Leben mit Ziel
Eine Auslegung zu 4. Mose 6

Teil 1: Die Kennzeichen des Nasirs (6,1-8)

Leben mit Ziel

Das Gelübde (6,1–2)

„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Wenn jemand, ein Mann oder eine Frau, sich weiht, indem er das Gelübde eines Nasirs gelobt, um sich für den HERRN abzusondern “ (6,1.2).

Die ersten acht Verse dieses Kapitels liefern uns die Kennzeichen des Nasirs. Die Verse 1 und 2 behandeln das Gelübde selbst und Verse 3 bis 8 zeigen dann den Inhalt bzw. die Konsequenzen eines solchen Gelöbnisses.

Freiwilligkeit

Im ersten Vers spricht Gott zu Mose. Er hatte das bereits getan, um Anweisungen zu geben im Blick auf die Zählung des Volkes (4. Mo 1,1) und die Anordnung der Stämme im Lager (4. Mo 2,1) und im Blick auf den Stamm Levi. Mose sollte diesen Stamm herzunahen lassen, um die Leviten in besonderer Weise in den Dienst zu stellen: „Lass den Stamm Levi herzunahen und stelle ihn vor Aaron, den Priester, dass sie ihm dienen“ (4. Mo 3,5.6). Dann hatte Gott gesprochen, um Anweisungen in Bezug auf die Familien des Stammes Levi zu geben. Die Kehatiter, die Gersoniter und die Merariter waren jeweils zu bestimmten Aufgaben berufen worden (4. Mo 4,4.24.33). Das Priestertum hatte Gott für Aaron und seine Söhne reserviert. Doch in unserem Vers redet Gott nicht im Blick auf einen Stamm oder eine Familie, sondern seine Worte betreffen eine einzelne Person: „Wenn jemand, ein Mann oder eine Frau …“

So räumte Gott jedem Israeliten die Möglichkeit ein, sich Ihm in dieser Weise zu weihen. Man brauchte nicht zu einem bestimmten Stamm zu gehören oder zu einer bestimmten Familie. Das Einzige, was man brauchte, war ein Herzensentschluss, sich freiwillig Gott zur Verfügung zu stellen, um sich für Ihn abzusondern und für Ihn zu leben.

Selbst zur Zeit des Gesetzes suchte Gott Herzen, die freiwillig etwas für Ihn taten oder gaben. So war es auch bei den Opfern gewesen: Während manche Opfer (Sündopfer, Schuldopfer) unter bestimmten Umständen gebracht werden mussten, spricht 3. Mose 1 davon, dass jemand den Wunsch hat, Gott freiwillig ein Brandopfer zu bringen: „Wenn ein Mensch von euch dem HERRN eine Opfergabe darbringen will …“ (3. Mo 1,2). Wenn Gott schon damals bei seinem irdischen Volk freiwillige Anbetung (3. Mo 1) und freiwillige Weihung (4. Mo 6) suchte, wie viel mehr dann bei gläubigen Christen heute, denen die vollkommene Offenbarung der Liebe Gottes in seinem Sohn geschenkt worden ist.

Daraus sollte man allerdings nicht folgern, dass Hingabe für Christen optional wäre, gewissermaßen ein „Extra“, auf das man auch gern verzichten kann. Im Volk Israel war der Nasir tatsächlich ein Spezialfall. Wenn man nicht das Gelübde des Nasirs ablegte, brach man dadurch nicht das Gesetz. Für Christen ist Hingabe kein „Wahlfach“, sondern wir werden dazu aufgefordert (Röm 12,1.2). Aber die Haltung, in der wir wünschen, für den Herrn zu leben, soll Freiwilligkeit sein und nicht etwa eine Haltung gesetzlichen Pflichtbewusstseins, das versuchen würde, aus eigener Kraft für Gott zu leben – denn in eigener Kraft würden wir nur versagen (Röm 7).

Gelübde

Gelübde sind nicht kennzeichnend für die Zeit der Gnade, in der wir leben, sondern für die Zeit davor. Interessanterweise begegnen wir dem ersten Gelübde bei Jakob – dessen Leben die Geschichte Israels vorschattet – und zwar in der Erziehung und unter der Zucht Gottes. „Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Weg, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Haus meines Vaters, so soll der HERR mein Gott sein“ (1. Mo 28,20.21). Armer Jakob. Gott war ihm gerade erschienen und hatte bedingungslose Verheißungen gegeben, in denen Er immer wieder gesagt hatte „ich will“: ich will geben, ich will behüten, ich will dich zurückbringen, ich will dich nicht verlassen (1. Mo 28,13–15). Doch Jakob begibt sich auf eine gesetzliche Ebene, indem er ein Gelübde ablegt.

So war es auch beim Volk Israel. Es hatte gesagt: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun!“ (2. Mo 19,8; 24,3.7) Doch es dauerte nicht lange, bis Israel bewies, dass es keine Kraft hatte, dieses Gelübde zu erfüllen.

Wenn Gottes Wort dennoch – wie in unserem Kapitel – Gelübde vorsieht, dann bleibt bestehen, dass nicht etwa das Gesetz daran Schuld trägt, wenn Gelübde (oder auch das Gesetz selbst) gebrochen wurden, sondern es lag an der Kraftlosigkeit des natürlichen Menschen (Röm 7,18; 8,3).

Die beiden einzigen Stellen im Neuen Testament, wo Gelübde erwähnt werden, befinden sich in Apostelgeschichte 18,18 und 21,23. Ein näheres Studium zeigt, dass es sich keineswegs um einen Normalfall handelte. In den Briefen werden Gelübde nicht mehr erwähnt.

Dennoch dürfen wir „mit Herzensentschluss bei dem Herrn verharren“ (Apg 11,23) und aus Dankbarkeit für Ihn leben (Gal 2,19.20).

Ein Mann oder eine Frau

In Vers 2 heißt es „Wenn ein Mann oder eine Frau sich weiht“. Das Angebot stand jedem offen. Wir haben schon gesehen, dass es nicht um Abstammung ging. Aber genau so wenig ging es um Fähigkeit oder Gaben. Nasiräertum war eine Sache für jeden in Israel, der diesen Wunsch hatte. Auch heute ist Hingabe noch immer eine Sache, die jeden Christen angeht.

Es fällt auch auf, dass dieser Vers in der Einzahl spricht: ein Mann oder eine Frau. Natürlich konnte es grundsätzlich jeder tun, aber dennoch war es eine ganz persönliche Angelegenheit.

Weihung und Absonderung

Es ist von zwei Dingen die Rede, Weihung und Absonderung – ein Unterschied, der leider in manchen Übersetzungen verloren ging: „Wenn jemand, ein Mann oder eine Frau sich weiht …, um sich für den Herrn abzusondern“.

Das Wort für „weihen“ (hebr. pala) wird mit einer auf den ersten Blick erstaunlichen Vielfalt übersetzt: „wunderbar“ (1. Mo 18,14; Ri 13,19), „Wunder“ (2. Mo 3,20; 34,10; Ri 6,13), „erfüllen“ (3. Mo 22,21), „zu schwierig“ (5. Mo 17,8) und „außergewöhnlich“ (5. Mo 28,59). Dennoch weisen diese Ausdrücke im Blick auf unsere Stelle in die richtige Richtung: Es handelte sich um ein besonderes Leben, etwas das man als „wunderbar“ oder auch „zu schwierig“ betrachten mochte, etwas, das jedenfalls „außergewöhnlich“ war. Wie vollkommen trifft das doch auf Christus, den wahren Nasir, zu. Seine Weihung für Gott war in der Tat „wunderbar“, so dass sich über Ihm der Himmel öffnete und Gott verkündete, dass Er in Ihm sein ganzes Wohlgefallen gefunden hatte (Mt 3,17).

Der Ausdruck „um sich abzusondern“ (hebr. nasar) dagegen gibt den konkreten Inhalt des Gelübdes an, und zwar Absonderung für Gott (4. Mo 6,4). Es kommt im Alten Testament zehn Mal vor, davon fünf Mal in 4. Mose 6 (V. 2,3,5,6 und 12) und bedeutet so viel wie „fernhalten“, „beiseitesetzen“, „absondern“ oder „weihen“. Die anderen fünf Stellen sind: 3. Mose 15,31; 22,2; Hesekiel 14,7; Hosea 9,10; Sacharja 7,3.

Der Nasir sonderte sich also ab – und zwar nicht nur von dem, was verunreinigte, sondern auch von dem, was man im natürlichen Bereich als das Beste bezeichnen würde. Wir sollen das Gute in dem, was Gott geschaffen hat, anerkennen (1. Tim 4,1–4). Aber als Christen kennen wir auch eine Kraft, die uns über die natürlichen Dinge erheben kann.

