Betrachtung über das Buch Klagelieder (Synopsis)

Kapitel 5

Betrachtung über das Buch Klagelieder (Synopsis)

Der Prophet kann jetzt die ganze Drangsal des Volkes Gott vorstellen als einen Gegenstand des Erbarmens und der Gnade. Das ist ein Schritt vorwärts auf dem Pfad dieser tiefen Herzensübungen. Er ist mit Gott in Frieden und befindet sich in seiner Gegenwart; wir sehen nicht länger ein Herz, das mit innerer Not zu kämpfen hat. Alles ist vor dem HERRN bekannt, vor Ihm, der gegen sein Volk treu ist, so dass er zu Gott flehen kann, Er möge auf die Drangsal blicken, um seines leidenden Volkes nach der Größe seiner Barmherzigkeit zu gedenken; denn der HERR ist unveränderlich derselbe (V. 19–21). Die Trübsal wird in unveränderter Weise gefühlt, aber Gott wird mit hineingebracht, und nachdem alles vor Ihm ins Gedächtnis gebracht und gerichtet, nachdem alles Geschehene für das Herz hinweggeräumt ist, kann Jeremia in dem eigentlichen und ewig zwischen Gott und seinem geliebten Volk bestehenden Verhältnis ruhen; und indem er sich selbst in seine unmittelbaren Beziehungen zu seinem Gott einschließt, benutzt er Dessen Güte, die sich in diesen Beziehungen offenbart, um in der Trübsal des geliebten Volkes einen Anlass zu finden, Ihn auf dasselbe aufmerksam zu machen. Das ist die wahre Stellung des Glaubens, die derselbe als das Ergebnis seiner Übungen vor Gott im Blick auf die Trübsal seines Volkes erlangt – eine Trübsal, die um so tiefer ist, weil sie durch die Sünde verursacht wurde.

Das Buch der Klagelieder ist beachtenswert, weil wir in ihm den Ausdruck der Gedanken des Geistes Gottes erblicken, das heißt jener Gedanken, die in den unter seinem Einfluss stehenden Personen, in den Gefäßen seines Zeugnisses, hervorgerufen wurden, als Gott gezwungen war, das, was Er in der Welt als sein Eigentum aufgerichtet hatte, beiseite zu setzen. In dem ganzen Kreis der Offenbarungen Gottes und seinen darin sich kundgebenden Zuneigungen gibt es nichts, was dem ähnlich wäre. Er sagt selbst: Wie wäre es möglich, dass ich euch wie Adama und Zeboim behandeln sollte? Christus musste diese Beiseitesetzung des Volkes im vollsten Maß empfinden. Aber Er empfand sie gemäß der Vollkommenheit seiner Person und in der Gegenwart Gottes. So sehen wir Ihn im Blick auf Jerusalem handeln; Er weinte über die Stadt. Aber hier bei Jeremia finden wir, dass der Mensch die Hoffnung auf ein Eintreten Gottes zugunsten seines Volkes verloren hatte. Gott konnte nicht einen Mann im Stich lassen, der diesem Volk angehörte, der es liebte und innerlich davon überzeugt war, dass Gott es liebte, ja, dass es der Gegenstand seiner Zuneigungen war. Jeremia war einer von dem Volk. Wie konnte er den Gedanken ertragen, dass Gott es verworfen hätte? Es war zweifellos, dass Gott es wiederherstellen würde. Doch an dem Platz, auf den Er das Volk gestellt hatte, war alle Hoffnung für immer verloren; in der Gegenwart des Herrn ist sie nie verloren. Um schließlich zu diesem Ziel zu gelangen, muss das Herz alle jene Übungen durchmachen, bis es imstande ist, völlig in den Sinn und die Liebesgedanken Gottes selbst einzugehen. Dies bleibt immer wahr.

Der Geist entwirft hier ein Bild von allen diesen Übungen. Welch eine Gnade, den Geist Gottes auf alle diese Einzelheiten eingehen zu sehen, nicht nur auf die Einzelheiten der Wege Gottes, sondern auch auf alles das, was in einem Herzen vorgeht, das durch die Gnade befähigt ist, das Gericht Gottes zu empfinden, bis in der Gegenwart Gottes selbst alles an seinen rechten Platz gebracht wird. In dem inspirierten Wort finden wir nicht nur die vollkommenen Gedanken Gottes sowie Christus, die Vollkommenheit des Menschen vor Gott, sondern auch alle die Übungen, die durch die Tätigkeit des vollkommenen Geistes in unserem armen Herzen hervorgerufen werden, insofern unsere Gedanken, so vermischter Art sie auch sein mögen, in der Hauptsache auf Gott gerichtet oder durch Ihn hervorgerufen sind. So treulich sorgt Er für uns! Er horcht auf unsere Seufzer, obgleich viel Unvollkommenheit und vieles, was unseren eigenen Herzen entstammt, ihnen beigemischt ist. Das sehen wir in den Klageliedern, in den Psalmen und anderswo, sowie in reichem Maß, obwohl wieder in anderer Weise, im Neuen Testament.

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