Der Brief an die Galater

Kapitel 1

Der Brief an die Galater

Zu Beginn seines Briefes weist Paulus nicht nur darauf hin, daß er Apostel ist, sondern er betont auch die Tatsache, daß er diese Stellung direkt von Gott erhalten hat. Kein Mensch hatte sie ihm vermittelt, nicht einmal die Zwölf, die vor ihm erwählt worden waren. Menschen waren weder die Urheber seiner Apostelschaft noch der Kanal, durch den sie ihm vermittelt wurde. Gott war der Urheber seiner Apostelschaft, und durch Jesus Christus hatte er sie empfangen. Deshalb verfügte er über eine Autorität, die die judaisierenden Lehrer, die sie verwirrten, nicht besaßen, denn diese konnten höchstens vorgeben, die Abgesandten von Brüdern aus Jerusalem zu sein. Außerdem weist er darauf hin, daß alle Brüder, die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes bei ihm waren, mit dem, was er schrieb, übereinstimmten. Auf seinen Aussagen lag somit großes Gewicht!

Er schreibt nicht nur an eine Versammlung von Christen, sondern an die Versammlungen der Provinz Galatien, die offenbar alle gleichermaßen beeinflußt worden waren. Das Evangelium war durch die Bemühungen des Paulus zu ihnen gekommen, wie in Kapitel 4,11-15 angedeutet wird. Sie hatten Paulus seinerzeit einen großartigen Empfang bereitet und waren ihm wohl sehr zugetan. Wunder waren bei ihnen geschehen (Kap. 3,5), und es war eine Zeit großer innerer Bewegtheit. Von irgendwelchem Widerstand wird nichts berichtet. Niemand scheint Paulus Steine an den Kopf geschleudert zu haben. Doch in der Apostelgeschichte bleibt all das unerwähnt. Uns wird nur gesagt, daß sie die galatische Landschaft durchzogen (Apg 16,6) und das Evangelium predigten. Später durchzogen sie erneut die galatische Landschaft und befestigten alle Jünger (Apg 18,23).

Das ist bedeutsam! Es scheint eine jener Zeiten gewesen zu sein, wo sich die Wirkung des Wortes zu sehr auf die Oberfläche beschränkte - es gab zuviel steinigen Boden. Wir dürfen die Arbeit des Apostels deshalb nicht herabsetzen, denn der Herr ging davon aus, daß es auch dann zu solch oberflächlichen Wirkungen kommen würde, wenn Er selbst der Sämann war. Alles sah so beeindruckend aus, und doch wußte der Heilige Geist von Anfang an, was sich unter der Oberfläche befand. Als Lukas inspiriert wurde, seinen zweiten Bericht zu schreiben, wird diese anscheinend wunderbare Zeit in Galatien nur ganz knapp erwähnt.

In den Grußworten am Anfang (Verse 3-5) wird der Herr Jesus in einer sehr bezeichnenden Weise vorgestellt. Er gab sich wirklich hin für unsere Sünden, aber mit dem Ziel, uns „aus der gegenwärtigen bösen Welt“ herauszunehmen. Wenn wir diesen Brief weiterlesen, werden wir sehen, wie das Gesetz, das Fleisch und die Welt zusammenhängen. Das Gesetz wurde nämlich dazu gegeben, das Fleisch in Schranken zu halten und aus der Welt das zu machen, was sie sein sollte. Tatsächlich gelang weder das eine noch das andere, obwohl das Gesetz das wahre Wesen von beiden zum Vorschein brachte. Wir werden andererseits finden, daß die Gnade des Evangeliums den Glauben und den Geist hineinbringt und von der Welt befreit, die unter dem Verdammungsurteil steht.

„Welt“ hat hier die Bedeutung von „Zeitalter“ oder „Zeitlauf“. Damit ist eher das Weltsystem gemeint als die Menschen darin. Dieses System ist auch heute sehr real, aber es ist verurteilt und verworfen. Deshalb ist es der Wille Gottes, daß wir aus der Welt herausgenommen werden, und zu diesem Zweck ist der Herr Jesus für uns gestorben.