Dabei fällt auf, dass es heißt „für den Herrn“ absondern. Der positive Aspekt wird zuerst betont. Erst muss das Ziel klar sein (für Gott), dann kann auf vieles verzichtet werden. So müssen auch wir Christus, unseren Herrn, vor uns haben und „zu ihm hinausgehen“. Wenn wir von Ihm angezogen werden, dann können wir auch „seine Schmach tragen“ (Heb 13,13).

Diesen Grundsatz finden wir auch in 2. Korinther 6: Gott spricht erst von dem Vorrecht, Tempel Gottes zu sein: „Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: ‚Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein‘“ (2. Kor 6,16). Erst danach kommt Er auf die Verantwortung zu sprechen, die sich daraus ergibt: „Darum geht aus ihrer Mitte aus und sondert euch ab, spricht der Herr“ (2. Kor 6,17).

Ein Nasir

Der Ausdruck „Nasir“ selbst ist eigentlich ein hebräisches Wort (nasir), das die deutsche Sprache übernommen hat. Er leitet sich ab von diesem Verb („nasar“), das „absondern“ bedeutet. Nasir bedeutet daher so viel wie „der Abgesonderte“.

Es ist interessant, dass dieses Wort, das im Alten Testament insgesamt 16 mal vorkommt, zum ersten Mal in Bezug auf Joseph benutzt wird: der „Abgesonderte“ unter seinen Brüdern (1. Mo 49,26; 5. Mo 33,16). Natürlich war Joseph kein Nasir im eigentlichen Sinn, denn das Gesetz des Nasirs war noch nicht gegeben worden. Dennoch zeigt dieses Beispiel sehr schön, worum es bei dieser Absonderung eigentlich geht: nämlich nicht um Absonderung als Selbstzweck oder sogar eine pharisäerhafte fleischliche Absonderung (Jes 65,5; Jud 19; Spr 18,1). Vielmehr ging es darum, sich von den Brüdern abzusondern, die negativ von ihrem Vater redeten („üble Nachrede“; 1. Mo 37,2). Joseph stand klar auf der Seite seines Vaters. Das ungetrübte Verhältnis, das er zu seinem Vater hatte, machte es ihm unmöglich, in diesem Punkt gemeinsame Sache mit seinen Brüdern zu machen.

Abgesehen von zwei Stellen 1 in 3. Mose 25, die sich auf den Weinstock beziehen, kommt das Wort noch 12 Mal vor, und zwar in den folgenden Zusammenhängen:

  • 4. Mose 6:6 Mal (4. Mo 6,2.13.18.19.20.21)
  • Richter: 3 Mal im Zusammenhang mit Simson: (Ri 13,5.7; 16,17)
  • Klagelieder: 1 Mal (Klgl 4,7)
  • Amos: 2 Mal (Amos 2,11.12).

In diesen 12 Stellen wird das Wort auch mit „Nasir“ übersetzt. In Klagelieder 4,7 wird das Wort in der Elberfelder Bibelübersetzung ausnahmsweise nicht mit „Nasir“ sondern mit „Fürsten“ übersetzt. Auf diesen Umstand werden wir im Kapitel „Beispiele“ noch eingehen.

Der Grundgedanke des Nasiräertums war jedenfalls die Weihung oder Hingabe, die positive Absonderung für Gott oder zu Gott hin: „für den Herrn” (vgl. Vers 4).

Schon als 12-Jähriger zeigte der Herr Jesus seine Absonderung zu Gott hin, indem Er im Tempel war und „inmitten der Lehrer saß und ihnen zuhörte und sie befragte“ (Lk 2,46). Dort hatten Maria und Joseph Ihn nicht vermutet – aber für Ihn war es der einzig richtige Ort: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49).

So gehörte Er seinem Gott und ging im Vertrauen auf Ihn und in Hingabe an Ihn seinen Weg. Er tut dies von Anfang an: „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an, von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott“ (Ps 22,11). Diese positive Absonderung zu seinem Gott war die Triebfeder. Die Absonderung von den Sündern und von seinem Volk, das sich von Gott entfernt hatte, war die Folge (Ps 69,9.10).

Enthaltung von der Frucht des Weinstocks (6,3.4)

„… so soll er sich des Weines und des starken Getränks enthalten: Essig von Wein und Essig von starkem Getränk soll er nicht trinken; und keinerlei Traubensaft soll er trinken, und Trauben, frische oder getrocknete, soll er nicht essen. Alle Tage seiner Absonderung soll er von allem, was vom Weinstock bereitet wird, von den Kernen bis zur Hülse, nicht essen“ (6,3.4).

Mit Vers 3 kommen wir zu den Folgen bzw. dem eigentlichen Inhalt des Gelübdes. Wenn jemand also diese Gelübde des Nasirs getan hatte (V. 2), dann musste er sich von drei Dingen enthalten, nämlich von aller Frucht des Weinstocks und, wie wir noch sehen werden, vom Scheren der Haare und von der Berührung eines Toten.

Als Erstes wird also der Verzicht auf alles, das vom Weinstock kommt, genannt:

  • Wein
  • Starkes Getränk
  • Essig von Wein
  • Essig von starkem Getränk
  • Traubensaft
  • Frische Trauben
  • Getrocknete Trauben.

Wie wir aus Jothams Gleichnis in Richter 9 wissen, spricht der Olivenbaum von Fettigkeit (Ri 9,8.9), der Feigenbaum von Süßigkeit (Ri 9,11) und der Weinstock von Freude: „Sollte ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut? (Ri 9,13). Der Wein spricht also von Freude: für Gott (im Trankopfer) und für Menschen (Ps 104,15).

Natürlich ist es wahr, dass Wein eine anregende Wirkung hat und in ausschweifendem Genuss „den Verstand wegnimmt“ (Hos 4,11). Da der Nasir grundsätzlich weder Wein noch starkes Getränk zu sich nahm, bestand für ihn folglich nicht die Gefahr, in seinem Urteilsvermögen beeinträchtigt zu sein – eine wichtige Sache, besonders im Blick auf geistliche Dinge. Daher durften Aaron und Seine Söhne keinen Wein trinken, wenn sie ins Heiligtum gingen (3. Mo 10,8–11).

Jedoch scheint es hier nicht in erster Linie um die Gefahr zu gehen, sich zu berauschen, denn selbst Traubensaft und sogar frische oder getrocknete Weintrauben waren dem Nasir nicht gestattet. Es scheint daher tatsächlich um einen allgemeineren Punkt zu gehen, nämlich um irdische Freuden, die an sich erlaubt sind, aber auf die zu Gunsten der besonderen Weihe für Gott verzichtet wird.

In den Ländern am Mittelmeer wächst Wein im Überfluss und der Genuss der Frucht des Weinstocks in der einen oder anderen Form war an der Tagesordnung. Wenn nun ein Nasir grundsätzlich nichts vom Weinstock zu sich nahm, dann musste er auffallen. Aber der Nasir lebte für Gott. Er war bereit, auf legitime irdische Freude zu verzichten. Er sieht das Leben aus Gottes Perspektive und sieht die Dinge daher eben anders als die Menschen, die ihn umgeben. Was seiner Weihe im Weg steht, hat in seinem Leben keinen Platz.

So sagte der Herr Jesus im Blick auf die Nachfolge als Jünger: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26.27). Natürlich ist es gut und richtig, wenn wir unsere Familien lieben; aber es geht darum, dass der Herr an erster Stelle kommt.

Dabei sollten wir uns vor dem Fehlschluss hüten, Christen hätten keine Freude. Im Gegenteil, die christliche Freude ist besser als die natürliche: Sie ist unabhängig von irdischen Umständen – die sich nur allzu schnell ändern können (Phil 4,4). Dazu nimmt die Freude der Welt ab, nicht aber die Freude, die der Herr gibt. Je mehr irdische Dinge man genießt (sei es Geld, Luxus, Reisen oder was auch immer), desto weniger können sie wirkliche und bleibende Freude bringen.

Wenn wir ehrlich sind, haben wir das wohl alle schon gemerkt. Es ist so zu sagen ein Naturgesetz: Die Freude der Welt nimmt ab. So musste schon der erstaunte Speisemeister bei der Hochzeit in Kana gestehen: „… jeder Mensch setzt zuerst den guten Wein vor, und wenn sie betrunken geworden sind, den geringeren …“ Die Qualität des Weines nimmt ab. Die Freude dagegen, die der Herr Jesus gibt, nimmt nicht ab, sondern wird immer größer. Dieser Wein ist besser: „… du hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt“ (Joh 2,10).

