Die Klagelieder Jeremias – eine Einführung

1. Einleitung

Die Botschaft dieses kleinen Bibelbuches ist sehr zu Herzen gehend. Leider wird es von vielen Kindern Gottes nicht sehr oft gelesen. Dabei ist es eine Schatzkammer des geistlichen Trostes in Zeiten von Niedergang und Verfall. Es hilft uns, Gottes Wege zu verstehen, wenn wir von Ihm abgewichen sind. Als Israel in Ägypten unter der Hand des Pharaos litt, sagte Gott, dass Er das Elend seines Volkes gesehen hatte. Genau das finden wir im Buch der Klagelieder. Gott hat ein Interesse an seinem Volk – selbst dann, wenn Er es wegen eigener Sünde strafen musste. Gott bleibt ein barmherziger und gnädiger Gott. Er hört und reagiert, wenn wir Ihm unsere Schuld und die dadurch entstandene Not vorlegen.

Historisch nimmt uns das Buch der Klagelieder in eine äußerst traurige Zeit im irdischen Volk Gottes mit. Nachdem zuerst die zehn Stämme (das Nordreich) durch ihr Abfallen von Gott in die assyrische Gefangenschaft geraten waren (722 v. Chr.), hatte es einige Jahrzehnte später auch das Südreich (Juda und Benjamin) getroffen (586 v. Chr.). Gott selbst hatte sie in die Hand des Königs von Babel (Nebukadnezar) gegeben. Jerusalem war zerstört und das Volk – bis auf wenige Aufnahmen – nach Babel deportiert worden. Damit hatte sich das Wort erfüllt, das Gott durch die Propheten gesprochen hatte. Der Thron Gottes – Symbol seiner Regierung – stand nicht mehr in Jerusalem. Die „Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24) hatten begonnen. Die Herrlichkeit Gottes hatte den Tempel in Jerusalem verlassen (Hes 9-11). Das alles war die Folge der Untreue und Rebellion des Volkes gegen seinen Gott.

Nur ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung verblieb in der zerstörten Stadt und ihrer Umgebung. Unter ihnen befand sich der Prophet Jeremia – einer der Propheten, die das Desaster vorausgesagt hatten. Er macht sich im Auftrag Gottes zum Sprecher dieser wenigen Juden und klagt über den desolaten Zustand der Stadt und des Volkes. Jeremia selbst war nicht von Gott abgefallen. Dennoch hatte ihn das Gericht ebenso getroffen und er litt darunter. Dieses Mitleiden drückt er in seinem Buch aus. Zugleich bezeugt er die Treue Gottes, dessen Barmherzigkeit selbst im Gericht nicht aufgehört hatte.

Das Buch ist ein mahnendes und zugleich tröstendes Zeugnis in Bezug auf die Folgen von Sünde und Verfall und den unermesslichen Wert der Treue Gottes. Es hilft uns mit Fragen des Leids, der Schuld und der Hoffnung umzugehen und bietet jedem Leser wichtige Einsicht in das Handeln Gott mit denen, die nach seinem Namen genannt werden. Die zentrale Botschaft ist, dass Gott gerecht ist und Sünde bestraft, dass aber selbst im Gericht Hoffnung bleibt, wenn ein Mensch (oder ein Volk) zu Gott umkehrt.

In diesem Sinne dient das Buch der Klagelieder als tiefgehende Reflexion über Fragen Leid, Schuld und Hoffnung und gibt bis heute wertvolle Erkenntnis für den Glauben und das Verständnis der Wege Gottes mit seinem Volk. Genau diese Funktion wird das Buch auch in Zukunft haben, wenn der jüdische Überrest in der Zeit der großen Drangsal leiden wird.

J. N. Darby schreibt: „Es gibt nichts Bewegenderes als die Gefühle, die in einem Herzen entstehen, wenn man davon überzeugt ist, dass derjenige, der leidet, von Gott geliebt wird, dass Gott das liebt, was er schlagen muss, und dass er schlagen muss, was er liebt. Der Prophet legt die Leiden Jerusalems offen und räumt ein, dass die Sünden des Volkes diese Leiden verursacht haben. Könnte das die Trauer seines Herzens mindern? Wenn es einerseits ein Trost war, so demütigte es ihn andererseits und ließ ihn sein Gesicht verbergen“.1

Die Juden nennen das Buch nach dem ersten Wort „wie“ oder „wehe“ (das Wort beschreibt einen Klageruf; vgl. Her 9,18).2 Wir kennen es heute unter dem Namen „Klagelieder“. Dieser Titel leitet sich aus der lateinischen Übersetzung (Vulgata) ab, wo das Buch „Lamentationes Hieremiae Prophetae“ heißt. Das Buch enthält fünf Trauerlieder, die unter dem großen Thema zusammengefasst werden können: „Die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahr 586 v. Chr.“.

2. Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Man kann das Buch der Klagelieder nur verstehen, wenn man den zeitgeschichtlichen Hintergrund berücksichtigt. Vier Punkte sind wichtig:

