Mose, der Mann Gottes

Sinai - der Mittler

Mose, der Mann Gottes

(Das erste Jahr)

Im dritten Monat nach ihrem Auszug aus Ägypten kommen die Kinder Israel in die Wüste Sinai (2. Mo 19,1). Der HERR lässt ihnen durch Mose diese bemerkenswerten Worte sagen: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe“ (Vers 4). Die ungeordneten Scharen, die aus dem Land Gosen ausgezogen waren, sollten zu einer Nation (Vers 6) gebildet werden, die ihre Gesetze, ihren Gottesdienst, ihren Mittelpunkt und ein wohlgeordnetes Heer hatte.

Das erste Jahr des Auszuges begann mit dem Passah und dem Roten Meer. Daran schließt sich nun die Fürsorge Gottes in der Wüste an: das Manna, das Wasser des Felsens und der Sieg über Amalek. Dann führt er es auch zur Gesetzgebung am Sinai und zu den damit verbundenen Verordnungen. Dieses erste Jahr lässt sich in seiner Bedeutung für uns vor allem auf unser persönliches Leben anwenden: die Vergebung der Sünden, die Erlösung, die persönliche Speise für die Seele, der Wandel mit dem Herrn.

Im zweiten Jahr (2. Mo 40,1.17) wird mit der Aufrichtung der Stiftshütte begonnen. Dann folgen die Weihe der Priester, die Opfergaben der Fürsten, die Einrichtung des Dienstes und die Ordnung beim Lagern und beim Aufbruch. Das zweite Jahr bezieht sich mehr auf das gemeinschaftliche Leben. Der Gläubige ist nicht erlöst worden, um allein zu leben, sondern um mit seinen Brüdern verbunden zu sein: Christus ist gestorben, „damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte“ (Joh 11,52).

Schon während des zweiten Jahres hätte das Volk die Einnahme Kanaans in Angriff nehmen können, wäre nicht in Kades-Barnea, durch Bericht der Kundschafter, ihr Unglaube sichtbar geworden. Die 38 Jahre, die sie noch in der Wüste zubringen mussten, wären in dieser Beziehung nicht nötig gewesen. Aber sie waren da, damit Israel sich selbst und auch Gott kennen lernte (5. Mo 8).

1. Die Einführung des Gesetzes - der Gesetzgeber

Vor die ganze Machtentfaltung der Majestät und der Heiligkeit Gottes gestellt, zittert das Volk (2. Mo 19,16). Mose selbst, so sagt Hebräer 12,21, ist angesichts der furchtbaren Erscheinung „voll Furcht und Zittern“. Gott spricht dort die Zehn Gebote aus, die Grundlage des moralischen Gesetzes.

Das erschreckte Volk steht von ferne. Sie sprechen zu Mose: „Rede du mit uns, und wir wollen hören; aber Gott möge nicht mit uns reden, dass wir nicht sterben!“ (2. Mo 20,19). Die Versammlung Israels hält sich fern, aber Mose naht sich dem Dunkel, wo Gott ist.

Ein anderes Mal (2. Mo 24,9-18) begleiten ihn siebzig der Ältesten Israels auf den Berg, mit Aaron, Nadab und Abihu, aber Mose allein naht sich dem HERRN. Jene gingen nicht weiter und das Volk selbst durfte nicht einmal den Berg berühren, geschweige denn hinaufsteigen. Vom „Gesicht“ des Gottes Israels, das die Ältesten dort hatten, wird uns nur berichtet, dass „unter seinen Füssen es wie ein Werk von Saphirplatten war und wie der Himmel selbst an Klarheit“.

Mose steigt schließlich mit Josua auf den Berg, um die göttlichen Mitteilungen zu empfangen. Sechs Tage bleibt er dort mit ihm. Am siebten Tag geht er dann ganz allein mitten in die Wolke hinein und bleibt in der Gegenwart Gottes vierzig Tage und vierzig Nächte. Er empfängt die beiden Gesetzestafeln, die Verordnungen, und die Anweisungen bezüglich der Stiftshütte.