Worin besteht diese christliche Freude und wie können wir mehr von ihr genießen? Sie kommt daraus hervor, dass wir uns mit unserem Herrn und seinen Leiden und seinem Werk beschäftigen: „Und als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“ (Joh 20,20). Wir werden auf diesen Zusammenhang zwischen unserer Beschäftigung mit Christus einerseits und unserer Freude andererseits noch einmal zurückkommen, wenn wir das Trankopfer besprechen (V. 15).

Es geht also beim Nasir um die Bereitschaft, auf irdische Freude zu verzichten, nicht um den Verzicht auf Freude schlechthin.

Alle Tage

Alle Tage seiner Absonderung soll er von allem, was vom Weinstock bereitet wird, von den Kernen bis zur Hülse, nicht essen“ (6,4).

Der Ausdruck „alle Tage“ begegnet uns wiederholt in diesem Kapitel (4. Mo 6,4–6.8), so wie auch die verwandten Ausdrücke „bis die Tage erfüllt sind“ bzw. „an dem Tag, an welchem die Tage seiner Absonderung erfüllt sind“ (4. Mo 6,5.13). Immer wieder wird diese Zeitspanne betont.

Einerseits macht das deutlich, dass es keine Ausnahmen gibt. Jeder Tag ist eingeschlossen. Es war nicht etwa ein einmaliger oder gelegentlicher „Kraftakt“ sondern ein Lebensstil. Jeder Tag zählte.

Andererseits wird klar, dass es sich um eine begrenzte Zeitspanne handelte, für die das Gelübde gültig war. Diese Zeit würde vorüber gehen. Der Augenblick würde kommen, wo es dem Nasir ausdrücklich gestattet war, Freude zu genießen (4. Mo 6,20). Für Christen heute umfasst diese Zeitspanne ihr gesamtes Leben auf der Erde, von ihrer Bekehrung bis zur Entrückung – oder, falls es Gottes Wille ist, dass sie durch den Tod gehen, bis zu ihrem Tod. Es ist eine begrenzte Zeit, sozusagen eine goldene Gelegenheit, in der wir zeigen können, dass wir für unseren Herrn leben möchten.

Natürlich freuen wir uns auf den Augenblick, wo wir „in die Freude unseres Herrn eingehen“ werden (Mt 25,21) und wir verherrlicht und dann mit Ihm herrschen werden (Joh 17,22; 2. Tim 2,12) – aber die Gelegenheit, dem Herrn zu Liebe Verzicht zu leisten, wird dann vorüber sein.

An dieser Stelle wird noch einmal, wie in der Einleitung bemerkt, der „Wüstencharakter“ dieses Kapitels deutlich. Nasiräertum ist eine Sache der Wüste; und das entspricht dem Charakter des ganzen Bibelbuches.

Seine Absonderung

Das Wort, das hier für Absonderung gebraucht wird (hebr. neser), hat denselben Wortstamm wie das eben besprochene Wort „absondern“ (nasar). Der Stamm „nsr“ bedeutet „Absonderung“, „Weihe“ und auch „Krone“.

Das Wort kommt im Alten Testament 25 Mal vor, davon erstaunlicherweise 13 Mal in unserem Kapitel – auch mit „Weihe“ übersetzt. In den anderen 12 Stellen wird das Wort nie mit Absonderung übersetzt, sondern mit „Diadem“ (siehe z.B. 2. Mo 29,6) oder „Krone“ (2. Kön 11,12) und an einer Stelle mit „Haarschmuck“ (Jer 7,29).

Diese auf den ersten Blick überraschende Bedeutungsbandbreite 2 (Absonderung ist doch etwas ganz anderes als eine Krone) ergibt letztlich doch ein schönes Bild: Sowohl das Diadem des Hohenpriesters als auch die Krone des Königs und das Haar des Nasirs sprechen von einer besonderen Weihung und einer damit verbundenen Würde. Die Klage Jeremias war, dass Israel durch Untreue diese Krone oder diesen Haarschmuck der Weihe und der Absonderung für Gott verloren hatte (Jer 7,29).

In unserem Kapitel (4. Mo 6,7) finden wir die interessante Aussage: „Die Weihe seines Gottes ist auf seinem Haupt“ (und auch die Ausdrücke „Haupt seiner Weihe“ und „das Haar des Hauptes seiner Weihe“ in V. 18). Hier laufen gewissermaßen die Fäden zusammen und die Verbindung wird klar: Durch die Absonderung des Nasirs für Gott und seine Weihe für Ihn hatte er sein Haar wachsen lassen, das somit in den Augen Gottes zu einem Zeichen seiner Weihe, ja zu einer Krone geworden war. Das ist umso bemerkenswerter als das lange Haar für den (männlichen) Nasir an sich eine Unehre war (1. Kor 11,14).

Von den Kernen bis zur Hülse

Wenn Vers 3 die sieben Produkte nannte, die vom Weinstock kamen und für den Nasir verboten waren, dann macht Vers 4 zusätzlich klar, dass absolut nichts ausgenommen war, das vom Weinstock kam. So heißt es, dass der Nasir „von allem, was vom Weinstock bereitet wird“, nichts essen darf.

Weiter wird betont, dass noch nicht einmal bestimmte Bestandteile der Frucht von dieser Vorschrift ausgenommen waren: „von den Kernen bis zur Hülse“. Die Hülse stellt eher das äußere Erscheinungsbild vor, während die Kerne auf die verborgenen Grundsätze hinweisen, die dahinter stecken. Man mag hier an 1. Johannes 2 denken, wo Johannes das ganze Treiben und das gesamte Angebot der Welt auf drei Grundsätze reduziert: „die Lust des Fleisches, die Lust der Augen, und der Hochmut des Lebens“ (1. Joh 2,16). Das äußere Erscheinungsbild des weltlichen Angebots ist sehr vielfältig, doch letztlich steckt im Kern immer (mindestens) eins dieser drei Prinzipien dahinter. Der Nasir vermeidet nicht nur bestimmte Erscheinungsformen sondern auch das, was im Kern der Sache weltlich ist.

Der eine oder andere Leser mag es als abschreckend empfinden und sich fragen, ob wir etwa zur Askese oder sogar zu einem Leben hinter Klostermauern aufgefordert werden. Genau das wäre allerdings die falsche Schlussfolgerung. Wir müssen auch hier die positive Seite bedenken. Der Grund, aus dem die „jungen Männer“ nicht die Welt lieben sollten, war, dass alles was in der Welt ist, nicht vom Vater ist (1. Joh 2,16). Ihre Gemeinschaft dagegen ist mit dem Vater und dem Sohn und die Auswirkung davon „völlige Freude“ (1. Joh 1,3.4). Das kompensiert jeden Verzicht.

Was wir soeben in Bezug auf die Welt und ihre Freuden gesehen haben, gilt auch für die irdischen Freuden, auf die der Nasir verzichtet. Auch hier ist die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und unsere Verbindung mit Christus als dem verherrlichten Menschen im Himmel die Triebfeder, die dazu befähigt und motiviert, sich dem Herrn zu weihen und auch um seinetwillen Verzicht gern zu ertragen. Oft mag es sogar unbewusst geschehen: Dadurch, dass wir zu Christus gehören und andere Zuneigungen besitzen, werden wir sozusagen von selbst Fremde für die Welt.

Allerdings ist zu beachten, dass Christen sich immer noch in irdischen Beziehungen befinden, die bestehen bleiben und von Gottes Wort anerkannt werden, wie z.B. die Ehe, die Familie und Beziehungen am Arbeitsplatz. Das Christentum ändert nicht etwa die irdischen Beziehungen, sondern unser Verhalten in diesen Beziehungen. Interessanterweise werden die Belehrungen, die sich mit diesen irdischen Beziehungen befassen, gerade in den Briefen an die Kolosser und Epheser vorgestellt, in denen wie in keinem anderen Buch von der christlichen Stellung und Berufung und deren himmlischen Charakter die Rede ist. Wir können nur dann „die Lehre zieren“ (Tit 2,10), wenn wir in diesen Beziehungen zur Ehre des Herrn leben. Aber unsere Hingabe gilt Christus und unser Lebensziel bleibt Er.

Das ist der Grund, warum wir alles vermeiden sollten, das unsere Gemeinschaft mit Gott stört. Heute geht es dem „Nasir“ nicht darum, ob eine Sache verboten oder ob sie schädlich ist, sondern er fragt, ob sie ihm in seiner Gemeinschaft mit dem Herrn weiter helfen kann oder nicht. Je mehr wir die Freude dieser Gemeinschaft kennen und genießen, desto mehr werden wir in der Lage sein, den verlockenden Angeboten der Welt zu widerstehen.

Die Christenheit

Nun stellt sich die Frage, inwiefern die Haltung des Nasirs im Blick auf die Enthaltung vom Wein irdischer Freude in der Geschichte der Kirche zum Tragen gekommen ist. Am Anfang waren die Glaubenden klar von der Welt abgegrenzt, oft bedingt durch Verfolgung (Apg 3–4). Zunächst lebten die Gläubigen entschieden für den Herrn.

