Betrachtung über den Propheten Nahum (Synopsis)

Betrachtung über den Propheten Nahum (Synopsis)

Wollten wir die einzelnen Nationen, die mit dem Volk Gottes in Berührung gekommen sind, ihren besonderen Merkmalen nach genauer betrachten, so würden wir vielleicht finden, dass sich in einer jeden eine bestimmte Art des Bösen ziemlich deutlich ausgeprägt findet. Jedenfalls ist dies bei den hauptsächlichsten Feinden jenes Volkes der Fall. Bei Ägypten, Babel und Ninive treten die verschiedenen Zustände, die sie darstellen, in ausgesprochener Weise hervor. Ägypten ist die Welt in ihrem natürlichen Zustand, aus der das Volk ausgegangen ist. Babel ist das Verderben, das in einer Macht handelt, die das Volk in Knechtschaft bringt. Ninive ist die Welt in ihrem Stolz und ihrer Pracht, die nur von ihrer eigenen Wichtigkeit erfüllt ist und nichts anderem Beachtung schenkt – die Welt, welche einfach durch ihren Hochmut dazu getrieben wird, dem Volk Gottes in offener Feindschaft entgegenzutreten. Sie wird gleich all den übrigen Feinden gerichtet werden und unter dem Gericht des Allmächtigen auf immer verschwinden. Der HERR hat gegen sie geboten, dass von ihrem Samen nicht mehr gesät werden soll. Dieses Gericht ist so einfach, dass die Weissagung, in der es angekündigt wird, sehr wenig Erklärung erfordert.

Sie beginnt mit einer Darstellung des Wesens Gottes, wie es sich dem gegenüber erweist, was Er seitens des Hochmuts des Menschen ertragen muss. Ein eifernder und rächender Gott ist der HERR. Es ist ein ernster Gedanke, dass, so groß auch die Geduld Gottes ist, doch ein Tag kommt, der es offenbar machen wird, dass Er mit dem Bösen keine Nachsicht hat. Und doch ist dies auch ein tröstlicher Gedanke; denn die Rache Gottes befreit die Welt von dem Druck und dem Elend, in dem sie sich unter dem Joch des Feindes und der Lust befand, damit sie nun unter den Augen ihres Befreiers und Friedebringers erblühen könne.

Er hat das Böse ohne Zweifel lange Zeit hingehen und sich entwickeln lassen. Er ist nicht ungeduldig, wie es unsere armen Herzen sind. Er ist langsam zum Zorn; doch ist dieser Zorn um so schrecklicher, weil er die Gerechtigkeit Dessen erweist, der nie ungeduldig ist. Er ist groß an Kraft, und Er hält keineswegs für schuldlos den Schuldigen 1. Wer kann vor seinem Grimm bestehen, und wer die Glut seines Zorns ertragen?

Das ist aber noch nicht alles. Wenn Er seinem Grimm freien Lauf lässt, dann ist es nicht so, dass derselbe keine Grenzen kännte und alles ohne Unterschied verwüstete. Der HERR ist gütig; Er ist eine Feste am Tag der Drangsal. Wenn sich die Ströme des Bösen und des Gerichts ergießen – des Bösen, das selbst ein Gericht ist, und des Gerichts, vor dem nichts bestehen kann, das von demselben betroffen wird –, dann ist Er selbst die sichere Zuflucht aller derer, die auf Ihn vertrauen: Er selbst kennt alle, die dies tun. Was die Herrlichkeit des Feindes betrifft, so wird sie zerstört, ausgetilgt, vernichtet werden. Während sie sich unbekümmert ihren Vergnügungen hingeben, sich berauschen und nichts Böses ahnen, sollen sie völlig verzehrt werden wie dürre Stoppeln.

In Nahum 1, 11 begegnen wir jenem so oft von den Propheten erwähnten Manne, dem Assyrer, der Böses sinnt wider den HERRN. Vers 12 ist dunkel, doch glaube ich, dass er sich auf Israel bezieht. Auch Israel wird, wenn es sich im Geist der Welt seiner Sicherheit und Stärke rühmt, den Einfall des Feindes, die Überflutung der großen Wasser, der Geißel Gottes, zu erdulden haben. Wenn dieselbe jedoch durch das Land (d. h. Israel) zieht, dann sollen sie weggemäht werden 2 (vgl. Jes 28, 18. 19; 14, 25). Mit dieser Geißel kommt aber das Gericht Gottes zum Abschluss, und, wie der Prophet erklärt, Israel wird dann vollständig und für immer befreit sein (vgl. Jes 10, 5. 24. 25). Das Joch des Assyrers wird auf alle Zeiten hin zerbrochen und die stolze, feindselige Macht der Welt ebenso vernichtet sein, wie bereits vorher über die antichristliche Verderbnis und Empörung das Gericht ergangen war. Die gute Botschaft von der vollen Befreiung wird nach außen hin verbreitet werden, und Juda wird in Frieden seine Feste feiern.