Mose teilt dem Volk die Worte Gottes mit, und sie antworten dreimal: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun!“ (2. Mo 19,8; 24,3.7). Aber sie waren in keiner Weise in der Lage das Gesetz zu erfüllen. „Denn wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz“ (Gal 3,21). Als sie sich so leichtfertig verpflichteten, Seine Gebote zu halten, kannte das Volk in Wirklichkeit weder Gott noch sich selbst.

Wozu, wird man sagen, ist denn das Gesetz? Eine Frage, auf die der Apostel in den Briefen an die Römer und an die Galater Antwort gibt: „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20); auch ist es unser Erzieher auf Christus hin gewesen (Gal 3,24).

Ein Kind verspricht leicht, seinen Eltern immer gehorsam sein zu wollen. Aber Gott wird erlauben, dass bestimmte Fälle eintreten, wo es feststellen muss, dass es gesündigt hat. Sein Gewissen wird dann berührt werden. Könnte es eine wahre Bekehrung geben, ohne dass in gewissem Maße eine Überzeugung von Sünde vorhanden ist? Muss man nicht zu einem Bewusstsein der Heiligkeit Gottes und der eigenen Sünde gebracht worden sein, um seinen verlorenen Zustand zu empfinden?

Als der junge Jesaja in einem Gesicht in den himmlischen Tempel trat und den HERRN in Seiner Herrlichkeit sah, rief er aus: „Wehe mir! Denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann von unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen wohne ich“ (Jes 6,5).

Für Petrus war es eine Ehre, den Herrn Jesus in seinem Schiff mitzunehmen. Als er aber auf der Tiefe des Sees den wunderbaren Fischfang feststellte und erkannte, dass sein Passagier niemand anders als Gott selbst war, da warf er sich zu den Füssen des Herrn Jesus nieder und sagte: „Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“ (Lk 5,8).

Man muss sich die Zehn Gebote ansehen und sich vor jedem einzelnen aufrichtig fragen: Habe ich das beachtet? Es genügt nicht, noch nie gestohlen zu haben. Auch mit einem einzigen Wunsch, es zu tun, hat man schon das zehnte Gebot übertreten.

Welcher junge Mann könnte sagen, dass die in Matthäus 5,28 erwähnte Begierde noch nie in ihm aufgestiegen wäre? Gibt es viele Jungen, die noch bei keinem Anlass ihren Bruder oder Kameraden als „Narren“ behandelt haben? (Mt 5,22). Einer unserer jungen Freunde stellte, von diesem Wort getroffen, plötzlich fest, dass er, indem er seinen Bruder schon mehrere Male so betitelt hatte, die Hölle verdient habe. Was sollte man ihm darauf antworten? - Oh, das ist nicht so schlimm, du warst ein wenig wütend, dein Bruder hatte dich eben erzürnt? - Gewiss nicht, nach dem Wort Gottes ist ein solches Verhalten sehr ernst. Der Herr Jesus verurteilt es, sich leichtfertig gegen seinen Bruder zu erzürnen. - Dann verdiene ich also die Hölle? - Ja! Wie wunderbar ist es dann, das Werk des Herrn Jesus vor das schuldbeladene Gewissen stellen zu können, der für unsere Vergehungen gebüßt, unsere Sünden an Seinem Leib auf dem Holz getragen und für das, was wir verdienten, die Strafe empfangen hat: „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist“ (Gal 3,13).