Die Beschreibung des öffentlichen Zeugnisses der Kirche („Christenheit“) in Offenbarung 2 und 3 lässt dann aber die weitere Entwicklung erkennen: In Ephesus war äußerlich noch alles in Ordnung und es fehlte nicht an lobenswerten Werken – aber ihre erste Liebe hatten sie schon verlassen. In Pergamos stellt sich die Kirche dann unter den Schutz der Welt und wohnt bei ihr (Off 2,13). In Thyatira geht es noch einen Schritt weiter: Hier herrscht die Kirche über die Welt und wird gekennzeichnet von unerlaubten Verbindungen (Hurerei) und Götzendienst (Off 2,20–22). Es kann wohl kaum die Rede von Enthaltung sein, sondern eher davon, dass die Christenheit „starkes Getränk“ getrunken hat.

In ihrem Endstadium (nach der Entrückung) wird die bekennende Christenheit als Babylon beschrieben, eine große und einflussreiche Stadt, die von Gott gerichtet werden muss. Hier heißt es tatsächlich nicht nur, dass diese Stadt Babylon, die als Hure bezeichnet wird, getrunken hat, sondern sogar dass die, die auf der Erde wohnen, „trunken geworden“ sind „von dem Wein ihrer Hurerei“ (Off 17,2). Sie geht weit darüber hinaus, „legitime irdische Freude“ zu genießen, denn wir lesen: „Und sie hatte einen goldenen Becher in ihrer Hand, voll von Gräueln und den Unreinheiten ihrer Hurerei“ (Off 17,4).

Allerdings, und das ist ermutigend, hat es auch Zeiten des Neubeginns gegeben (Stichwort Philadelphia – siehe die Bemerkungen dazu in der Einleitung).

Christus

Der Herr Jesus ist seinen Weg als vollkommener Nasir gegangen. Nicht, dass Er keinen Wein getrunken hätte (Lk 7,33.34). Aber im übertragenen oder geistlichen Sinn zeigte der Herr vollkommen, dass Er wegen seiner Hingabe zu seinem Gott auf natürliche, vollkommen legitime irdische Freuden verzichtete.

Wir sollten dabei nicht denken, dass der Herr die irdischen Dinge und Beziehungen, die Gott gegeben hatte, etwa nicht anerkannt hätte. Er sprach über die Schönheit der Lilien (Lk 12,27) und nahm Kinder auf seine Arme (Mt 19,14). Aber was Ihn selbst betraf, so stellte Er seinen Dienst und seine Hingabe für Gott an die erste Stelle.

So wird Er in seinem Leben auf der Erde nicht als Mann irdischer Freude bezeichnet, sondern als „Mann der Schmerzen“, nicht als ein mit allen Genüssen vertrauter Mensch, sondern als einer der „mit Leiden vertraut“ war (Jes 53,3).

Auch in den Evangelien wird deutlich, dass Er irdische Beziehungen anerkannte. So heißt es im Blick auf Joseph und Maria, dass Er ihnen untertan war (Lk 2,51). Noch auf dem Kreuz nimmt Er sich seiner Mutter an und sagt zu ihr: „Frau, siehe, dein Sohn! Dann spricht Er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26.27). Doch wenn irdische Beziehungen Ihn in seinem Dienst für seinen Gott und Vater hindern wollten, dann musste Er sagen: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Das war nicht etwa Mangel an Liebe, sondern es ging darum, in seinem Dienst den richtigen Schritt zur richtigen Zeit zu gehen. Natürliche Zuneigungen an sich sind gut, da sie von Gott kommen – aber sie führen nicht unbedingt dazu, den Willen Gottes zu tun – der höher stehen muss.

Bei einer anderen Gelegenheit war Er in einem Haus. Eine große Volksmenge kam. Es gab viel zu tun. Es gab noch nicht einmal Zeit zu essen. Seine Angehörigen sagten: „Er ist außer sich“ (Mk 3,21). Als dann seine Mutter und seine Brüder kamen und man Ihm sagte: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen suchen dich“, antwortete Er: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er blickte umher auf die im Kreis um ihn her Sitzenden und spricht: Siehe da, meine Mutter und meine Brüder; denn wer irgend den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk 3,32–35).

So war sein ganzes Leben darauf ausgerichtet, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte. Es war seine „Speise“ (Joh 4,34). Selbst als Ihn die Nachricht erreichte, dass Lazarus erkrankt war, blieb Er noch zwei Tage, wo Er war. Natürliche Zuneigung hätte dazu bewogen, sich sofort aufzumachen. Aber für Ihn zählte nur eins, der Wille Gottes – wie wenig das auch von anderen verstanden werden mochte. So war Er der zugänglichste Mensch, der je gelebt hat, und doch war Er der einsamste von allen – wegen seiner vollkommenen Hingabe an die Herrlichkeit seines Gottes. J. N. Darby drückte es einmal so aus:

„Deshalb war Er der gnadenreichste und zugänglichste aller Menschen: in seinen Wegen bemerken wir eine Zärtlichkeit und Güte, die niemals in einem Menschen gesehen worden ist, doch empfinden wir immer, dass Er ein Fremdling war. Nicht, dass Er kam, um in seinen Beziehungen mit den Menschen ein Fremdling zu sein; aber das, was am tiefsten in seinem Herzen lag – das, was sein Wesen ausmachte und demzufolge seinen Wandel kraft seiner Gemeinschaft mit dem Vater lenkte –, war allem, was den Menschen beeinflusst, vollständig fremd.“

Kurz vor dem Kreuz benutzte Er selbst das Bild der Enthaltung vom Weinstock: „Denn ich sage euch, dass ich von jetzt an nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis das Reich Gottes kommt“ (Lk 22,18). Noch konnte Er am Volk Israel keine Freude haben. Die Zeit, wo das doch der Fall sein wird, wird einmal kommen. Jetzt ist Er noch von der Welt verworfen und beim Vater, sozusagen abgesondert als der wahre Nasir. In Bezug auf die, die Ihm gehören, sagt Er: „Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt; und ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“ (Joh 17,16–19).

Frei wachsendes Haar (6,5)

„Alle Tage des Gelübdes seiner Absonderung soll kein Schermesser über sein Haupt gehen; bis die Tage erfüllt sind, die er sich für den HERRN absondert, soll er heilig sein; er soll das Haar seines Hauptes frei wachsen lassen“ (6,5).

Das zweite Kennzeichen des Nasirs war, dass er sein Haar frei wachsen ließ. Zunächst war das Gelübde des Nasirs eine Sache zwischen ihm und Gott. Aber mit der Zeit wurden die Folgen seiner inneren Hingabe für Gott und seiner Gemeinschaft mit Gott nach außen hin sichtbar. Das ging nicht von heute auf morgen, aber mittelfristig konnte die Hingabe nicht verborgen bleiben. Jedenfalls würde ein Mann sich durch sein ungeschnittenes Haar jedem, der ihm begegnete, als Nasir zu erkennen geben. Dagegen würden nur solche, die mit ihm essen, bemerken, dass er sich von der Frucht des Weinstocks enthält.

Wieder geht es uns hier um die geistliche Bedeutung. Das lange Haar symbolisiert Unterwürfigkeit, Abhängigkeit, Hingabe und – im Fall eines Mannes – auch Schmach.

Unterwürfigkeit

1. Korinther 11,1–15 zeigt uns im Zusammenhang mit der Schöpfungsordnung Gottes, dass langes Haar von Unterwürfigkeit spricht. Natürlich sind Mann und Frau gleichwertig, aber ihre jeweiligen Rollen sind nicht identisch. Das ist ein großer Unterschied, der manchmal nicht verstanden wird. Unterwürfigkeit hat absolut nichts mit Minderwertigkeit zu tun. Der beste Beweis dafür ist, dass der Herr Jesus selbst den Platz der Unterwürfigkeit eingenommen hat (Lk 2,51) und als Mensch diesen Platz Gott gegenüber behalten wird (1. Kor 15,28). Dort wird dasselbe Wort benutzt wie in Epheser 5,22 im Blick auf Frauen und weiter in Epheser 5,24 im Blick auf die Versammlung.

Echte Hingabe für Gott wird nur dann möglich sein, wenn es Unterwürfigkeit Gott gegenüber gibt.

Abhängigkeit

Dieser Punkt ist mit dem der Unterwürfigkeit eng verwandt. Man wird kaum Unterwürfigkeit praktizieren können, ohne in Abhängigkeit zu leben – aber im besten Sinn des Wortes: abhängig von Gott und seinem Willen, der „gut und vollkommen und wohlgefällig“ ist (vgl. Röm 12,2).