  1. Die Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr.: Das Babylonischer Reich ist das erste große Weltreich, über das wir im Buch Daniel lesen. Es folgt der langen Herrschaft der Ägypter und Assyrer, die über einen langen Zeitraum die dominierenden Kräfte im Nahen Osten gewesen waren.3 Nachdem die Babylonier zunächst die Assyrer entscheidend geschlagen und ausgeschaltet hatten, (Zerstörung von Ninive 612 v. Chr. und Harran 609 v. Chr.) siegten sie 605 v. Chr. gegen Ägypten (Schlacht von Karkemisch). Infolge dieses Sieges weiteten sie ihren Einfluss aus. Jerusalem – das zunächst Schutz bei den Ägyptern gesucht hatte – wurde insgesamt dreimal belagert und besiegt und schließlich völlig zerstört. Die Stadtmauern wurden durchbrochen, der Tempel Salomos zerstört und viele Juden entweder getötet oder verschleppt. Jeremia musste die Entweihung des Tempels, die Zerstörung der Stadt und die Deportation der Juden mit ansehen (Jer 39,1-14; 52,12-14). Das lastete schwer auf ihm.
  2. Die Ursachen für die Zerstörung Jerusalems: Die vordergründige Ursache für dieses Ereignis war die Expansionsfreudigkeit der Babylonier, die ihren Einfluss im Nahen Osten unbedingt ausweiten wollten. Doch die Bibel zeigt mehr als ein gewöhnliches Geschichtsbuch. Die eigentliche Ursache war der geistliche Niedergang und Verfall des Volkes Gottes. Die Juden hatten sich immer wieder von ihrem Gott abgewandt, hatten fremden Göttern gedient und auf die warnende Stimme Gottes durch die Propheten (auch durch Jeremia) nicht gehört. Die Propheten, die das Volk warnten, wurden abgelehnt (z. B. Jer 25,1-11). So war die Zerstörung Jerusalems in letzter Konsequenz ein Gericht Gottes als Antwort auf die jahrelange Rebellion des Volkes, auf ihren Götzendienst, ihre Dekadenz und ihre soziale Ungerechtigkeit.4
  3. Der seelische und geistliche Zustand der Überlebenden: Die wenigen Juden, die in Jerusalem und im Umland verblieben, waren geistlich orientierungslos und verwirrt. Sie trauerten darüber, was mit ihrer Stadt geschehen war. Sie fühlten sich von Gott verlassen und kämpften mit der Frage, was nun werden würden und ob alles hoffnungslos wäre. Bei einigen wenigen Menschen gab es erste Zeichen von Einsicht und Bußfertigkeit. Die ersten Verse des Buches bringen das sehr gut zum Ausdruck.
  4. Die Rolle Jeremias als Schreiber: Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, kann nur Jeremia als Autor des Buches infrage kommen. Er gehörte zu denen, die weder getötet noch deportiert wurden. So ist er einerseits eine Art Sprachrohr der Empfindungen der wenigen Juden, die verblieben waren. Andererseits hat er eine Botschaft für sie. Er wird zu Recht der „weinende Prophet“ genannt, der tief empfunden hat, warum Gott sein Volk richten musste. Er formuliert die Not der Verbliebenen mit prophetischem und mitfühlendem Herzen. Dass er dazu in der Lage war, beweist seine Totenklage über den König Josia einige Jahrzehnte vorher (vgl. 2. Chr 35,25).

Jeremia wurde nicht nur einmal abgelehnt. Zuerst waren es die letzten Könige vor dem endgültigen Fall Jerusalems, die nicht auf ihn hörten. Jetzt waren es – jedenfalls in der Mehrzahl – die wenigen Juden, die noch in Jerusalem verblieben waren. Als sie wenig später nach der Ermordung Gedaljas (des von Babylon eingesetzten Statthalters) gegen den Rat Jeremias nach Ägypten flüchteten, nahmen sie ihn zwangsweise mit, sodass Judäa schließlich für einige Jahrzehnte fast völlig ohne Juden war (Jer 41-44).

3. Verfasser

Es gibt keinen Zweifel daran, wer der Verfasser des Buches ist. In manchen Bibelausgaben wird er im Titel genannt – „Klagelieder des Jeremia“. Allerdings sind die Titel nicht inspiriert. Wir müssen bedenken, dass es Gott gefallen hat, den Autor nicht ausdrücklich zu nennen. Dennoch gilt es als allgemein akzeptiert, dass es sich nur um den Propheten Jeremia handeln kann, den Gott bereits vor dem Fall Jerusalems benutzt hat, mehrere Botschaften an sein Volk zu richten, um es zu warnen.

Die jüdische Tradition (z.  B. im Talmud) schreibt die Klagelieder eindeutig dem Propheten Jeremia zu. In alten Bibelübersetzungen wie der Septuaginta (der vorchristlichen Übersetzung des Alten Testamentes) ist es nicht anders.5

Auch in der frühen Kirche (z. B. unter den Kirchenvätern) gilt Jeremia als Autor. Das Hauptargument ist die stilistische und thematische Ähnlichkeit zum Buch Jeremia (z.  B. seine Klage über das Volk, die Ankündigung des Gerichtes Gottes und der Appell zur Buße und zur Umkehr). Es gibt weitere Parallelen zwischen dem Buch Jeremia und dem Buch der Klagelieder (vgl. Jer 30,14 mit Klgl 1,2 und Jer 49,12 mit Klgl 4,21). In beiden Büchern ist von den Tränen des Autors die Rede (Jer 8,23,9,17; Klgl 1,16; 2,11). In beiden Büchern ist der Verfasser Augenzeuge der Eroberung Jerusalems und der Gräueltaten der Babylonier (Jer 19,9; Klgl 2,20; 4,10).

Das alles bedeutet nicht, dass es nicht in jüngerer Zeit (ab dem 18. Jahrhundert) Kritiker gegeben hat, die vehement infrage stellen oder sogar leugnen, dass Jeremia der Verfasser ist. Wir gehen an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten ein. Die Argumente der Kritiker lassen sich relativ leicht widerlegen.6

Der Prophet Jeremia ist eine der bedeutenden Persönlichkeiten im Alten Testament, die Gott benutzt hat, um sein Volk anzusprechen und Teile des Wortes Gottes zu beschreiben. Das Neue Testament erwähnt ihn dreimal und nennt ihn jedes Mal einen Propheten (Mt 2,17; 16,14; 27,9).