2. Der verhängnisvolle Zwischenfall des goldenen Kalbes

„Und als das Volk sah, dass Mose zögerte, vom Berg herabzukommen, da versammelte sich das Volk zu Aaron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen! Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat - wir wissen nicht, was ihm geschehen ist. Und Aaron sprach zu ihnen: Reißt die goldenen Ringe ab, die in den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter sind, und bringt sie zu mir. Und das ganze Volk riss sich die goldenen Ringe ab, die in ihren Ohren waren, und sie brachten sie zu Aaron. Und er nahm es aus ihrer Hand und bildete es mit einem Meißel und machte ein gegossenes Kalb daraus. Und sie sprachen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. Und als Aaron es sah, baute er einen Altar vor ihm; und Aaron rief aus und sprach: Ein Fest dem HERRN ist morgen! Und sie standen am nächsten Tag früh auf und opferten Brandopfer und brachten Friedensopfer; und das Volk setzte sich nieder, um zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um sich zu belustigen.
Da sprach der HERR zu Mose: Geh, steige hinab! Denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat sich verdorben. Sie sind schnell von dem Weg abgewichen, den ich ihnen geboten habe; sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und sich vor ihm niedergebeugt und haben ihm geopfert und gesagt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. Und der HERR sprach zu Mose: Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte; dich aber will ich zu einer großen Nation machen. Und Mose flehte zu dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Warum, HERR, sollte dein Zorn entbrennen gegen dein Volk, das du aus dem Land Ägypten herausgeführt hast mit großer Kraft und mit starker Hand? Warum sollten die Ägypter so sprechen: Zum Unglück hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge zu töten und sie von der Fläche des Erdbodens zu vernichten? Kehre um von der Glut deines Zorns und lass dich des Übels gegen dein Volk gereuen. Gedenke Abrahams, Isaaks und Israels, deiner Knechte, denen du bei dir selbst geschworen hast, und hast zu ihnen gesagt: Mehren will ich eure Nachkommen wie die Sterne des Himmels; und dieses ganze Land, von dem ich geredet habe, werde ich euren Nachkommen geben, dass sie es als Erbteil besitzen auf ewig. Und es reute den HERRN das Übel, wovon er geredet hatte, dass er es seinem Volk tun werde.
Und Mose wandte sich und stieg vom Berg hinab, die zwei Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, Tafeln, beschrieben auf ihren beiden Seiten: auf dieser und auf jener Seite waren sie beschrieben. Und die Tafeln waren das Werk Gottes, und die Schrift war die Schrift Gottes, eingegraben in die Tafeln. Und Josua hörte die Stimme des Volkes, als es jauchzte, und sprach zu Mose: Kriegsgeschrei ist im Lager! Und er sprach: Es ist nicht der Schall von Siegesgeschrei und nicht der Schall von Geschrei der Niederlage; den Schall von Wechselgesang höre ich.
Und es geschah, als er sich dem Lager näherte und das Kalb und die Reigentänze sah, da entbrannte der Zorn Moses, und er warf die Tafeln aus seinen Händen und zerbrach sie unten am Berg. Und er nahm das Kalb, das sie gemacht hatten, und verbrannte es im Feuer und zermalmte es, bis es zu Staub wurde; und er streute es auf das Wasser und ließ es die Kinder Israel trinken. Und Mose sprach zu Aaron: Was hat dir dieses Volk getan, dass du eine große Sünde über es gebracht hast? Und Aaron sprach: Es entbrenne nicht der Zorn meines HERRN! Du kennst das Volk, dass es im Bösen ist. Und sie sprachen zu mir: Mache uns Götter, die vor uns hergehen; denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat - wir wissen nicht, was ihm geschehen ist. Und ich sprach zu ihnen: Wer hat Gold? Sie rissen es sich ab und gaben es mir, und ich warf es ins Feuer, und dieses Kalb ging hervor. Und Mose sah das Volk, dass es zügellos war; denn Aaron hatte es zügellos werden lassen, zum Gespött für ihre Widersacher. Und Mose stellte sich im Tor des Lagers auf und sprach: Her zu mir, wer für den HERRN ist! Und es versammelten sich zu ihm alle Söhne Levis. Und er sprach zu ihnen: So spricht der HERR, der Gott Israels: Legt jeder sein Schwert an seine Hüfte, geht hin und her, von Tor zu Tor im Lager, und erschlagt jeder seinen Bruder und jeder seinen Freund und jeder seinen Nachbarn. Und die Söhne Levis taten nach dem Wort Moses; und vom Volk fielen an diesem Tag etwa dreitausend Mann. Und Mose sprach: Weiht euch heute dem HERRN, ja, jeder in seinem Sohn und in seinem Bruder, um heute Segen auf euch zu bringen.
Und es geschah am nächsten Tag, da sprach Mose zum Volk: Ihr habt eine große Sünde begangen; und nun will ich zu dem HERRN hinaufsteigen, vielleicht kann ich Sühnung für eure Sünde tun. Und Mose kehrte zu dem HERRN zurück und sprach: Ach, dieses Volk hat eine große Sünde begangen, und sie haben sich Götter aus Gold gemacht! Und nun, wenn du ihre Sünde vergeben wolltest! Wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast. Und der HERR sprach zu Mose: Wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buch auslöschen. Und nun geh hin, führe das Volk, wohin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel wird vor dir herziehen; und am Tag meiner Heimsuchung, da werde ich ihre Sünde an ihnen heimsuchen. Und der HERR schlug das Volk, weil sie das Kalb gemacht hatten, das Aaron gemacht hatte“ (2. Mo 32).