Mancher hätte vielleicht vermutet, dass man einen besonders starken Willen und Durchsetzungsvermögen braucht, um entschieden für Gott zu leben. Das lange Haar weist in die entgegengesetzte Richtung: Es geht um die Bereitschaft, seinen Willen unterzuordnen – natürlich nicht den Strömungen, die einen umgeben, sondern dem Herrn. Dabei wird man zuweilen auf sein Recht verzichten, um der Aufforderung zu folgen: „Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen“ (Phil, 4,5).

Das lange Haar des Nasirs zeigte, dass er sich selbst erniedrigte, nichts aus sich selbst machte und sogar bereit war, das aufzugeben, was ihm normalerweise zustand. Das ist der Weg, den Gott auch für uns heute segnet, nämlich der Weg der Nachfolge dessen, der sich selbst zu nichts machte (Phil 2,7).

Keine attraktive Aussicht? Doch! Richtig glücklich können wir nur dann sein, wenn wir in Abhängigkeit von unserem Herrn handeln. Nur dann kennen wir „seinen Frieden“ (Joh 14,27). – Das ist wahre Freiheit: nicht was die Welt sich vorstellt, die meint frei zu sein, und dabei ständig Satan, dem Fürsten dieser Welt gehorcht – eine tragische Illusion. Richtig frei (und glücklich) kann man erst sein, wenn man nicht mehr der Sünde gehorcht, sondern frei ist, so zu leben, wie die neue Natur, die wir bekommen haben, es sich wünscht (Joh 8,36; Gal 5,1).

Hingabe

In Lukas 7,36–50 finden wir eine interessante Begebenheit, die Licht auf unser Thema wirft. Der Herr war in das Haus Simons, eines Pharisäers, eingeladen worden und war dieser Einladung gefolgt. Eine Frau in der Stadt, die eine Sünderin war, hörte davon und kam zu Simons Haus. Es heißt: „Sie brachte ein Alabasterfläschchen mit Salböl; und hinten zu seinen Füßen stehend und weinend, fing sie an, seine Füße mit Tränen zu benetzen; und sie trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.“ Der Pharisäer stößt sich an der Anwesenheit dieser Frau und daran, dass der Herr sie gewähren lässt, aber der Herr sieht das Herz an und erklärt, dass dieser Frau viel vergeben worden ist und sie daher „viel liebt“.

Diese Hingabe der Liebe äußerte sich darin, dass sie die Füße des Herrn gesalbt und sie mit ihren Haaren abgetrocknet hatte (vgl. Joh 11,2; 12,3).

Schmach

Außerdem war langes Haar im Fall eines Mannes etwas, das Verachtung und Schmach einbrachte. Wir haben schon gesehen, dass langes Haar eine Unehre für den Mann ist (1. Kor 11,14). Dabei wird darauf verwiesen, dass es sich um eine allgemein gültige Tatsache geht, „lehrt euch nicht auch die Natur selbst …?“, nicht nur um einen christlichen Grundsatz. Das kurze Haar steht für die Autorität, die Gott dem Mann als Haupt gegeben hat. Das ist der Platz des Mannes in der Schöpfungsordnung (1. Kor 11,3). Somit drückte das lange Haar des Nasirs aus, dass er freiwillig auf Ehre verzichtete und bereit war, wegen seiner Hingabe zu Gott die Verachtung der Menschen zu ertragen.

Eigentlich ist der Aspekt der Schmach nicht erstaunlich, denn er folgt mehr oder weniger direkt aus den anderen Aspekten, die wir soeben beleuchtet haben, insbesondere denen der Unterwürfigkeit und der Abhängigkeit. Der nicht wiedergeborene Mensch lehnt sich gegen nichts mehr auf, als dagegen, einem andern unterwürfig oder abhängig zu sein.

Aber der Nasir erträgt diese Schmach. Als Christen dürfen wir wissen, dass unser Herr unendlich mehr Schmach ertragen (siehe unten) und gelitten hat. Er ist unser Vorbild und Anziehungspunkt und wir dürfen „zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend“ (Heb 13,13). Dabei werden wir feststellen, dass merkwürdiger Weise mit diesem Weg eine besondere Freude verbunden ist.

Ganz deutlich finden wir diese Verbindung von Schmach und Freude in Apostelgeschichte 5,41: „Sie nun gingen vom Synedrium weg, voll Freude, dass sie gewürdigt worden waren, für den Namen Schmach zu leiden“. Diese Freude kommt einerseits daher, dass wir unter dem Druck und der Verachtung der Welt ganz besonders die Gemeinschaft mit dem Herrn spüren. Hinzu kommt die Gewissheit, dass es eine Belohnung dafür geben wird. So sagt Petrus in seinem ersten Brief: „Insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, freut euch, damit ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken euch freut. Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr!“ (1. Pet 4,13.14).

Quelle der Kraft

Das Beispiel Simson (Richter 13–16) gibt uns Aufschluss in Bezug auf einen äußerst interessanten Zusammenhang, und zwar zwischen den langen Haaren des Nasirs und seiner Kraft. Zu seinem Verhängnis verriet er Delila das Geheimnis seiner Kraft: „Kein Schermesser ist auf mein Haupt gekommen, denn ein Nasir Gottes bin ich von Mutterleib an; wenn ich geschoren würde, so würde meine Stärke von mir weichen, und ich würde schwach werden und würde sein wie alle Menschen“ (Ri 16,17). Und genau so traf es ein: Delila ließ Simsons sieben Haarflechten abschneiden und er verlor seine außergewöhnliche Kraft (mehr dazu im Abschnitt über Simson im Kapitel „Beispiele“).

Dieser Zusammenhang zwischen Kraft und Haarlänge wird uns klarer, wenn wir die geistliche Bedeutung beachten: Geistliche Kraft ist eine Folge der Abhängigkeit vom Herrn, der Gemeinschaft mit Ihm und der Hingabe an Ihn. Es kostet Zeit, sie zu gewinnen, aber sie kann sehr schnell verloren gehen.

Interessant – und tragisch – ist dabei noch, dass Simson sich nicht bewusst war, dass er seine Kraft verloren hatte: „Und sie sprach: Philister über dir, Simson! Da wachte er auf von seinem Schlaf und dachte: Ich werde davonkommen wie die anderen Male und mich freischütteln. Er wusste aber nicht, dass der HERR von ihm gewichen war” (Ri 16,20.21).

Christus

Auch in Bezug auf das, was die langen Haare des Nasirs versinnbildlichen, ist der Herr Jesus das vollkommene Vorbild. Er nahm als Mensch einen Platz der Unterwürfigkeit und Abhängigkeit ein und war in seiner Hingabe bereit, Schmach zu ertragen.

Es ist interessant, dass besonders das Johannesevangelium, das den Herrn als den Sohn Gottes beschreibt, immer wieder betont, dass Er in Unterwürfigkeit und Abhängigkeit gekommen ist (dass Unterwürfigkeit nichts zu tun hat mit einer geringeren Wertigkeit oder etwa mit einem niedrigeren Rang, haben wir bereits bemerkt). Die folgenden Stellen zeigen uns etwas von der vollkommenen Unterwürfigkeit und Abhängigkeit des Herrn – und wollen uns dazu bewegen, Ihn darin nachzuahmen und Ihn dafür anzubeten:

  • „Der Sohn kann nichts von sich selbst aus tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was irgend er tut, das tut auch in gleicher Weise der Sohn“ (Joh 5,19).
  • „Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst“ (Joh 5,26).
  • „Ich kann nichts von mir selbst tun; so, wie ich höre, richte ich, und mein Gericht ist gerecht, denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 5,30).
  • „Ich bin nicht von mir selbst aus gekommen, sondern der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, den ihr nicht kennt“ (Joh 7,28).
  • „Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und dass ich nichts von mir selbst tue, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich“ (Joh 8,28).
  • „Und der mich gesandt hat, ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue“ (Joh 8,29).
  • „Ich rede, was ich bei meinem Vater gesehen habe“ (Joh 8,38).
  • „Denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen; denn ich bin auch nicht von mir selbst aus gekommen, sondern er hat mich gesandt“ (Joh 8,42).
  • „… ich ehre meinen Vater“ (Joh 8,49).
  • „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles“ (Joh 10,29).
  • „Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, er hat mir ein Gebot gegeben, was ich sagen und was ich reden soll“ (Joh 12,49).
  • „Die Worte, die ich zu euch rede, rede ich nicht von mir selbst aus; der Vater aber, der in mir bleibt, er tut die Werke“ (Joh 14,10).
  • „Wenn ihr mich liebtet, würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28).

Andere Stellen in diesem Zusammenhang sind Philipper 2,7.8 (wie oben bereits erwähnt) und Hebräer 5,7.8: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat (und um seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist), obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte“. Er war der ewige Sohn und dennoch lernte Er als Mensch Gehorsam.