Seine Person, sein Dienst und seine Botschaft werden ausführlich im gleichnamigen biblischen Buch „Jeremia“ beschrieben (vgl. dazu die Einführung in den Propheten Jeremia). Er war ein Sohn des Priesters Hilkija und stammte aus Anatot im Land Benjamin (Jer 1,1). Er wurde bereits vor seiner Zeugung von Gott zum Propheten berufen (Jer 1,5) und begann seinen Dienst zu Lebzeiten des Königs Josia. Somit erlebte er die kurze Blütezeit der Juden, die Reformen dieses gottesfürchtigen Königs, seinen Fall am Ende seines Lebens und den Niedergang unter seinen Nachfolgern Joahas, Jojakim, Jojakin und Zedekia. Er hat die Bedrohung durch das aufstrebende Babylonische Reich angekündigt und das Ende Jerusalems miterlebt.

Aus dem Buch Jeremia entnehmen wir, dass er ein sensibler und mitfühlender Mensch war. Man nennt ihn manchmal den „weinenden Propheten“ (vgl. z. B. Klgl 2,11), weil er selbst unter der Sünde seines Volkes litt. Das Leid, das Jerusalem treffen sollte – und dann getroffen hat – ließ ihn nicht gleichgültig.

4. Empfänger

Das Buch richtet sich historisch in erster Linie an die überlebenden Juden, die die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier erlebt hatten und nun verstreut und in der Umgebung Jerusalems lebten. Es handelte sich dabei überwiegend um eine verarmte Landbevölkerung (vgl. 2. Kön 25,12). Sie sollten lernen, das Leid und Gericht, das sie getroffen hatte, besser zu verstehen und zu Gott umzukehren.

Zugleich gilt das Buch späteren Generationen Israels, die aus der Geschichte lernen sollten. Die Klagelieder dienten deshalb in späterer Zeit als liturgischer Text, um den Untergang Jerusalems in Erinnerung zu behalten und nicht zu vergessen.

Zugleich haben die Klagelieder eine Botschaft für Kinder Gottes zu jeder Zeit, die durch selbst verschuldetes Leid und durch Not gehen. Das gilt auch prophetisch für den Überrest der Juden in der großen Drangsal, die erneut erleben werden, dass Jerusalem von fremden Mächten erobert wird. Viele Ausleger betonen, dass die Klagelieder besonders dem jüdischen Überrest als Hilfe zur Buße, Hoffnung und Umkehr dienen werden.

5. Datierung

Über die Frage der Datierung besteht weitgehend Konsens. Der Text macht klar, dass das Buch kurz nach der endgültigen Zerstörung Jerusalems geschrieben worden ist. Die Vergangenheitsform macht deutlich, dass es sich nicht um eine vorausschauende Weissagung über die Trauer Jerusalems handelt, sondern dass der geschehene Untergang der Stadt beschrieben wird. Die Katastrophe hatte sich bereits ereignet. Die Art und Weise der Schilderung der Trauer und der fehlende Hinweis auf eine Rückkehr der Exiljuden zeigen, dass die Klagelieder sehr nahe an den Ereignissen verfasst worden sind, wahrscheinlich zwischen 586 und 582 v. Chr. Wir können davon ausgehen, dass das Buch vor der (erzwungenen) Ausreise Jeremias und Baruchs nach Ägypten (ca. 582 v. Chr.) geschrieben wurde (vgl. Jer 43,1-7) und sich Jeremia zum Zeitpunkt der Niederschrift noch in Jerusalem oder Judäa befand.

6. Authentizität und Stellung im Kanon der Bibelbücher

Im jüdischen Kanon hat das Buch der Klagelieder seinen festen Platz. Es gehört zu den sogenannten „Fünf Festrollen” (Megillot) innerhalb der „Schriften“ (Ketuvim) – der dritten Abteilung des hebräischen Kanons nach der Thora (dem Gesetz) und den Propheten.7 Die Klagelieder werden traditionell am 9. des Monats Aw (Tisha B'Av) gelesen. Das ist im Juli/August – dem Trauer- und Fastentag der beiden Tempelzerstörungen, zunächst durch die Babylonier (586 v. Chr.) und später durch die Römer (70 n. Chr.). Unter den alten Rabbinern hat es nie Zweifel gegeben, dass die Klagelieder – von Jeremia geschrieben – zum Kanon der Bücher des Alten Testamentes gehören und authentisch sind. Selbstverständlich ist das Buch auch in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes – der Septuaginta – enthalten. Dort steht es in den meisten Ausgaben hinter dem Buch Jeremia. Die Klagelieder gelten bei den Juden als von Gott inspiriert und heilig.

Die frühe Kirche übernahm die Septuaginta als anerkanntes Altes Testament und damit Teil des biblischen Kanons. Anders als bei den Büchern Esther und Hohelied hat es darüber auch später keine ernsthaften Diskussionen gegeben. Kirchenväter wie Hieronymus (der Übersetzer der Vulgata, in der das Buch ebenfalls aufgenommen wurde), Origenes, Athanasius und Augustinus bestätigten das. Schon sehr früh wurde das Buch auch typologisch verstanden, d. h. der Fall Jerusalems wurde als Hinweis für die gefallene Welt und die Kirche in Verfolgung gesehen.

Wie in der Septuaginta und der Vulgata folgt das Buch der Klagelieder in den meisten christlichen Bibelausgaben dem Buch Jeremia. Das weist darauf hin, dass Jeremia als Verfasser gilt. Literarisch wird es heute zu den Prophetenbüchern gerechnet (weil es literarisch und thematisch gut dazu passt).

7. Ziel und Inhalt der Botschaft

Die Botschaft Jeremias hatte konkrete Ziele für die ursprünglichen Empfänger. Leider muss man feststellen, dass die Ziele damals nicht erreicht wurden.