Als Aaron und das Volk das goldene Kalb machten, hatten sie eigentlich nicht im Sinn, den HERRN zu verlassen. Sie übertraten dabei vielmehr das zweite Gebot: „Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen, noch irgendein Gleichnis dessen, was oben im Himmel, und was unten auf der Erde ist... Du sollst dich nicht vor ihnen niederbeugen und ihnen nicht dienen.“ Der Geist des Menschen neigt immer zur Verkörperung des Geistlichen. Er benötigt eine sichtbare Form, einen Gegenstand, den er, wenn auch nicht anbeten, so doch verehren kann. „Und als Aaron es sah, baute er einen Altar vor ihm; und Aaron rief aus und sprach: Ein Fest dem HERRN ist morgen!“ (2. Mo 32,5). Sie erniedrigten den HERRN zum Rang der Götter Ägyptens hinab: „Das ist dein Gott“.

Der Götzendienst entwürdigt den Menschen, er führt ihn zur Zügellosigkeit (Vers 25), zu Schwelgereien und zur Ausschweifung (Vers 6). Es genügt, Römer 1 zu lesen, um sich davon zu überzeugen. Und nichts ist ernster als den Namen Gottes mit dem Götzendienst zu verbinden.

Welches wird die Haltung Moses sein vor einer solchen Lage?

a) Auf dem Gipfel des Berges gibt ihm der HERR Kenntnis von dem, was sich ereignet hat (Verse 7-10). Mose, gegen den das Volk schon so manches Mal gemurrt hat, könnte die Gelegenheit ergreifen und den göttlichen Vorschlag annehmen, der ihn auf die Probe stellt: Soll er den Zorn Gottes gegen das Volk entbrennen lassen, damit sie vernichtet werden und er, Mose selbst, zu einer großen Nation gemacht wird? Aber der Gesetzgeber hat die Interessen seines Gottes zu sehr am Herzen, als dass er so handeln könnte. Sogleich fleht er den HERRN an und führt zwei entscheidende Gründe für die Verschonung Israels an. Erstens, was würden die Ägypter sagen, wenn das Volk von der Fläche des Erdbodens vertilgt würde? Sie würden über das Unvermögen des Gottes Israels frohlocken! Zweitens hatte der HERR den Erzvätern sichere Verheißungen gegeben, ihre Nachkommenschaft zu mehren und ihnen das Land Kanaan zu geben. Was würde aus der Erfüllung dieser feierlichen Verheißung?

Verhält es sich mit der Fürbitte, die wir für unsere Geschwister ausüben können, nicht ähnlich? Wir dürfen uns dabei der Treue Gottes erinnern, Seiner Verheißungen, Seiner Gerechtigkeit Christus gegenüber („Er ist treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt“); anderseits sollen wir dabei auch an das Zeugnis denken, das die Christen vor der Welt abzulegen haben.