Schon der Prophet Jesaja hatte davon gesprochen, dass der Christus dadurch gekennzeichnet sein würde, dass Er gewohnheitsmäßig, ja täglich, auf die Stimme Gottes lauschen und sich ihr nicht widersetzen würde: „Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre wie solche, die belehrt werden. Der Herr, HERR, hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin nicht zurückgewichen“ (Jes 50,4.5).

Den schwersten Test dieser Abhängigkeit und dieses Gehorsams finden wir zweifellos im Garten Gethsemane. Generell hatte der Herr als wahrer Nasir sagen können, dass Er in dieser Abhängigkeit und diesem Gehorsam Nahrung fand: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe“ (Joh 4,34).

Aber in Gethsemane sehen wir Ihn in einem ringenden Kampf, im Gebet. Er sagt „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg“. In seiner Vollkommenheit konnte Er nicht wünschen, von Gott verlassen zu werden. Aber in seinem vollkommenen Gehorsam fügte Er hinzu: „Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“ (Lk 22,42). Er nahm den Kelch des Zorns und des Gerichts an und am Kreuz leerte Er ihn völlig, so dass für uns auch nicht ein Tropfen des Gerichts übrig bleibt (Joh 5,24). Hier stand der Herr also ganz allein: nur Er konnte diesen Kelch trinken. Aber in Gethsemane ist Er unser vollkommenes Vorbild in Bezug auf die Abhängigkeit und den Gehorsam. Eine unsagbar schwere Prüfung stand vor Ihm und Er überwand sie durch Abhängigkeit und Gehorsam – im großen Gegensatz zu den Jüngern, die im Garten schliefen und dann alle versagten.

Übrigens sehen wir hier auch sehr schön die Verbindung zwischen den langen Haaren des Nasirs und seiner Kraft, die wir bei Simson gesehen hatten. Die Jünger hatten nicht in Abhängigkeit gebetet und hatten dann keine Kraft, als die Feinde kamen: „Und es verließen ihn alle und flohen“ (Mk 14,50). Der Herr begegnete den Feinden mit großer Ruhe, Er ergriff nicht die Flucht, Er legte mutig Zeugnis ab vor dem Synedrium und vor Pilatus. Selbst in den prekärsten Situationen konnte Er in vollkommener Ruhe und mit großer Kraft handeln. Natürlich war Er Gott, aber Er war auch abhängiger Mensch und als solcher handelte Er in der Kraft, die ihren Ursprung in seiner verborgenen Gemeinschaft mit Gott fand.

Dieser Gehorsam und diese Abhängigkeit waren also nicht etwa eine mechanische Sache, sondern eine Auswirkung echter Herzenshingabe. Es ging Ihm darum, für seinen Gott und Vater zu leben:

  • „Denn auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: ‚Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen‘“ (Röm 15,3).
  • „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49).
  • „Und frühmorgens, als es noch sehr dunkel war, stand er auf und ging hinaus; und er ging hin an einen öden Ort und betete dort“ (Mk 1,35).
  • „Es geschah aber in diesen Tagen, dass er auf den Berg hinausging, um zu beten; und er verharrte die Nacht im Gebet zu Gott. Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger herzu …“ (Lk 6,12.13).

So finden wir also bei unserem Herrn sowohl die Abhängigkeit als auch die Hingabe, von der die langen Haare des Nasirs sprechen. Dazu kommt seine Unterwürfigkeit zum Ausdruck, beispielsweise, wenn Er auf sein Recht verzichtet und es sogar ablehnt, zum König gemacht zu werden (vgl. Joh 6,15).

Auch für den Herrn beinhaltete dieser Weg des Nasirs Schmach und Verzicht auf Würde um Seines Gottes willen. So lesen wir prophetisch von Ihm: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mann, der Menschen Hohn und der vom Volk Verachtete“ (Ps 22,7). Und: „Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht“ und „die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. Als ich weinte und meine Seele fastete, da wurde es mir zu Schmähungen; als ich mich in Sacktuch kleidete, da wurde ich ihnen zum Sprichwort. Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher. Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger“ (Ps 69,8.10–13.20). Dabei sollten wir bedenken, dass der Herr als vollkommener Mensch diese Schmach tief empfunden hat. So sagt der nächste Vers: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend“ (Ps 69,21; vgl. Ps 31,11; 109,25).

Die Evangelien geben uns Beispiele, an denen wir sehen, wie das praktisch aussah. Denken wir nur einmal an die Haltung seiner eigenen Angehörigen zu seinem Dienst: Markus beschreibt, wie ausgefüllt die Arbeitstage des wahren Dieners waren (immer wieder heißt es „und sogleich“ siehe z.B. Mk 1,21ff.). Die Arbeit strömte von allen Seiten auf Ihn zu. Ganze Volksmengen kamen und standen Schlange (Mk 1,33). Jeder wollte seine Aufmerksamkeit. Mitten in einer Predigt wird ein Gelähmter gerade vor Ihm durchs Dach heruntergelassen (Mk 2,1–12). Manchmal kam es so weit, dass es noch nicht einmal Zeit gab zu essen (Mk 3,20). Aber seine Treue und Hingabe im Dienst brachte Ihm nicht etwa Anerkennung, sondern Schmach und Verachtung: „Und als seine Angehörigen es hörten, gingen sie hinaus, um ihn zu greifen; denn sie sprachen: Er ist außer sich“ (Mk 3,21).

Keine Berührung mit dem Tod (6,6.7)

„Alle die Tage, die er sich für den HERRN absondert, soll er zu keiner Leiche kommen“ (6,6).

Auf den Ausdruck „alle die Tage“ waren wir schon im Zusammenhang mit Vers 4 eingegangen. Hier geht es darum, dass es ein drittes Merkmal des Nasirs gab, das während dieser gesamten Zeit bestehen bleiben musste: Jegliche Berührung mit einer Leiche war ausnahmslos und unbedingt zu vermeiden.

Dabei war es nicht von Belang, ob es sich darum handelte, dass im Haus jemand gestorben war, vielleicht jemand in der Familie (V. 7), oder ob es sich um einen Fremden handelte. Tatsache war, dass die Berührung mit einer Leiche verunreinigte. Wir wissen, dass der Tod eine Folge der Sünde ist (1. Mo 2,17; Röm 5,12; vgl. 1. Kor 15,21). Römer 6,23 sagt sogar direkt, dass der Tod „der Lohn“ der Sünde ist. Diese Verbindung zwischen Tod und Sünde gibt einen Hinweis darauf, was das dritte Kennzeichen des Nasirs für Christen bedeutet: Die Berührung mit der Sünde bringt Verunreinigung und diese ist der Todesstoß für die Hingabe. Verunreinigung unterbricht den Genuss der Gemeinschaft und ohne diese praktische Gemeinschaft mit dem Herrn – ohne „in ihm“ zu bleiben, können wir nichts tun (Joh 15,5). Jede Rückkehr zu unserem „alten Menschen“, jede Gelegenheit, bei der wir unserem Fleisch, d.h. der in uns wohnenden Sünde, nachgeben, ist eine Berührung mit einem Toten.

In vielen südlichen Ländern sind Gebräuche, die mit Tod und Beerdigung zusammenhängen, von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Das vollständige Fernhalten von der Leiche eines Verwandten konnte mitunter die völlige Absonderung vom gewöhnlichen Leben bedeuten.

Die Anweisung, „zu keiner Leiche“ zu kommen (V. 6), ging über das hinaus, was auf Israeliten im Allgemeinen zutraf. Um das zu sehen, ist es gut, sich folgende Sachverhalte aus dem Gesetz in Erinnerung zu rufen:

  1. Wann führte der Tod zur Verunreinigung?
  2. Wer durfte unter welchen Umständen mit dem Tod in Berührung kommen?
  3. Was war die Folge der Verunreinigung bzw. der Weg der Reinigung?

Die Beantwortung dieser Fragen wird Licht auf die Anweisungen werfen, die dem Nasir gegeben werden.

1. Wann führte der Tod zur Verunreinigung?

Nach 4. Mose 19,11 führte die Berührung einer Leiche zu einer Verunreinigung von sieben Tagen: „Wer einen Toten berührt, irgendeine Leiche eines Menschen, der wird sieben Tage unrein sein.“ Dieses Kapitel (4. Mo 19) gibt Anweisungen für die Reinigung in solchen Fällen.

Aber es war nicht nur die direkte Berührung einer Leiche, sondern es genügte, nur das Zelt zu betreten, in dem sich der Körper des Verstorbenen befand: „Dies ist das Gesetz, wenn ein Mensch im Zelt stirbt: Jeder, der in das Zelt geht, und jeder, der im Zelt ist, wird sieben Tage unrein sein“ (4. Mo 19,14).