  1. Sie sollte den verbliebenen Juden helfen, über die Zerstörung Jerusalems und des Tempels zu trauern und ihre Trauer zu verarbeiten. Jeremia beschreibt mit bewegenden Worten den Zustand der Stadt, nachdem sie verwüstet, zerstört und gedemütigt worden war.
  2. Sie sollte den Juden helfen, ihre Schuld zu erkennen und einzugestehen (Klgl 1,18a). Das Buch ist ein Appell zur Buße und zur Umkehr (vgl. Klgl 3,40-42). Das Leid und die Not sind kein Zufall und nicht einfach politisch und militärisch bedingt, sondern ein gerechtes Gericht Gottes über die Sünde und Abkehr des Volkes.
  3. Sie ermutigt gleichzeitig, an der Treue Gottes festzuhalten, die trotz des Gerichts kein Ende hat (Klgl 3,22.23). Diese Verse könnte man als Herzstück des gesamten Buches bezeichnen. Trotz aller gerechten Gerichte und der angemessenen Klage sollen Gottes Gnade und Barmherzigkeit nicht vergessen werden. Gott ist und bleibt langsam zum Zorn und groß an Güte.

Das Buch der Klagelieder ist eine Sammlung von fünf poetischen Klagegesängen8, in denen die Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch den Verfasser verarbeitet wird. Die Gesänge spiegeln die tiefe Trauer wider, sprechen von der eigenen Schuld und suchen Trost und Hilfe in Gottes Barmherzigkeit. Jedes Kapitel des Buches enthält einen dieser Gesänge.

Klagelieder 1: Die verlassene Stadt

Jerusalem wird mit einer einsamen und verlassenen Witwe verglichen. Einst war es eine pulsierende Stadt voller Menschen und Leben. Jetzt liegt sie in Trümmern und klagt über ihre Einsamkeit. Der Schmerz ist groß. Hinzu kommt, dass die Feinde über den Fall spotten und niemand da ist, der Trost spendet. Der Grund dafür ist die Sünde des Volkes und der Abfall von Gott.

Klagelieder 2: Gottes gerechter Zorn über Jerusalem

Dieses Kapitel beschreibt neben dem desolaten Zustand der Stadt vor allem den gerechten Zorn Gottes, der sich in der Zerstörung Jerusalems zeigt. Das Gericht Gottes ist kein Zufall, sondern gezielt und gerecht. Die Stadtmauern, der Tempel, der Altar und die Bewohner sind betroffen. Die falschen Propheten haben nicht zur Umkehr aufgerufen, sondern das Volk in trügerischer Sicherheit gewiegt. Die Klage richtet sich an Gott und verbindet sich mit der Bitte um sein Erbarmen.

Klagelieder 3: Der leidende Gerechte

In diesem Kapitel spricht der Schreiber überwiegend (aber nicht nur) in der „Ich-Form“. Er identifiziert sich mit dem Leid der Stadt und der abgefallenen Juden, über die er selbst trauert – obwohl er persönlich unschuldig ist (vgl. die Haltung Daniels in seinem Gebet in Daniel 9). In diesem Kapitel finden wir deshalb die deutlichsten Hinweise auf unseren Herrn, der ebenfalls unschuldig gelitten hat. Jeremia ruft zur Umkehr auf und appelliert vor allem an die Treue Gottes, der sein Erlöser ist. Das Lied schließt mit dem Ruf um Rache an den Feinden.

Klagelieder 4: Der tiefe Fall Jerusalems

Das Kapitel schildert mit dramatischen Worten, wie sich die Dinge in Jerusalem verändert haben. Aus einer glanzvollen Stadt voller Reichtum und Überfluss ist eine verödete und verarmte Stadt geworden, in der nur Elend zu finden ist. Selbst die Feinde hätten sich einen solchen Wechsel nicht vorstellen können. Besonders betont wird das Leid der Kinder und die Schuld der Fürsten, Propheten und Priester, die völlig versagt haben. Auch dieses Lied endet mit dem Gedanken der Vergeltung an den Feinden und der Zuversicht der Wiederherstellung der Stadt.

Klagelieder 5: Trauer und Gebet um Wiederherstellung

In Form eines kollektiven Gebets wird noch einmal die ganze Not des Volkes vor Gott ausgebreitet. Der desolate Zustand der Bevölkerung und der Stadt wird beschrieben. Das Lied endet mit einem ergreifenden Appell an Gott, in seiner Gnade einzugreifen, sein Volk nicht zu vergessen und die Deportierten zurückzubringen. Die Juden wollen zu dem Herrn zurückgebracht werden und wünschen, dass ihre Tage erneuert werden.

8. Zukünftige Ereignisse vorausgesagt (die prophetische Komponente)

Anders als in manchen Propheten beschreiben die Klagelieder keine zukünftigen Ereignisse. Sie ähneln darin einigen Psalmen, die ebenfalls leidvolle Umstände widerspiegeln und die Not derer, die sich darin befinden. Vor dem konkreten Hintergrund der Schreiber erkennen wir in deren Not dennoch oft einen Hinweis auf die Not des kommenden Überrestes der Juden, wenn er durch die große Drangsal gehen wird. So ist es auch in den Klageliedern.

In der Zeit der großen Drangsal (nach der Entrückung der Gläubigen), wird es einen Überrest der Juden geben, die von Gott geprüft und gezüchtigt werden. Gott wird es den Feinden erlauben, diese Glaubenden hart zu bedrängen. Besonders die zweite Hälfte dieser Zeit wird für die Juden eine Zeit großer Not sein. Satan wird auf die Erde geworfen werden und den Antichristen motivieren, die gläubigen Juden zu verfolgen und zu töten (Off 12). Am Ende dieser Zeit wird Jerusalem erobert werden (Sach 14,2). Die Klagelieder zeigen vorausschauend etwas von der Angst und dem Leid des gläubigen Überrestes in dieser Zeit und wie sie ihre Klage vor Gott ausschütten. Sie erkennen ihre eigene Ohnmacht und sehen in dem Gericht die Hand Gottes.