b) Mose sieht das Kalb und die Reigentänze (Vers 19). Da entbrennt sein Zorn, ein gerechter Zorn und nicht ein Ausbruch fleischlicher Gefühle. Er zerbricht die Tafeln des Gesetzes: Kaum erlassen, ist es ja schon gebrochen. Er nimmt das Kalb, zermalmt es zu Staub und lässt die Kinder Israel das damit überstreute Wasser trinken: Sie sollten sich in ihrem Inneren der Schwere ihrer Sünde bewusst werden. Wenn wir schwer gesündigt haben, müssen wir lernen dies einzusehen und die Sünde vor Gott bekennen, dabei aber auch in der Tiefe unserer Seele den Ernst der Sünde empfinden und den Abscheu Gottes ihr gegenüber. Mose legt den Leviten die schreckliche Aufgabe auf, die zu erschlagen, die sich offensichtlich besonders dem Götzendienst hingegeben hatten, auch wenn es ihre Brüder, ihre Nachbarn und ihre engsten Freunde waren. Dreitausend Menschen fielen auf diese Weise - ein trauriger Gegensatz zu dem ersten Tag, an dem das Evangelium verkündigt werden wird und wo dreitausend Seelen zum Herrn geführt werden (Apg 2).

c) Am nächsten Tag hatten sich die Erregung und der Zorn beruhigt. Wird Mose nun sagen: Gestern war ich erzürnt, aber eigentlich war das Böse nicht so schlimm? Ganz im Gegenteil! Mit tiefem Schmerz bestätigt er: „Ihr habt eine große Sünde begangen.“ Im Innern seines Herzens hat er die Sache erwogen. Er will zu dem HERRN hinaufsteigen und sagt zum Volk: „Vielleicht möchte ich Sühnung tun für eure Sünde“ (Vers 30). Er sagt nicht, welches Mittel er dazu verwenden wird. Er ist nicht einmal sicher, ob er damit Erfolg hat.

Vor dem HERRN erkennt Mose an, von Schmerz überwältigt, dass das Volk eine große Sünde begangen hat. Er fügt hinzu: „Und nun, wenn du ihre Sünde vergeben wolltest...!“, ohne den Satz vollenden zu können. Er weiß wohl, dass Gott nicht vergeben kann, wenn nicht Sühnung erfolgt ist. Daher fügt er hinzu, was er schon bei sich selbst beschlossen hat: „Lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.“ Er will sich selbst als Sühnung für das Volk opfern. Aber er hat noch nicht gelernt, was der Psalmist später feststellen muss: „Keineswegs vermag jemand seinen Bruder zu erlösen, nicht kann er Gott sein Lösegeld geben“ (Ps 49,8).

Aber Gott vergibt dennoch! Er kann zwar nicht annehmen, dass Mose für das Volk bezahlt: „Wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buch auslöschen.“ Wenn Er die Sünde erträgt, so ist es, weil Er Sein Auge auf das Kommen eines Andern richtet, der sich selbst zum Opfer geben wird. Er wird Ihn zu einem Gnadenstuhl darstellen, damit Gott „gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,24-26). Die „vorher geschehenen Sünden“ des Volkes, die während der ganzen Zeit des Alten Testaments verübt worden sind, konnte Gott in voller Gerechtigkeit „hingehen lassen“, im Blick auf das vollkommene Opfer, das zur bestimmten Zeit geoffenbart werden sollte.

Gott ist also gerecht, wenn Er hier dem Volk vergibt. Er bleibt Seinen Verheißungen gegenüber treu (2. Mo 33,1), auch hält Er Seine Herrlichkeit gegenüber den Ägyptern aufrecht. Aber in Seinen Regierungswegen muss Er die Seinen doch züchtigen. Er zieht Seine Gegenwart aus ihrer Mitte zurück (2. Mo 33,3)

