwo sonst den außermenschlichen Ursprung seines Apostelamtes und seiner Berufung betont. Geradeso wie das Evangelium, die frohe Botschaft von Jesus Christus, unmittelbar von Gott gekommen war, war auch dessen Träger, der Apostel der Nationen, unmittelbar von Gott in sein Amt berufen worden. „Wehe denen“ die diese Berufung in Frage stellten, die Galater „aufwiegelten“, sie zu „verwirren und das Evangelium des Christus zu verkehren“ gedachten! Sie würden ernten, was sie gesät hatten.

Die Eingangsworte des Briefes tragen ein ganz besonderes Gepräge. Während in fast allen anderen Briefen der Apostel seinen Gefühlen der Liebe den Empfängern gegenüber in warmen Worten Ausdruck gibt, begegnen wir hier einer ernsten Zurückhaltung. Wir können es verstehen. Das Herz des treuen Dieners war niedergedrückt, mit Sorge erfüllt. Seine Sprache ist gemessen, kühl, und bleibt kühl in dem ganzen Brief. Kein einziger persönlicher Gruß beschließt ihn. Vergebens suchen wir auch nach einer Anerkennung des in der Mitte der Galater etwa noch vorhandenem Guten. Der Apostel kommt sofort auf das zu sprechen, was sein Herz so beschwerte: Sie hatten sich zu einem anderen Evangelium umgewandt!

Wir wissen, wie in anderen Briefen die Liebe des Apostels sich gerade darin kundgibt, dass er zunächst das jeweils durch die Gnade gewirkte Gute anerkennt. Die notwendigen Zurechtweisungen oder Tadel stehen erst in zweiter oder dritter Reihe. Selbst in den Briefen an die Korinther ist der Ton viel wärmer als hier; und doch gab es so manches in Korinth, das Tadel verdiente. Die Korinther waren stolz auf ihre reichen geistlichen Gaben und benutzten sie in fleischlicher Weise zu ihrer eigenen Verherrlichung. Es gab Spaltungen und Parteiungen, Neid und Streit in ihrer Mitte, ja, sie führten Rechtshändel miteinander, und das sogar vor Ungläubigen! Sittlich Böses der schlimmsten Art hatte sich gezeigt, und sie hatten nicht Leid darüber getragen. Selbst im Blick auf die Feier des Abendmahls mussten sie die schwersten Vorwürfe über sich ergehen lassen. Fürwahr, die Zustände waren derart, dass man wohl zu der Frage kommen kann: Waren denn diese Leute wirklich alle bekehrt? Der Apostel selbst scheint daran gezweifelt zu haben (vgl. 1. Kor 10,1–12).

Trotz alledem aber nennt Paulus sie „die Versammlung Gottes, die in Korinth ist, Geheiligte in Christus Jesus, berufene Heilige“, und dankt für die Gnade Gottes, die sie in Christus Jesus reich gemacht hatte in allem Wort und aller Erkenntnis, so dass sie in keiner Gnadengabe Mangel hatten. Auch war er überzeugt, dass sie, durch die Treue Gottes bis ans Ende bewahrt, am Tag unseres Herrn Jesus Christus untadelig dastehen würden. Immer wieder gibt er in beiden Briefen seiner zärtlichen Liebe zu den Empfängern derselben Ausdruck. Doch wie ist es hier? Weder im Eingang des Briefes noch in seinem weiteren Verlauf begegnen wir solchen Kundgebungen der Liebe. Nicht dass der Apostel die Galater weniger geliebt hätte als die Korinther. Nein, gerade weil seine Liebe so echt und treu war, konnte er nicht zärtlich sein, musste er so ernst zu ihnen reden. Im Verein mit allen Brüdern, die bei ihm waren (auch das ist wohl charakteristisch), wünscht er „den Versammlungen von Galatien“ Gnade und Friede. Er nennt sie weder Versammlungen Gottes, noch in Gott oder in Christus Jesus, redet auch kein Wort von ihrer persönlichen Stellung als Heilige oder Geliebte, Berufene oder Treue, wie in anderen Briefen. Ebenso wenig bringt er sie mit Gläubigen an anderen Orten in Verbindung. Es sind die Versammlungen von Galatien, die im Gegensatz zu anderen in Gefahr standen, den Pfad der Wahrheit aufzugeben, den Glauben der Heiligen zu verlassen. Mit den Brüdern, die bei ihm waren, hatte der Apostel ernste Besorgnisse um sie. Ja, in gewissem Sinn standen die Galater schon allein; es bedurfte nur noch eines Schrittes, um sie gänzlich von den anderen abzusondern.