Zudem wird in den Klageliedern an zwei Stellen das Gericht angesprochen, das Gott über die Feinde Israels bringen wird (Klgl 1,21.22; 4,21.22). Das geschieht, kurz bevor das Reich Gottes in Macht und Herrlichkeit gegründet wird. Andere Propheten sprechen darüber ausführlich. Im Buch der Klagelieder wird das nur angedeutet.

9. Christus im Buch der Klagelieder

Im Licht der Aussagen des Neuen Testamentes – durch Jesus Christus selbst in Lukas 24,27 und Petrus in 1. Petrus 1,11 – dürfen wir erwarten, dass auch die Klagelieder Aussagen über unseren Herrn machen. Jesaja 53,3 nennt Ihn „den Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“. Es fällt nicht schwer, in dieser Aussage eine Linie zu den Klageliedern zu ziehen, in denen es gerade um Leid und Schmerz geht.

Das gilt auch, obwohl wir festhalten müssen, dass die Klagelieder historisch-literarisch nicht direkt von dem Messias sprechen (in Jesaja 53 ist das anders). In den Klageliedern geht es um die zerstörte Stadt Jerusalem und den kleinen Rest der Juden, der dort verblieben war. Dennoch wundert es uns nicht, dass der Messias sich mit dem Leid und der Not dieser Wenigen identifiziert, denn in der Bedrängnis seines Volkes war Er selbst bedrängt (Jes 63,9). Deshalb erkennen wir auch in den Klageliedern vorbildlich einen Hinweis auf das Leiden unseres Herrn – und das ganz besonders in Kapitel 3, wo ein individueller leidender Gerechter beschrieben wird.

Das Kapitel beginnt mit den Worten: „Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes. Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel“ (Klgl 3,1.2). Es ist der leidende Gerechte, der dort beschrieben wird. Die Verse beschreiben tiefe körperliche und seelische Leiden wie Verlassenheit, Einsamkeit und das Gefühl, von Gott selbst geschlagen zu sein. Trotz allem gibt es Hoffnung auf Rettung. Deshalb erkennen wir hier einen deutlichen Hinweis auf den leidenden Knecht. A. C. Gaebelein schreibt zu Recht: „Wenn wir diese Worte tiefer Pein … lesen, dann müssen wir über Jeremia hinausschauen und sehen ein Bild unseres Herrn, »des Mannes der Schmerzen und mit Leiden vertraut«, seinen Kummer und seine Bedrängnis, die Empfindungen seiner heiligen Seele“.9

Im Unterschied zu Jeremia leidet unser Herr nicht nur mit uns, sondern Er hat stellvertretend für uns gelitten. Vorbilder sind nie größer als der, auf den sie hindeuten, sie sind vielmehr „ein Schatten der zukünftigen Dinge, der Körper aber ist des Christus“ (Kol 2,17). Viel mehr als Jeremia sein Volk liebte, hat Christus sein Volk geliebt und über ihren Abfall von Gott geweint (Lk 19,41). Immer wieder hat Er – viel intensiver als Jeremia – das Volk zur Buße aufgefordert. Und ganz anders als Jeremia hat unser Herr nie um Rache und Vergeltung gebetet, sondern um Vergebung (Lk 23,34).

Es fällt auf, wie besonders die ersten 18 Verse dieses dritten Kapitels der Klagelieder mit der bildlichen Sprache der Psalmen übereinstimmen. Hier sind vier Beispiele:

  1. Christus in den Stunden der Finsternis:
    Klagelieder 3,2: „Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel.“
    Psalm 88,7: „Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen.“
  2. die körperlichen Leiden des Christus:
    Klagelieder 3,4: „Er hat verfallen lassen mein Fleisch und meine Haut, meine Gebeine hat er zerschlagen.“
    Psalm 102,4: „Denn wie Rauch entschwinden meine Tage, und meine Gebeine glühen wie ein Brand.“
  3. der Ruf des Christus ohne Antwort:
    Klagelieder 3,8: „Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet.“
    Psalm 22,3: „Mein Gott! Ich rufe am Tag, und du antwortest nicht; und bei Nacht, und mir wird keine Ruhe.“
  4. Hohn und Spott über Christus:
    Klagelieder 3,14: „Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden, bin ihr Saitenspiel den ganzen Tag.“
    Psalm 69,13: „Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher.“

Während die übrigen Kapitel des Buches kollektiv formuliert sind (die Stadt Jerusalem), spricht in Kapitel 3 überwiegend ein Einzelner (Jeremia) in der ich-Form. Das macht deutlich, dass wir in den übrigen Kapiteln vorsichtig sein müssen, wenn wir sie prophetisch auf Jesus Christus deuten wollen.10

10. Besonderheiten

a) Hebräische Poesie

Das Buch der Klagelieder ist ein besonderes Beispiel hebräischer Poesie, die völlig anders ist als die Art der Poesie, die wir kennen. Es weist eine spezielle literarische Struktur auf, nämlich das sogenannte „alphabetische Akrostichon“. Gemeint ist eine Gedichtform, bei der die Verse (oder Strophen) mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen (bestehend aus 22 Buchstaben).11

Von den fünf Kapiteln des Buches sind die ersten vier in der Akrostichon-Form aufgebaut. In den Kapiteln 1,2 und 4 sind es jeweils 22 Verse, in Kapitel 3 sind es 66 Verse. Hier gibt es ein „dreifaches Akrostichon“. Jeweils drei Verse hintereinander beginnen mit dem gleichen Buchstaben des Alphabets. Ausleger sprechen von einem „ABC der Trauer“. Interessant ist, dass Kapitel 5 zwar auch 22 Verse hat, aber kein Akrostichon. Hier fehlt der geordnete Rahmen. Man gewinnt den Eindruck, dass hier selbst die geordnete Klageform zerbricht und nur noch pure Verzweiflung vorherrscht.