3. Das Zelt der Zusammenkunft

„Und Mose nahm das Zelt und schlug es sich außerhalb des Lagers auf, fern vom Lager, und nannte es: Zelt der Zusammenkunft. Und es geschah, jeder, der den HERRN suchte, ging hinaus zum Zelt der Zusammenkunft, das außerhalb des Lagers war. Und es geschah, wenn Mose zum Zelt hinausging, so erhob sich das ganze Volk, und sie standen, jeder am Eingang seines Zeltes; und sie schauten Mose nach, bis er in das Zelt trat. Und es geschah, wenn Mose in das Zelt trat, so stieg die Wolkensäule herab und stand am Eingang des Zeltes; und der HERR redete mit Mose. Und das ganze Volk sah die Wolkensäule am Eingang des Zeltes stehen; und das ganze Volk erhob sich, und sie warfen sich nieder, jeder am Eingang seines Zeltes. Und der HERR redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet; und er kehrte zum Lager zurück. Sein Diener aber, Josua, der Sohn Nuns, ein Jüngling, wich nicht aus dem Innern des Zeltes“ (2. Mo 33,7-11).

Als Folge der Sünde des Volkes entfernt sich Gott: „Ich werde einen Engel vor dir her senden ... Ich werde nicht in deiner Mitte hinaufziehen“ (2. Mo 33,2-3). Das Volk vernimmt dieses böse Wort, es trauert, und keiner legt seinen Schmuck an.

Was war in einer solchen Lage zu tun? Das Lager war in Zügellosigkeit geraten. Gottes Gegenwart wird sich daraus zurückziehen. Und Mose hatte doch auf dem Berge soeben die Unterweisungen zum Bau der Stiftshütte empfangen, wonach die Wohnung Gottes den Mittelpunkt einnehmen und das Volk sich rings herum lagern würde!

Mose fühlte wohl, dass dies angesichts der Unordnung unter dem Volk nicht mehr möglich ist. Sollte er für die, die den HERRN fürchten, auf jede Kundgebung der Gegenwart Gottes verzichten? Nein, Mose nimmt ein Zelt und richtet es für sich selbst außerhalb des Lagers, fern vom Lager auf und nennt es das Zelt der Zusammenkunft. Alle, die den HERRN suchen, gehen zum Zelt hinaus. Als sich Mose selbst dahin begab, „erhob sich das ganze Volk und sie standen, ein jeder am Eingang seines Zeltes; und sie schauten Mose nach, bis er in das Zelt trat“ (Verse 7-8). Es gab also zwei Personengruppen: Solche, die den HERRN suchten und zum Zelt hinausgingen und andere, die nur vom Eingang ihres eigenen Zeltes aus dorthin blickten.

Haben wir in Hebräer 13,13 nicht eine ähnliche Unterweisung? „Lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend.“ Die Christenheit gleicht heute wegen all der Vermischung und den Irrtümern, die sie erfüllen, in vieler Hinsicht dem Lager Israels. Auch heute ist es möglich, aus dem Lager hinauszugehen und, in Ausführung von 2. Timotheus 2,19-22, sich einfach zum Namen des Herrn Jesus hin zu versammeln und auf Seine Verheißung zu zählen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). Wie damals, folgen auch heute nicht alle dieser Aufforderung. Nur eine kleine Zahl sammelt sich zum Herrn hin, aber sie kann auf die Verheißung Seiner Gegenwart rechnen. „Und es geschah, wenn Mose in das Zelt trat, so stieg die Wolkensäule hernieder und stand am Eingang des Zeltes; und der HERR redete mit Mose.“ Das ganze Volk kann erkennen, dass die Gegenwart Gottes sich dort draußen offenbart, und nicht mehr in der Mitte des Lagers. Der treue Knecht selbst findet eine Gemeinschaft, wie er sie noch nie gekannt hat: Der HERR spricht mit ihm „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“.

Mose legt nun auf einem neuen Boden Fürsprache ein: Auf dem Grundsatz der Gnade! Im Bewusstsein, dass er selbst ein Gegenstand der Gunst Gottes ist, fleht er zu dem HERRN, diese Gnade auf das ganze Volk zu erstrecken. Er empfängt die wunderbare Antwort: „Mein Angesicht wird mitgehen, und ich werde dir Ruhe geben.“ Aber das würde nicht genügen. Wenn Mose in den Augen des HERRN Gnade gefunden hat, so beharrt er darauf, dass Gott mit ihm und mit Seinem Volk gehe. Schließlich neigt sich der HERR zu seinem Gebet: „Auch dieses, was du gesagt hast, werde ich tun; denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen“ (Vers 17).