In Vers 6 kommt Paulus schon zum Hauptthema seines Briefes. Das Evangelium, das er ihnen gepredigt hatte, hatte sie in (o. durch) die Gnade Christi berufen, und nun hatten sie sich umgewandt zu einer anderen Botschaft, die in Wirklichkeit überhaupt keine Frohe Botschaft war. Er wunderte sich sehr darüber, daß sie so unverständig waren. Und wirklich, wenn wir diese ernsten Worte lesen, spüren wir die Entrüstung, die dahintersteht. Sie folgten einem „anderen [o. andersartigen] Evangelium ..., das kein anderes ist“. Sie stellten sich vielleicht vor, daß sie eine neue und verbesserte Version der alten Botschaft erhielten. Das war aber nicht der Fall. Es handelte sich um eine völlig andersartige Botschaft und zudem um eine falsche.

In Vers 8 setzt Paulus einmal den Fall, daß er selbst das Evangelium Gottes derart verdrehen würde oder daß sogar ein Engel vom Himmel so etwas tun würde - nicht ein gefallener Engel, sondern einer, der bis dahin nicht gefallen war und direkt aus der Gegenwart Gottes käme. Über beide spricht er mit größtem Ernst den Fluch Gottes aus. Danach scheint es, als sähe er voraus, daß manche seine Verurteilung als zu extrem ansehen und ihm Vorhaltungen machen könnten. Dem kommt er zuvor, indem er den Fluch wiederholt, nur daß er diesmal noch größeren Nachdruck darauf legt. Natürlich würden weder er noch ein Engel vom Himmel das Evangelium so verdrehen, aber gewisse Männer hatten genau das bei den Galatern getan, und deshalb sagt er: „Wenn jemand ...“.

Sollte jemand dazu neigen, das als einen gereizten Ausbruch gegenüber einer Gruppe rivalisierender Prediger abzutun, möge er bedenken, worum es in dieser Sache in Wirklichkeit ging. Er wird schnell merken, daß dieser Fluch der Fluch Gottes mit dem ganzen Gewicht göttlicher Macht war.

Was stand denn eigentlich auf dem Spiel? Das wollen wir anhand einer Frage veranschaulichen. Meinst du, daß jemand, der heimlich eine Dosis Gift in jemandes Teekanne schüttet, Bestrafung verdient hat? Ganz sicher. Welche Strafe hätte dann jemand verdient, der mitten in der Nacht eine ganze Wagenladung mit tödlichem Gift ins Wasserversorgungssystem einer Stadt kippte? Da fehlen einem die Worte, um die Abscheu vor solch einer furchtbaren Tat auszudrücken. Hier verdrehten Männer die Botschaft, die die einzige Quelle der Rettung und des geistlichen Lebens für eine gefallene Welt bedeutet. Mit welchen Worten soll der Geist Gottes Seine Abscheu über eine derartige Tat ausdrücken? Nur, indem er darüber den ernsten Fluch Gottes ausspricht.

Diese Männer widersprachen nicht dem Evangelium, sie verdrehten es. Auf eine Person, die das Evangelium ganz ablehnt, kommen viele, die es verdrehen. Sie tun das so geschickt und in so feiner Weise, daß sein wahres Wesen völlig verfälscht wird. Laßt uns vor ihnen auf der Hut sein!

Das eigentliche Motiv hinter den Lehren dieser Männer war, daß sie Menschen gefallen wollten. Das entnehmen wir Vers 10. Später in diesem Brief werden wir sehen, daß sie darauf aus waren, sich des Fleisches zu rühmen und die Galater als Anhänger für sich zu gewinnen. Sie wollten Menschen gefallen, damit diese sich geschmeichelt fühlten, ihnen nachliefen und ihre Anhänger würden. So stand hinter allem das Bedürfnis, sich selbst in den Vordergrund zu stellen.

Im Gegensatz dazu war der Apostel Paulus der echte Diener Christi. Sein Ziel war es, Christus zu gefallen und nicht Menschen. Ob die Menschen ihn tadelten oder lobten, spielte für ihn keine große Rolle. Das traf besonders zu, wenn er an die Menschen im allgemeinen dachte. Es traf aber auch zu, wenn es um das Urteil seiner Mitapostel ging, wie wir im nächsten Kapitel sehen. Das Evangelium, das er predigte, hatte er unmittelbar vom Herrn selbst empfangen, und das erhob ihn weit über jede menschliche Meinung.