Die Klagelieder besitzen aufgrund dieser Besonderheit als einziges Buch der Bibel eine inspirierte Kapitel- und Verseinteilung (mit Ausnahme von Kapitel 5). Diese strenge Symmetrie im Aufbau führt jedoch nicht zu einem unnatürlichen oder verkrampften Textfluss. W. Kelly schreibt dazu: „An Leidenschaft ist das Buch als Ganzes unvergleichlich“.12

Hinzu kommt, dass das Buch symmetrisch aufgebaut ist. Die Kapitel 1 und 2 sowie 4 und 5 sind jeweils parallel zueinander geordnet. In Kapitel 1 und 5 geht es vorwiegend um Menschen. In den Kapitel 2 und 4 geht es vor allem um Gott. Kapitel 3 ist das zentrale Kapitel und zeigt die Reaktion Jeremias auf das Gericht über Jerusalem.

b) Erfüllte Prophetie

Das Buch der Klagelieder ist ein Beweis, dass Gottes Wort sich immer erfüllt. Das gilt zum einen für die Propheten, die im Auftrag Gottes den Fall Jerusalems vorausgesagt haben (unter ihnen auch Jeremia). Nur Gott kann Geschichte im Voraus schreiben. Es gilt zum anderen auch für das, was Gott durch Mose bereits angekündigt hatte. In den Klageliedern erfüllt sich auf frappierende Weise, was bereits in 5. Mose 28 angekündigt worden war. Was Jerusalem erlebte, war 900 Jahre vorher im Detail angekündigt worden. Der angekündigte Fluch traf ein. Doch gerade das wird für Israel zur Hoffnung sein. Denn Gott ist nicht nur treu im Blick auf das Gericht, sondern auch im Blick auf seine Zusagen, Israel im kommenden Reich zu segnen.

Nachstehende Übersicht geht auf C. H. Dryer zurück13

Klagelieder

5. Mose

Thema

1,3

28,65

keine Ruhe

1,5

28,44

Vorrang der Feinde

1,5

28,32

verlorene Kinder

1,6

28,25

Flucht vor den Verfolgern

1,18

28,41

Töchter und Söhne gefangen

2,15

28,37

Spott der Feinde

2,20

28,53

die Frucht des Leibes essen

2,21

28,50

keine Rücksicht auf Kinder und Alte

4,10

28,56.57

Not der Mütter im Blick auf ihre Kinder

5,2

28,30

verlorener Besitz

5,5

28,65

ruhelos und müde

5,10

28,48

Durst und Hunger

5,11

28,30

geschändete Frauen

5,12

28,50

keine Ehre den Alten

5,18

28,26

ein wüstes Land

11. Gliederung

Es bietet sich an, das Buch mit Hilfe der Kapiteleinteilung zu strukturieren:

  1. Kapitel 1: Die verlassene Stadt
    Die einsame und elende Stadt (Klgl 1,1-11)
    Die Schuld wird bekannt (Klgl 1,12-22)
  2. Kapitel 2: Gottes gerechter Zorn über Jerusalem
    Gott richtet (Klgl 2,1-10)
    Jeremia trauert über das Gericht Gottes (Klgl 2,11-22)
  3. Kapitel 3: Der leidende Gerechte
    Der Schreiber schildert seine Not (Klgl 3,1-18)
    Der Schreiber hofft auf Gottes Erbarmen und Treue (Klgl 3,19-39)
    Der Schreiber ruft zur Umkehr auf und bittet um Rache (Klgl 3,40-66)
  4. Kapitel 4: Der tiefe Fall Jerusalems
    Not und Elend Jerusalems vor und nach der Eroberung (Klgl 4,1-11)
    Die Schuld der Fürsten, Propheten und Priester (Klgl 4,12-20)
    Ein Blick in die Zukunft (Klgl 4,21.22)
  5. Kapitel 5: Trauer und Gebet des Überrestes um Wiederherstellung
    Not, Schande und Unterdrückung (Klgl 5,1-18)
    Gebet um Gnade und Wiederherstellung (Klgl 5,19-22)

12. Praktische Anwendungen

Leid ist ein Thema, das zu allen Zeiten relevant ist. Menschen, die zum Volk Gottes gehören (im Alten und im Neuen Testament sowie heute) leiden. Die Ursachen mögen unterschiedlich sein, aber in der geistlichen Anwendung ist das Buch der Klagelieder bis heute hochaktuell für Menschen, die mit Leid, Versagen oder geistlichem Niedergang konfrontiert sind. Dazu müssen wir nicht in einem Kriegs- oder Katastrophengebiet leben. Das in diesem Buch beschriebene Unheil hatte seine Ursache in dem Versagen und Abfall des damaligen Volkes Gottes. Es war Gottes Hand, die sich gegen sein Volk erhoben hatten. Unter dieser Perspektive lernen wir wichtige Lektionen, die mit den Folgen der Sünde und dem Wunsch nach Wiederherstellung zu tun haben.

