Der Prophet Habakuk

Kapitel 1

Zuerst haben wir also die Klagen und sogar Vorwürfe, die der Prophet gegenüber Gott äußert in Bezug auf die Verderbtheit des Volkes und die Unterdrückung durch die Bösen, worunter die Gerechten seufzen, der fromme Überrest, die wahren Israeliten, mit denen er sich identifiziert und in deren Namen er spricht. „Wie lange, HERR, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: Gewalttat!, und du rettest nicht. Warum lässt du mich Unheil sehen und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt nimmermehr hervor; denn der Gottlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor“ (Hab 1,2–4).

Auf diese Beschwerde antwortete der Herr, indem er das Kommen der Chaldäer ankündigt und beschreibt, wie diese schon seit Jahrhunderten immer wieder in die satten Ebenen Babyloniens eindringen und schließlich die erste der vier großen Monarchien gründen sollten, von denen Daniel spricht. In seinem ersten Kapitel stellt Habakuk sie so dar, wie sie damals waren: Horden von halbwilden Nomaden, die das Land verwüsteten, ohne zwischen den einzelnen Nationen, die sie umstürzten, zu unterscheiden. Sie verschlangen, ohne sich die Mühe einer genauen Untersuchung zu machen, alle Fische, die in ihren Netzen gefangen wurden (Hab 1,14.15). Sie wollten Judäa mit Füßen treten, ohne zu ahnen, dass es ein heiliges Land war, und ohne nach dem Gott zu fragen, der dort verehrt wurde.

Ein weiterer Charakterzug der Chaldäer war ihr überhebliches Vertrauen in die eigene Kraft, ihre grausame Freude über ihren Erfolg, ihre Verachtung für das, was die zivilisierten Völker verehrten (Hab 1,10), der tiefe Schlaf ihres Gewissens, ihr praktischer Unglaube, ihre unbesorgte Gottlosigkeit. Sie sammeln Gefangene wie der heiße Wind den Sand der Wüste fortträgt (Hab 1,9). Sie glauben, dass sie ihre Macht und ihren Erfolg sich selbst zu verdanken haben, ihre Stärke haben sie zu ihrem Gott gemacht und sie rühmen ihre Macht (Hab 1,7.11.16).

Sie sind Söhne der Wüste, ein Reitervolk, unerschrocken, hart und wild. Während die Assyrer eine gewisse königliche Würde, etwas von einem Löwen hatten (Nahum 2,11.13), sind die Chaldäer nur wie ein Rudel Wölfe, das sich nachts auf dem Land ausbreitet (Hab 1,8).

Aber was bedeutet diese Antwort des Herrn an den Propheten, der viel mehr um die Befreiung der Gerechten in Israel bat als um die Bestrafung der Bösen, und dem einfach gesagt wird, dass viele Länder von einer barbarischen Nation verwüstet werden? Lassen wir erneut Habakuk sprechen: „Bist du nicht von alters her, HERR, mein Gott, mein Heiliger? Wir werden nicht sterben. HERR, zum Gericht hast du es gesetzt, und, o Fels, zur Züchtigung es bestellt“ (Hab 1,12). Du wirst uns in dieser Situation beschützen, indem du die Sünder bestrafst und der Gerechten gedenkst und wir, der wahre Überrest Israels, wir werden nicht sterben. Du hast die Chaldäer auf den Plan gerufen, um Gericht über deine Feinde zu bringen; du, der du unser Fels und unsere hohe Festung bist, du hast alles so geführt um die Schuldigen zu strafen. So erhält der Prophet eine vollkommen zufriedenstellende Antwort auf seine anfänglichen Klagen: die Unterdrückten in Israel werden aus den Händen ihrer gottlosen Mitbürger befreit und von dem Gericht über die Bösen verschont.

Daraus ergibt sich für den Propheten jedoch ein neues Problem: Die Chaldäer, die Gott benutzt, um diese Bestrafung auszuführen, sind in gleichem bzw. in noch höherem Maß schuldig wie die Hebräer, die von ihnen bestraft werden. Das wird in der Beschreibung, die Gott selbst über sie gibt hinsichtlich ihrer Grausamkeit, ihrer Überheblichkeit und ihrem gottlosen Stolz, deutlich: „Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermagst du nicht anzuschauen. Warum schaust du Räubern zu, schweigst, wenn der Gottlose den verschlingt, der gerechter ist als er?“ (Hab 1,13). Habakuk stellt sich vor, wie die Chaldäer auf der Erde umherwandern, diese dabei verwüsten und eine Nation nach der anderen überwältigen, als hätten diese keinen Anführer, um sich zu verteidigen: „Und machst die Menschen wie die Fische des Meeres, wie das Gewürm, das keinen Herrscher hat? Er hebt sie alle mit der Angel herauf,“ (Hab 1,15) und die Chaldäer triumphieren über ihren Erfolg und beweihräuchern sich selbst.

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