Was das betrifft, so kann kein Prediger heutzutage die Stellung des Paulus einnehmen. Deshalb stünde es uns schlecht an, seinen gebietenden Ton anzunehmen. Wir alle haben das Evangelium durch Menschen gehört. Das Wort Gottes ist nicht von uns ausgegangen, sondern nur zu uns gelangt (vgl. 1. Kor 14,36). Deshalb tun wir gut daran, mit Ehrerbietung zu hören, was unsere Brüder zu sagen haben, wenn sie es für angebracht halten, uns wegen irgendeiner Sache zurechtzuweisen. Dennoch bleibt das Wort Gottes natürlich die letzte Berufungsinstanz.

Trotzdem ist es gut, wenn wir nicht darauf aus sind, Menschen zu gefallen. Gerade das Evangelium, dem wir geglaubt haben und das wir möglicherweise verkündigen, sollte uns davor bewahren, da es ja nicht „nach dem Menschen ist“, wie in Vers 11 zu lesen ist. Wenn uns das Evangelium fehlerhaft oder unvollständig gepredigt worden wäre, hätten wir das wahrscheinlich nicht bemerkt. Aber bei dem Evangelium, das Paulus predigte, konnte man das wohl feststellen. Nicht ein Mensch war der Ursprung oder der Übermittlungskanal, durch den er es erhalten hatte; er empfing es durch unmittelbare Offenbarung von dem Herrn Jesus. Es kam unmittelbar von Gott zu ihm, genauso wie seine Apostelschaft, wie wir in Vers 1 gesehen haben. Folglich trug es den Stempel Gottes und nicht den Stempel des Menschen.

Deshalb ist das kennzeichnende Merkmal des Evangeliums, daß es „nach Gott“ ist und „nicht nach dem Menschen“. Was nach dem Menschen ist, ehrt den Menschen, schmeichelt ihm und erhebt ihn. Das Evangelium sagt dem Menschen die demütigende Wahrheit über sich selbst, aber es gibt Gott die Ehre und führt Seine Ziele aus.

Allein schon diese Tatsache liefert uns einen sehr geeigneten Prüfstein, ob das, was wir als Evangelium zu hören bekommen, auch wirklich das Evangelium ist. „Ich höre gern Herrn Sowieso“, wird da gesagt. „Er spricht so vernünftig. Da findet man soviel gesunden Menschenverstand. Er hat solch einen Glauben an die Menschheit und vermittelt einem solch ein Gefühl der Hoffnung und Zufriedenheit in dieser ziemlich unzufriedenen Welt.“ Eben! Genau das ist durch und durch „nach dem Menschen“. Folglich gefällt es dem natürlichen Menschen auch so gut. Und doch ist es falsch. Es ist nicht das Evangelium Gottes.

Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als stünde das, was Paulus im letzten Vers von 1. Korinther 10 sagt, dazu im Widerspruch. Wenn wir jedoch das ganze Kapitel lesen und auch das vorhergehende, dann sehen wir, daß es ihm dort darum ging, daß die Christen die größtmögliche Rücksicht auf ihre schwächeren Brüder, ja auf alle Menschen nehmen sollten. Folglich sollten sie alles meiden, was Anstoß erregen könnte, und das Wohl und den Nutzen aller suchen. Hier geht es dagegen um die Wahrheit des Evangeliums. Der Neigung, es zu verändern oder zurechtzustutzen, um Menschen zu gefallen, muß um jeden Preis widerstanden werden. Hier kann es auch nicht den geringsten Kompromiß geben.

Von Vers 13 an bis zum Schluß des Kapitels berichtet der Apostel etwas von seinem Werdegang, offensichtlich um das zu unterstreichen, was er eben in Vers 12 dargelegt hatte.

Zuerst erinnert er an das, was ihn kennzeichnete, als er noch nicht bekehrt war. Er zeigte in seinem Leben großen Eifer für die jüdische Tradition, womit er seine Zeitgenossen weit in den Schatten stellte. Im Zusammenhang damit war er ein eifriger Verfolger der Kirche Gottes. Zweimal spricht er in den Versen 13 und 14 vom „Judentum“. Das ist bezeichnend, denn die Galater waren in die Schlinge gefallen, zu versuchen, den Kern dieser Religion in das Evangelium einzuschleusen. Er wollte ihnen - wie auch uns - klarmachen, daß die jüdische Religion das Evangelium in keiner Weise ergänzt, sondern im Gegensatz dazu steht. Durch seine Bekehrung war er völlig davon gelöst worden.