Lektion 1: Das Gericht Gottes über Sünde ist gerecht

Wenn Gott richtet, ist Er nicht grausam, sondern heilig und gerecht (Klgl 1,18). Er nimmt Sünde im Leben der Seinen nicht einfach hin, sondern bringt in seiner Regierung Gericht. Sünde hat immer ihren Preis (Spr 5,3.4). Sie sieht verlockend aus (1. Joh 2,16) und scheint uns viel zu geben. Am Ende fordert sie jedoch nur (Jak 1,15). Jerusalem „hat ihr Ende nicht bedacht und ist erstaunlich gefallen“ (Klgl 1,9). Was ein Mensch sät, wird er ernten (Gal 6,7). W. M. Donald schreibt: „Sünde ist attraktiv im Vorblick, aber grässlich im Rückblick.“14

Das notwendige Gericht (Zucht) wird von Gott gesteuert. „Der Herr hat getan, was er beschlossen, hat sein Wort erfüllt… Er hat schonungslos niedergerissen und den Feind sich über dich freuen lassen…“ (Klgl 2,17). Dieses Prinzip gilt im persönlichen Leben ebenso wie im gemeinschaftlichen Leben. Die sieben Briefe an die sieben Versammlungen in Offenbarung 2 und 3 zeigen, wie Gott den Zustand beurteilt und – da wo nötig – im Gericht eingreift und sogar einen Leuchter von seiner Stelle wegrückt, wenn keine Buße vorhanden ist (Off 2,5).

C. R. Swindoll schreibt: „Es (das Buch der Klagelieder) ist eine bewegende Erinnerung daran, dass die Sünde trotz all ihrer Verzauberung und Faszination ein schweres Gewicht von Leid, Trauer, Elend, Verlassenheit und Schmerzen mit sich bringt. Es ist die andere Seite der Iss-trink-und-sei fröhlich Medaille“.15

Lektion 2: Gottes Gericht ist nicht willkürlich, sondern es hat ein Ziel

„Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschenkinder“ (Klgl 3,33). Gott züchtigt seine Kinder nicht nach Gutdünken, sondern „zum Nutzen, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden“ (Heb 12,10). Gottes Ziel ist erstens die Erkenntnis der Ursache des Abweichens (Klgl 1,8) und die Verantwortung, die nicht relativiert oder auf die äußeren Umstände geschoben werden darf. Gott erwartet, dass wir die Schuld demütig bekennen (Klgl 5,16). Zweitens geht es um Umkehr zu Gott. „Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu dem Herrn umkehren!“ (Klgl 3,40). „Herr, bring uns zu dir zurück, dass wir umkehren; erneuere unsere Tage wie vor alters!“ (Klgl 5,21).16 Leiden kann tatsächlich zur geistlichen Reife führen – wenn wir bereit sind, uns vor Gott zu beugen. Wir sollen lernen, unser Herz zu prüfen, zu Gott zu beten und zu Ihm umzukehren.

Lektion 3: Wahre Buße beinhaltet Gebet, Umkehr und Bitte um Wiederherstellung

Das Buch endet nicht mit Anklage, sondern mit einem demütigen Gebet – voller Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes und Hoffnung auf Erneuerung. Der vorletzte Vers lautet: „Herr, bring uns zu dir zurück, dass wir umkehren; erneuere unsere Tage wie vor alters!“ (Klgl 5,21). Auch in einer persönlichen oder gemeinschaftlichen Krise dürfen wir – wie Jeremia – um geistliche Erneuerung beten und nicht einfach um äußere Lösungen. Gott wartet auf echte Umkehr und Bitte um Erneuerung und freut sich darüber.

Lektion 4: Gott hört, wenn wir Ihm unser Leid klagen

Es gibt kein anderes Buch, dass die Tiefe des Leids so intensiv beschreibt wie die Klagelieder. Menschliches Elend und menschliche Not werden nicht verschwiegen. Es geht um Gewalt, um Hunger, um Tod, um Einsamkeit, um Erniedrigung, um Ausweglosigkeit, um Hohn und Spott. Wie geht Jeremia damit um? Er frisst seine Not nicht in sich hinein und wird nicht depressiv. Er lehnt sich nicht dagegen auf und rebelliert nicht. Er schlägt nicht um sich, sondern in sich. Er schüttet sein Herz vor Gott aus und klagt Ihm sein Leid.

Die Klagelieder lehren uns, dass es richtig ist, Leid, Trauer und Verzweiflung offen vor Gott auszusprechen. Der Glaube schließt die Wehklage nicht aus, sondern klagt im Vertrauen auf Gottes Gnade. Das gilt für unser persönliches Leben ebenso, wie für unsere Familien und örtlichen Versammlungen. In der ehrlichen, persönlichen und gemeinschaftlichen Demütigung rufen wir zu Gott. Er sieht das Herz und wünscht echte Trauer statt frommer Fassade. Eine solche Klage ist nicht hoffnungslos, sondern rechnet damit, dass Gott eingreift.

Lektion 5: Der Gerechte leidet, wenn Gott sein Volk straft

Jeremia traf keine persönliche Schuld. Er hatte nicht falsch geweissagt, sondern das Gericht vorausgesagt. Jeremia hätte zufrieden sein können, dass seine Weissagung wahr geworden und die falschen Aussagen der übrigen Propheten entlarvt worden waren. Er hätte eine klare Linie zwischen sich und dem Volk ziehen können (ihr, das ungehorsame Volk und eure falschen Propheten und ich, der gehorsame Prophet Gottes). Doch Jeremia reagiert ganz anders. Als Mann Gottes sah er die Not und den Niedergang im Volk Gottes mit seinen Augen und trauerte darüber. Jeder ist Teil des Ganzen. Trotz der ständigen heftigen Ablehnung durch sein Volk, verbindet sich Jeremia mit ihnen, indem er mit ihnen leidet und sich bemüht, sie wieder zu Gott zurückzuführen. In den Klageliedern verbindet sich die Stimme Jeremias mit der des Volkes zu dem Bekenntnis: „Wir haben gesündigt!“ (Klgl 5,16).