Die Vision der Gnade

Zutiefst erwärmt durch diese Vertrautheit mit Gott drückt Mose nun den brennenden Wunsch aus, die Herrlichkeit Seines Angesichtes zu sehen. Aber der Augenblick, wo die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi leuchten würde (2. Kor 4,6), war noch nicht gekommen. Der HERR muss zu Seinem Diener sagen: „Du vermagst nicht mein Angesicht zu sehen, denn nicht kann ein Mensch mich sehen und leben.“ Aber wenn auch die Herrlichkeit noch nicht offenbart werden kann, so sagt der HERR doch: „Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen.“

In die Felsenkluft gestellt, allein im Heiligtum der göttlichen Gegenwart, empfängt Mose eine neue Offenbarung von Gott, dem er bis dahin so treu nachgefolgt ist. Als der HERR Mose in dem Dornbusch begegnet war, hat er Ihn als Den kennengelernt, der unveränderlich ist: „Ich bin, der ich bin.“ In Ägypten hat sich ihm Gott als der HERR Gott, der Bundesgott kundgetan. Am Sinai hat er das Gesetz vom gerechten und heiligen Gott empfangen. Aber in der Felsenkluft lernt er nun das Wesen Dessen kennen, der Gnade ist: „HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt“ (2. Mo 34,6-7).1 In der Verborgenheit des Tempels lernt Jesaja später die Gnade kennen, die seine Ungerechtigkeit wegnimmt und für seine Sünde Sühnung tut. In dem Gesicht am Horeb hat auch Elia im Ton des leisen Säuselns die sanfte Stimme gehört, die sein Herz berührt. Im Tempel Jerusalems sieht Paulus Den, der ihn weit weg, zu den Nationen sendet. Und in dem Licht des Auferstehungsmorgens, allein im Garten des Joseph von Arimathia, wirft sich Maria Magdalene zu den Füßen ihres auferstandenen Herrn nieder.

Man begreift, dass der vom Berg herabgestiegene Mose nicht mehr derselbe ist. Die neuen Gesetzestafeln sind in seiner Hand. Sie wurden nicht zerschlagen, sondern in die Lade gelegt, die ein Bild von Christus ist. Er kommt nicht mehr, um die Schuldigen zu bestrafen und Schrecken im Lager zu verbreiten. Sein Angesicht glänzt und lässt die geschaute Güte und Gnade widerstrahlen: Er hatte „mit Ihm geredet“. Aaron und das Volk, zuerst erschreckt, nahen sich ihm, aber Mose legt eine Decke auf sein Angesicht: Die Zeit war noch nicht gekommen, wo die Herrlichkeit der Gnade völlig offenbart werden konnte. Selbst heute noch liegt die Decke auf dem Herzen des Volkes Israel.

Gott hat die Erkenntnis Seiner Herrlichkeit im Angesicht Christi leuchten lassen. Wir alle, die wir den Herrn Jesus kennen, können mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen und so von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, nach demselben Bild verwandelt werden, als durch den Herrn, den Geist (2. Kor 3,18). Haben wir die Einzelheiten dieses wunderbaren Verses schon beachtet: Wir alle ... werden verwandelt werden? Dies ist nicht das Vorrecht eines besonderen Menschen, wie Mose es war, noch die Auszeichnung eines hervorragenden Dieners, sondern für alle ist die wunderbare Vision da: Es gibt für uns keine Decke mehr ... Aber es braucht Zeit und ein Herz dazu, um Ihn zu betrachten!

Fußnoten

  • 1 Diese Offenbarung Gottes hier steht jedoch noch in Verbindung mit Seiner Regierung der Welt: «... Aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen - der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, am dritten und am vierten Glied.» Das Evangelium hingegen stellt uns Ihn in den Worten dar: «Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat: nämlich, dass Gott in Christus war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und er hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt» (2. Kor 5,18.19). (C. H. M.)
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