Drei Etappen im Werdegang des Paulus werden uns deutlich herausgestellt. Zuerst wurde er schon vor seiner Geburt von Gott abgesondert. Dann wurde er durch die Gnade des Evangeliums berufen. Drittens offenbarte Gott Seinen Sohn in ihm, damit Er das Thema seines Zeugnisses unter den Heiden sei. Obwohl Paulus von reinster hebräischer Abstammung war, mußte er genauso abgesondert werden, als wenn er ein Heide gewesen wäre; er wurde von seinem Judentum abgesondert - ein sehr wichtiger Hinweis für die Galater! Außerdem war er zum Dienst für Gott abgesondert. Wie dieser Dienst auszusehen hatte, wurde bestimmt durch die Art der Offenbarung, die ihm zuteil geworden war.

Es war der Sohn Gottes, der offenbart wurde, und nicht nur der Messias Israels. Der Herr Jesus war natürlich beides, aber Er erschien Paulus als Sohn Gottes, und - wie wir aus anderen Schriftstellen wissen - Er erschien ihm als solcher aus der Herrlichkeit. Seit diesem großen Ereignis auf dem Weg nach Damaskus wußte Paulus, daß Jesus von Nazareth, den er verachtet hatte, der Sohn Gottes war. Und das wurde „ihm“ nicht nur offenbart, sondern es wurde „in ihm“ offenbart.

Der Gebrauch der Präposition „in“ besagt, daß die Offenbarung in Paulus eine tiefgehende Wirkung ausübte. Wer eine Sternwarte besucht, darf vielleicht den Mond durch ein großes Fernrohr betrachten. Er würde die Wunder seiner Oberfläche, seiner Berge und Krater wahrnehmen können. Doch obwohl sie dem Auge offenbart worden sind, sind sie doch nicht „im“ Auge. Alles verschwindet in dem Augenblick, wo man sein Auge vom Fernrohr abwendet. Aber wenn der Astronom eine Kamera am Okular des Fernrohrs anbringt, kann er damit eine Fotografie erstellen. Was vorher nur dem Auge enthüllt war, ist jetzt dauerhaft festgehalten. So war es bei Paulus. Der Sohn Gottes, der in der Herrlichkeit war, hatte einen bleibenden Eindruck in Paulus hinterlassen, und deshalb konnte er Ihn verkündigen als den, den er kannte, nicht nur als jemanden, über den er etwas wußte.

Genau das kennzeichnete den so einzigartigen Dienst des Apostels. Von Anfang an erhob es ihn darüber, sich auf andere Menschen zu verlassen, und seien es die ausgezeichnetsten. Deshalb brauchte er auch nicht sofort nach seiner Bekehrung nach Jerusalem zu gehen. Drei Jahre vergingen, ehe er jemanden von denen sah, die vor ihm Apostel gewesen waren. Und dann sah er nur kurz Petrus und Jakobus.

In Apostelgeschichte 9 wird dieser Aufenthalt in Arabien nicht erwähnt, und so können wir nur vermuten, wo er einzureihen ist. Sehr wahrscheinlich ist er zwischen den Versen 22 und 23 dieses Kapitels anzusetzen. Seine Flucht aus Damaskus, als er in einem Korb über die Mauer herabgelassen wurde, ereignete sich, nachdem er aus Arabien zurückgekehrt war. Wenn das stimmt, fand sein Besuch bei Petrus kurz nach diesem Ereignis statt. Auf jeden Fall betont der Apostel nachdrücklich die Richtigkeit dessen, was er den Galatern schreibt, auch daß die Versammlungen in Judäa von seiner Bekehrung nur durch Berichte wußten. Doch verherrlichten sie Gott für Seine Gnade und Macht, die den wütenden Verfolger, unter dem sie gelitten hatten, in einen Diener Christi verwandelt hatte.

Wir erinnern uns noch einmal, daß alle diese geschichtlichen Einzelheiten erwähnt werden, um es uns tief einzuprägen, daß er das Evangelium, das er verkündigte, direkt vom Herrn selbst empfangen hatte.

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