Wie merkwürdig ist das alles! Es zeigt uns, wie Gott einen anderen Maßstab anlegt, so ganz anders urteilt, als der Mensch es tut und auch wir als Gläubige geneigt sind zu tun. Der natürliche ehrbare Mensch ist streng, oft unerbittlich streng in seiner Beurteilung von sittlich Bösem, von Trunkenheit, Lüge, Betrug, Unsittlichkeit und dergleichen, während er gar keine Gefühle hat im Blick auf die Verletzung des Willens Gottes, wie Er diesen hinsichtlich anderer Dinge in Seinem Wort kundgegeben hat, oder besonders auch im Blick auf die Nichtachtung der Rechte Seines Sohnes. Es können auf religiösem Gebiet die verkehrtesten Dinge getan, bezüglich der Person und des Werkes des Herrn Jesus die bösesten Dinge gelehrt werden, ohne dass auch nur eine Stimme dagegen laut würde. Die göttliche Wahrheit mag verdreht und verstümmelt werden, aber das Gewissen des Menschen bleibt unberührt, wacht selbst dann kaum auf, wenn das Böse aufgedeckt und der Irrtum im Licht des Wortes Gottes kräftig widerlegt wird. Da es nicht die Gewohnheit des Feindes ist, verkehrte Lehren unverhüllt vorzutragen, sie vor den Richterstuhl des von Gott erleuchteten Gewissens zu stellen, sondern sie mit allerlei Beiwerk auszuschmücken, das auf Gemüt und Gefühl zu wirken geeignet ist, kommen selbst manche Gläubige in Gefahr, der Verführung ihr Ohr zu leihen und es in demselben Maß vor der Wahrheit zu verschließen.

Der Brief an die Galater zeigt uns, wie Gott über böse Lehren und die, welche sie bringen, denkt. Seine Gedanken haben sich seitdem nicht verändert, können sich nicht verändern. Er ist und bleibt Licht. Böse Lehren sind in Seinen Augen genauso gut „Sauerteig“ wie sittlich Böses; sie wirken in derselben, ja, unter Umständen in noch weit schlimmerer Weise als dieses.

Lasst uns denn auf die ernsten Unterweisungen dieses Briefes achthaben, damit unsere Füße auf dem schmalen Pfad der Wahrheit erhalten bleiben, und wir nicht etwa „im Fleisch vollenden, nachdem wir im Geist angefangen haben“ (Kap. 3,3).

Eine kurze Inhalts-Übersicht des Briefes mag dem Leser vor Beginn der eigentlichen Betrachtung willkommen sein.

In Kapitel 1 betont der Schreiber die völlige Unabhängigkeit seines Amtes und Dienstes von Menschen. Beide waren weder von Menschen noch durch einen Menschen. Auch von den übrigen Aposteln hatte Paulus nichts empfangen. Seine apostolische Autorität samt den Offenbarungen, die ihm geworden waren, stammten unmittelbar von dem Herrn selbst.

Bis zum 10. Vers des 2. Kapitels verweilt der Apostel bei demselben Gegenstand und zeigt dann die Unvereinbarkeit des Evangeliums und des Gesetzes. Während das Gesetz eine vollkommene, aber kraftlose Richtschnur für den Menschen im Fleisch bildet, offenbart das Evangelium himmlische Dinge, Christum in Herrlichkeit, und verwandelt uns in sein Bild. Wenn Petrus zu dem ersten zurückkehren will, widersteht Paulus ihm ins Angesicht.

Das 3. Kapitel stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gesetz und Glauben fest (V. 1–14), behandelt dann die Beziehungen zwischen Verheißungen und Gesetz (V. 15–20), und erläutert in den Schlussversen den Zweck des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christum hin.

In der ersten Hälfte des 4. Kapitels redet der Apostel von dem Zustand der Gläubigen unter dem Alten Bund, und wie sie durch Christum von dem Gesetz losgekauft wurden, um die Sohnschaft zu empfangen. Dann, nach einer rührenden Berufung auf sein persönliches Verhältnis zu den Galatern, zeigt er in Hagar und Sarah als Vorbildern, wie das Gesetz zur Knechtschaft gebiert und vom Erbe ausschließt, während die Gnade Freiheit bewirkt und zum Segen führt.

Das 5. Kapitel behandelt diese Freiheit, für die Christus uns freigemacht hat, noch näher, und zwar unter zwei Gesichtspunkten; zunächst im Blick auf die Rechtfertigung. Wenn die Galater im Gesetz gerechtfertigt werden wollten, so waren sie von Christus abgetrennt, aus der Gnade gefallen. Fleisch und Geist sind in ihrer Natur einander völlig entgegengesetzt. Wenn das Fleisch Gerechtigkeit erlangen könnte, dann wäre Christus umsonst gestorben. Der Gläubige erwartet durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit, d. i. die Herrlichkeit. Auf dem Weg dahin wandelt er – und damit kommen wir zu dem zweiten Gesichtspunkt praktisch „im Geist“, in dessen Kraft er frei ist, das was des Geistes ist zu tun, mit einem Wort „durch den Geist zu wandeln“.

Das 6. Kapitel enthält Ermahnungen zunächst an die „Geistlichen“, dann an die Allgemeinheit. Zum Schluss kommt der Schreiber noch einmal auf die Verführer zurück, die die Galater zur Beschneidung und damit zu dem alten Israel zurückzuführen trachteten, wünscht dem wahren Israel, dem Israel Gottes, Frieden und Barmherzigkeit und endet mit einem kurzen, aber umso eindrucksvolleren Hinweis auf die Malzeichen Jesu, die er infolge seines treuen Einstehens für die Wahrheit an seinem Leib trug.

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