Es ist mir unzweifelhaft, dass der Einfall Sanheribs Anlass zu dieser Weissagung gegeben hat; augenscheinlich geht sie aber weit über jenes Ereignis hinaus, und das Gericht, von dem die Rede ist, ist ein Endgericht. Wir haben hier wiederum ein Beispiel von dem, was wir schon so häufig bei den Propheten zu beobachten Gelegenheit hatten, dass nämlich ein Gericht von beschränkterem Umfang dem Volk Gottes zur Warnung oder Ermunterung dienen musste, während es nur den Vorläufer eines noch zukünftigen Gerichts darstellte, in dem das Tun Gottes seiner ganzen Ausdehnung nach zum Abschluss und zum vollen Ausdruck kommen würde.

Der Nichtswürdige soll fortan nicht mehr durch Juda ziehen; er wird ganz ausgerottet werden.

Wenn es Gott zuließ, dass Jakob völlig verwüstet und zugrunde gerichtet wurde, so war der Grund davon der, dass die Zeit des Gerichts gekommen war – eines Gerichts, welches nicht bei Jakob stehenbleiben sollte. Ohne Zweifel begann Gott bei seinem eigenen Haus; würde Er aber bei demselben stehenbleiben? O nein. Was muss aber das Ende der Feinde des Volkes Gottes sein, wenn Er bei seinem eigenen Volk das Böse nicht länger duldet? Mochte Ninive sich denn verteidigen, wenn es dazu imstande war! Aber nein, in jene Löwenhöhle würde eingedrungen, und die jungen Löwen würden vertilgt werden; sie würden unfähig sein, sich zu verteidigen.

Bei dem Propheten Jesaja (Schluss von Jes 2 und Anfang von Jes 3) begegnen wir demselben Gedankengang. Jakob wurde gerichtet; alle Hausgenossen wurden, ebensogut wie Israel selbst, von allem entblößt und ins Elend gestürzt; und nun kam die Reihe an die Welt. So groß auch der Hochmut Ninives sein mochte, so war es doch nicht besser als andere, zu deren Untergang es wahrscheinlich als Werkzeug gedient hatte; denn Assyrien und Ägypten waren lange Zeit Nebenbuhler gewesen. Die Festungen der Assyrer sollen gleich Feigen sein, die beim ersten Schütteln herabfallen, und ihr Volk ohne Kraft, als wenn es lauter Weiber wären. Sie werden vollständig zugrunde gerichtet werden. Feuer wird sie verzehren. Dies hat sich ohne Zweifel in der Geschichte bereits vollzogen, als Ninive erobert wurde; doch wird die vollständige Erfüllung desselben erst dann eintreten, wenn der Assyrer wiederkommen wird. Ich meine nicht, dass dann diese Stadt selbst von dem Gericht betroffen werden wird – sie ist ja bereits zerstört worden; sondern die Macht, die dann das Gebiet des Landes Nimrods besitzen und auch den Hochmut, der in jenem herrschte, geerbt haben wird.

Fußnoten

  • 1 Dies bleibt immer wahr und ist von unermeßlicher Wichtigkeit. Gott hält nie den Schuldigen für unschuldig. Das wäre Seiner Natur entgegen. Es würde nicht die Wahrheit sein. Er kann die Sünde hinwegtun und den gereinigten Sünder annehmen; Er kann aber nicht so handeln, als wenn die Sünde nicht da wäre, während sie doch tatsächlich da ist, oder ihr gegenüber gleichgültig sein, ohne sich selbst zu verleugnen. Er kann zwar züchtigen „zum Nutzen“ und um seine Regierung offenbar werden zu lassen, d. h. Er kann sich in dieser Hinsicht mit der Sünde beschäftigen; Er kann auch, den Forderungen seiner Natur und seiner Herrlichkeit entsprechend, die Sünde gänzlich hinwegtun und austilgen, was zu unserem Heil ist: und beides ist dann wahr. Aber Er kann niemals und nirgendwo die Sünde unbeachtet lassen, als ob sie nicht vorhanden wäre, oder als ob es sich um eine gleichgültige Sache handelte.
  • 2 Bezieht sich der Vers nicht auf Israel, dann ist der Gedanke folgender: Sollte es auch den Assyrern gelingen und sie unversehrt sich vollen Gelingens erfreuen, so werden sie doch (wie es bei Sanherib geschah), wenn sie nach Juda kommen, weggemäht werden, und damit würde dann (wie wir dies auch in Jes 10 sehen) Israel für immer befreit sein.