Aber auch außerhalb des Zeltes bestand die Möglichkeit der Verunreinigung: „Und jeder, der auf freiem Feld einen mit dem Schwert Erschlagenen oder einen Gestorbenen oder das Gebein eines Menschen oder ein Grab berührt, wird sieben Tage unrein sein“ (4. Mo 19,16).

Man sieht also, dass jeder Kontakt mit dem Tod, in welcher Form auch immer, ob direkt oder indirekt, ob kürzlich – wie im Fall des im Zelt Verstorbenen – oder vor langer Zeit – wie im Fall des Knochens oder des Grabes – zur Verunreinigung führte, so dass das Reinigungswasser angewandt werden musste. Sogar die Personen, die an diesem Prozess der Reinigung beteiligt waren, wurden – wenn auch nur für einen Tag – verunreinigt (4. Mo 19,7–10).

Ein Beispiel dafür, dass selbst in einer Kriegssituation auf dem Schlachtfeld Verunreinigung eintritt und Reinigung erfolgen muss, finden wir in dem Kampf Israels gegen Midian in 4. Mose 31,17–24. Selbst in der Begeisterung eines Sieges, in dem große Beute errungen worden war, durfte nicht vergessen werden, dass der Kontakt mit dem Tod verunreinigt. Somit mussten die Vorschriften der Reinigung eingehalten werden.

2. Wer durfte mit Tod in Berührung kommen?

Wie wir gesehen haben, führte die Berührung mit dem Tod immer zur Verunreinigung und die Reinigung nach 4. Mose 19 war ein absolutes Erfordernis. In manchen Fällen (z.B. wenn es sich um einen engen Verwandten handelte) war die Berührung mit dem Tod unvermeidbar.

Für Priester war es ausdrücklich verboten, sich durch Kontakt mit einem Toten zu verunreinigen, es sei denn es handelte sich um einen direkten Blutsverwandten: „Und der Herr sprach zu Mose: Rede zu den Priestern, den Söhnen Aarons, und spricht zu ihnen: Keiner von ihnen soll sich wegen einer Leiche verunreinigen unter seinen Völkern: außer wegen seines Blutsverwandten, der ihm nahe steht: wegen seiner Mutter und wegen seines Vaters und wegen seines Sohnes und wegen seiner Tochter und wegen seines Bruders; und wegen seiner Schwester, der Jungfrau, die ihm nahe steht, die noch keinem Mann angehört hat: wegen dieser darf er sich verunreinigen“ (3. Mo 21,1–3). Die Aufgabe der Priester war zu wichtig, um Unterbrechungen aus weniger wichtigen Gründen zuzulassen.

Der Hohepriester dagegen durfte unter keinen Umständen mit dem Tod in Berührung kommen. So lesen wir in 3. Mose 21 weiter: „Und der Hohepriester unter seinen Brüdern, auf dessen Haupt das Salböl gegossen worden und der geweiht ist, um die heiligen Kleider anzulegen, soll … zu keiner Leiche kommen. Wegen seines Vaters und wegen seiner Mutter soll er sich nicht verunreinigen“ (3. Mo 21,10.11). So war es auch im Fall der Söhne Aarons gewesen, die starben: Nicht Aaron, sondern die Söhne seines Onkels trugen Nadab und Abihu aus dem Lager hinaus (3. Mo 10,4.5). Der Grund für diese strenge Vorschrift lag in der Wichtigkeit des Dienstes des Priesters und in seiner vorbildlichen Bedeutung: So dürfen wir wissen, dass der Dienst Christi, unseres Hohenpriesters, nie unterbrochen wird und Er immer für uns zur Verfügung steht, um sich für uns zu verwenden (Heb 2,17.18; 4,15.16; 7,25).

3. Was war die Folge der Verunreinigung?

Jemand, der sich durch Berührung mit dem Tod verunreinigt hatte, musste – genau wie ein Aussätziger – den Lagerplatz und damit die Gemeinschaft des Volkes und seine Vorrechte als Israelit verlassen und sich außerhalb des Lagers aufhalten, bis er gereinigt war. Das geht klar aus 4. Mose 5 hervor: „Gebiete den Kindern Israel, dass sie alle … wegen einer Leiche Verunreinigten aus dem Lager hinausschicken; sowohl Mann als Frau sollt ihr hinausschicken, vor das Lager sollt ihr sie hinausschicken, damit sie nicht ihre Lager verunreinigen, in deren Mitte ich wohne“ (4. Mo 5,2.3).

Wenn nun eine Berührung mit dem Tod und daher eine Verunreinigung eingetreten war, dann musste die Reinigung nach 4. Mose 19 durchgeführt werden. Unterlassung war strengstens verboten: „Jeder, der einen Toten berührt, die Leiche eines Menschen, der gestorben ist, und sich nicht entsündigt, hat die Wohnung des HERRN verunreinigt; und diese Seele soll ausgerottet werden aus Israel. Weil das Wasser der Reinigung nicht auf ihn gesprengt wurde, ist er unrein; seine Unreinheit ist noch an ihm. … Und wenn jemand unrein wird und sich nicht entsündigt, diese Seele soll ausgerottet werden aus der Mitte der Versammlung; denn er hat das Heiligtum des HERRN verunreinigt: Das Wasser der Reinigung ist nicht auf ihn gesprengt worden, er ist unrein“ (4. Mo 19,13.20).

Die Reinigung selbst erforderte die Besprengung mit Reinigungswasser. Dieses Reinigungswasser war in Gottes Gnade im Voraus bereitgestellt worden, und zwar durch das Opfer einer jungen roten Kuh, die verbrannt werden musste: „Und ein reiner Mann soll die Asche der jungen Kuh sammeln und sie außerhalb des Lagers an einen reinen Ort schütten, und sie soll für die Gemeinde der Kinder Israel aufbewahrt werden zum Wasser der Reinigung; es ist eine Entsündigung“ (4. Mo 19,9). Diese Reinigung, die sieben Tage dauerte, zeigt uns, dass die Erinnerung an das vollbrachte Werk des Herrn Jesus (das Blut, das sieben Mal gegen die Vorderseite des Zeltes der Zusammenkunft hin gesprengt werden musste) und an die Leiden, die Er erduldet hat, zu unserer Wiederherstellung nötig sind, wenn wir uns verunreinigt haben.

Zurück zum Nasir

Dieser kleine Exkurs über die Vorschriften des Gesetzes, die die Verunreinigung durch Tod betreffen, wirft Licht auf den Fall des Nasirs. Insbesondere fallen uns dadurch zwei Dinge auf:

  • Für den Nasir galten strengere Vorschriften als für „gewöhnliche“ Israeliten. In dieser Beziehung wurde der Maßstab genauso hoch angelegt wie beim Hohenpriester: Es gab keine Ausnahme. Verunreinigung war nicht erlaubt, selbst nicht im Fall eines engen Familienangehörigen (4. Mo 6,7).
  • Für den Nasir hatte eine Verunreinigung noch viel schwerwiegendere Konsequenzen als für andere Israeliten: Es waren mehr Opfer erforderlich und die gesamte Weihe war verloren, so dass der Nasir um mehrere Jahre zurückgeworfen werden konnte (4. Mo 6,9–12).

Wegen seines Vaters und wegen seiner Mutter, wegen seines Bruders und wegen seiner Schwester, ihretwegen soll er sich nicht verunreinigen, wenn sie sterben; denn die Weihe seines Gottes ist auf seinem Haupt“ (6,7).

Die Strenge dieser Vorschrift haben wir bereits gesehen. Wie war es möglich, so konsequent zu sein? Und warum wurde ein so hoher Maßstab angelegt? Nun, ein Nasir war eben kein gewöhnlicher Mensch. Er fragt nicht: „Was ist menschlich?“ Die Frage, die er sich zu stellen hat, ist: „Ist es mir als Nasir angemessen?“ Er muss die persönliche Reinheit bewahren, und zwar nach einem Maßstab, der nicht menschlich, sondern göttlich ist.

Christen

In der Anwendung auf Christen geht es natürlich nicht etwa um die buchstäbliche Berührung einer Leiche, sondern um Kontakt mit dem, was in geistlicher Hinsicht „tote Körper“ sind, nämlich Lehren und Praktiken, die den Stempel des Todes bzw. der Sünde tragen. Es sind also Dinge, die Gott verunehren. Der Kontakt mit diesen Dingen verunreinigt. Das gilt sogar dann, wenn wir selbst das Böse nicht tun (oder z.B. eine böse Lehre selber nicht vertreten), aber uns nicht von solchen absondern, die diese Dinge tun (bzw. diese Lehren vertreten). Das geht aus mehreren Stellen im Neuen Testament klar hervor: 2. Timotheus 2,19–21; 2. Johannes 9–11; 1. Korinther 15,33.

Wenn nun Vater und Mutter, Bruder und Schwester erwähnt werden, wird der Finger darauf gelegt, dass unsere Beziehungen in der Familie sehr eng sind. Natürlich hat Gott das so gewollt und uns diese emotionalen Bande gegeben. Was wir hier lernen, ist natürlich nicht etwa, dass diese Liebe innerhalb der Familie bei Gläubigen, die für den Herrn leben möchten, nicht bestehen sollte. Vielmehr geht es darum, dass es Situationen geben kann, in denen ein Konflikt entsteht zwischen dem, was Angehörige von uns erwarten, und dem Willen Gottes. Und in diesen Situationen sollten wir dem Willen Gottes bewusst den Vorrang geben. Bei denen von uns, denen Gott das Privileg gegeben hat, dass die direkten Familienmitglieder gläubig sind, werden solche Konflikte seltener vorkommen. Wenn es sich um ungläubige Angehörige handelt, wird es dagegen an Beispielen nicht fehlen (z.B. Feierlichkeiten oder Veranstaltungen, an denen wir nicht teilnehmen können, ohne dabei verunreinigt zu werden).

Der Herr sagt auch zu uns „Folge mir nach“ (Lk 9,59). Wenn bei uns die Prioritäten nicht stimmen und wir Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester (man darf sicher ergänzen: Freund) den Vorrang vor dem Willen Gottes geben, dann geht es uns wie dem, der sagte: „Herr, erlaube mir zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“ und die Antwort bekam: „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes“ (Lk 9,59.60). Der Herr möchte, dass wir unserer familiären Beziehung Rechnung tragen, aber Er möchte das erste Anrecht haben. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). Die Macht der Umstände sollte nie den Sieg davontragen über einen, der Gott geweiht ist.

Christus

Auch beim Anrühren von Toten geht es nicht um buchstäbliche Erfüllung (wir hatten in der Einleitung schon auf Markus 5,41 hingewiesen). Wir wissen auch, dass Er die Bahre anrührte, auf der der gestorbene Sohn der Witwe lag (Lk 7,14), wo es doch in 4. Mose 19 heißt: „Und alles, was der Unreine anrührt, wird unrein sein” (4. Mo 19,22). Aber geistlich gesehen war der Herr Jesus vollkommen abgesondert vom Tod, d.h. von der Sünde und ihren Folgen (Röm 6,23).

Er hatte keine Sünde getan (1. Pet 2,22), Er kannte Sünde nicht (2. Kor 5,21), und in Ihm war keine Sünde (1. Joh 3,5). Er war das Lamm ohne Fehl und ohne Flecken (1. Pet 1,18; 2. Mo 12,5; 3. Mo 1,3.10), und sein Leben wurde treffend durch Feinmehl und durch Abwesenheit von Sauerteig symbolisiert (3. Mo 2,4.5.11).

Den Konflikt zwischen dem, was Familienmitglieder erwarten einerseits und dem Willen Gottes andererseits, kannte der Herr in seinem eigenen Leben. Als Schöpfer ist Er der Geber dieser Beziehungen und als Mensch hat Er sie erfahren und darin gelebt. Aber Er wusste, wann die Ansprüche der Familie zu einer Gefahr wurden (s. Joh 2,4 und die Bemerkungen dazu unter Vers 4).

So ist der Herr auch in dieser Hinsicht unser vollkommenes Vorbild und wir dürfen sicher sein, dass Er uns versteht und uns in jeder konkreten Situation helfen will, unsere Prioritäten richtig zu setzen, damit wir einerseits unseren familiären Beziehungen Rechnung tragen und andererseits klar und entschieden für Ihn leben.

Heiligkeit (6,8)

Alle Tage seiner Absonderung ist er dem HERRN heilig“ (6,8).

Jetzt wird der Gedanke der Heiligkeit betont. In Vers 5 hieß es schon, dass der Nasir „heilig“ sein sollte. Hier wird ausdrücklich dabei gesagt, dass es darum geht, „dem HERRN heilig“ zu sein. Was soll das bedeuten?

Heiligkeit ist ein Thema, zu dem es viele Auffassungen gibt, die sich nicht mit dem Wort Gottes decken. Daher zeigen wir zuerst einmal auf, was Heiligkeit nicht bedeutet:

  • Heiligkeit ist nicht etwa gleichbedeutend mit Unschuld. Adam war vor dem Sündenfall unschuldig, aber er war nicht heilig.
  • Heiligkeit bedeutet auch nicht, einen Zustand der Sündlosigkeit zu erreichen.
  • Ebenso wenig bedeutet Heiligkeit, die alte Natur, das Fleisch, loszuwerden.

Heiligkeit bedeutet, zu einem bestimmten Zweck bei Seite gesetzt zu sein. Das Erste, das geheiligt wurde, war der Tag des Sabbats (1. Mo 2,3). Sodann wurde der Berg Sinai geheiligt (2. Mo 19,23). Weder der Sabbattag noch der Berg Sinai hatten gesündigt. Sie hatten auch keine alte Natur, die sie loswerden konnten oder mussten. Aber beide wurden von Gott so für einen bestimmten Zweck bei Seite gesetzt (vielleicht könnte man heute sagen „reserviert“). Das ist Heiligung.

In der Bibel gibt es eine einmalige Heiligung („Stellung“), die auf alle Gläubigen zutrifft, und eine praktische Heiligung („Praxis“). Der Stellung nach sind alle Gläubigen Heilige, und zwar auf der Grundlage des Werkes des Herrn Jesus: „Durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi“ (Heb 10,10; vgl. Heb 10,14). Aber Gott möchte, dass wir praktisch dem entsprechen, was wir der Stellung nach sind. So werden wir aufgefordert, auch praktisch heilig zu sein: „Als Kinder des Gehorsams bildet euch nicht nach den vorigen Begierden in eurer Unwissenheit, sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, seid auch ihr heilig in allem Wandel. Denn es steht geschrieben: „Seid heilig, denn ich bin heilig“ (1. Pet 1,14–16).

Diese praktische Heiligkeit ist für den Nasir unbedingt erforderlich. Ein Nasir weiß, dass er bei Seite gesetzt worden ist, dass also sein Leben einen ganz besonderen Zweck hat. Nasiräertum ist nicht etwa eine negative Sache, ein Einhalten gewisser Verbote – obwohl das unbedingt dazu gehörte. Es ist mehr als das. Es beinhaltet, dass der Nasir zu dem besonderen Zweck bei Seite gesetzt ist, ganz für Gott da zu sein. Das wird hier betont, wenn es heißt, dass der Nasir „dem HERRN“ heilig sein soll.

Christus

Der Herr Jesus ist als wahrer Nasir vollkommen heilig. Schon vor seiner Geburt wurde Er so beschrieben: „Darum wird auch das Heilige, das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Petrus durfte das schöne Bekenntnis ablegen: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist“ (Joh 6,68.69). Diese Heiligkeit war auch Voraussetzung für seinen Dienst als Hoherpriester. „Denn ein solcher Hoherpriester geziemte uns: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern und höher als die Himmel geworden“ (Heb 7,26). Schließlich stellt Er sich der Versammlung in Philadelphia vor und sagt: „Dieses sagt der Heilige“ (Off 3,7; vgl. Off 15,4).

Auf den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, dass wir auch davon lesen, dass der Herr Jesus sich heiligte. So sagte Er in seinem Gebet in Johannes 17: „Ich heilige mich selbst für sie“ (Joh 17,19). Wie konnte das sein? Wieder müssen wir beachten, dass Heiligung nicht bedeutet, weniger zu sündigen – Er hatte nie gesündigt – sondern für Gott bei Seite gesetzt zu sein. Er würde nun zum Vater gehen und dort in der Herrlichkeit würde Er „bei Seite gesetzt“ sein als derjenige, an den die Jünger glauben und der der Gegenstand ihrer Herzen sein sollte. Als Er hier auf der Erde war, war Er moralisch abgesondert und geheiligt. Jetzt ist Er im Himmel und damit ganz buchstäblich „bei Seite gesetzt“, für uns geheiligt.

Fußnoten

  • 1 3. Mose 25,5.11: im 7. Jahr und im 50. Jahr („Jubeljahr“) sollten die Weinstöcke nicht beschnitten werden. Hier wird „nasar“ für „unbeschnitten“ benutzt, vermutlich als Anspielung auf das ungeschnittene Haar des Nasirs (4. Mo 6,5).
  • 2 Siehe dazu die Bemerkungen zur Übersetzung in Klagelieder 4,7 im Abschnitt 'Nasiräer in Klagelieder 4?'
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