So wie Jeremia Teil des irdischen Volkes Gottes war, sind wir Teil der Christenheit. Selbst wenn wir dem Herrn persönlich treu nachfolgen (möchten), haben wir Grund genug, uns zu schämen. Wir sind Teil des Ganzen, das sich innerlich weit von Gott entfernt hat und äußerlich völlig zerrissen dasteht. Wer sich Jeremia zum Vorbild nimmt, wird ins Gebet zu Gott gehen und vor Ihm trauern und um Hilfe beten. Wir werden genau die Erfahrung machen, die auch Jeremia machte, dass bei Gott Erlösung möglich ist (Klgl 3,55-58).

Lektion 6: Hoffnung auf Gottes Erbarmen

Trotz des gerechten Gerichtes müssen die Seinen nicht verzagen. Gott bleibt treu, gnädig, und barmherzig. Diese Hoffnung ist das Herzstück eines Buches, das von tiefem Leid spricht: „Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende; sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, sagt meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen“ (Klgl 3,22-24). Diese Verse sind für den Gläubigen ein zentraler Anker in Leidenszeiten. Die wahre Hoffnung besteht ausschließlich in Gott und in seiner Treue, nicht in unserer Treue und nicht in den Umständen. Wenn alle Sicherheiten wegbrechen und keine Hoffnung vorhanden ist, bleibt Gott unveränderlich und treu. Als Christen sollen wir gerade in Schwierigkeiten lernen, nicht auf Gefühle oder Umstände zu schauen, sondern auf den unveränderlichen Gott.

Lektion 7: Schritte zur Wiederherstellung

Das Buch Klagelieder hat im eigentlichen Sinn kein „Happy End“. Es schließt vielmehr mit der bangen Frage: „Oder solltest du uns ganz und gar verworfen haben, allzu sehr auf uns zürnen?“ (Klgl 5,22). Eine – zeitweise – Wiederherstellung finden wir erst später in der Zeit Esras und Nehemias. Obwohl das so ist, erkennen wir einige Schritte, die notwendig sind, um wiederhergestellt zu werden, wenn wir hingefallen sind:

  1. Wir müssen anerkennen, dass der aktuelle Zustand schlecht ist und es bessere Zeiten in unserem Leben gab: „In den Tagen ihres Elends und ihres Umherirrens erinnert Jerusalem sich an alle ihre Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren“ (Klgl 1,7).
  2. Wir müssen anerkennen, dass Zucht nicht ein Zufall ist, sondern Gott hinter dem Gericht steht: „Der Herr hat schonungslos vernichtet alle Wohnstätten Jakobs; er hat in seinem Grimm niedergerissen die Festung der Tochter Juda; zu Boden geworfen, entweiht hat er das Königtum und seine Fürsten“ (Klgl 2,2).
  3. Wir müssen lernen, Gott in seinem Handeln zu rechtfertigen und Ihn nicht anzuklagen: „Der Herr ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen“ (Klgl 1,18).
  4. Die Lösung liegt in der Buße und Umkehr zu dem Herrn: „Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu dem Herrn umkehren!“ (Klgl 3,40). Herr, bring uns zu dir zurück, dass wir umkehren; erneuere unsere Tage wie vor alters!“ (Klgl 5,21).
  5. Buße und Umkehr sind untrennbar mit Selbstgericht und einem Bekenntnis verbunden: „Wir, wir sind abgefallen und sind widerspenstig gewesen ...“ (Klgl 3,42).
  6. Wir erbitten Gottes Hilfe zur Heilung: „… schütte dein Herz aus wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn“ (Klgl 2,19).
  7. Wir warten still auf die Hilfe Gottes: „Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des Herrn“ (Klgl 3,26).

Fußnoten

  • 1 J. N. Darby: The Lamentations (in: Synopsis of the Book of the Bible)
  • 2 H. J. Kuhley schreibt in seiner ausführlichen Auslegung zum Buch Jeremia: „Im rabbinischen Gebrauch wurde es dann auch als „qinot“ (= laute Schreie, Klagerufe, Totenklage) bezeichnet (vgl. Jer 7,29), dessen griechische Entsprechung „threnoi“ ist, „lamentationes“ die lateinische. Als beste deutsche Wiedergabe hat sich „Klagelieder“ durchgesetzt (H. J. Kuhley: Die Klagelieder)
  • 3 Ägypten und Assyrien waren ohne Zweifel in ihrer Zeit das, was man heute als „Weltreich“ bezeichnen würde. Die Bibel allerdings tut das nicht. Erst als der Thron Gottes nach der Zerstörung Jerusalems nicht mehr dort stand, beginnt die Zeit der „Weltreiche“, über die Daniel ausführlich schreibt.
  • 4 Es fällt auf, dass im gesamten Buch der Klagelieder weder Babylon noch Nebukadnezar erwähnt werden (anders als in den Büchern der Könige und Chroniken). Der Fall Jerusalems und das Elend der Verbliebenen wird hier nicht mit der politischen und militärischen Niederlage begründet, sondern hat einzig und allein geistliche Ursachen: Juda hatte sich von Gott abgewandt und sich geweigert, auf seine Stimme zu hören und zu Ihm umzukehren. Das ist die Sichtweise Gottes und die machte Jeremia sich zu eigen.
  • 5 Dort beginnt das Buch mit einem kurzen Absatz, der in unseren Übersetzungen nicht enthalten ist: „So geschah es, nachdem Israel gefangengenommen und Jerusalem verwüstet worden war, dass Jeremia weinend und klagend dasaß mit seiner Klage über Jerusalem. Und er sprach…“. Erst danach beginnt der erste Vers des ersten Kapitels. Auch die lateinische Übersetzung (Vulgata) hat diesen Vorspann.
  • 6 Näheres dazu bei A. C. Gaebelein, der sich mit den Argumenten auseinandersetzt, sie beschreibt und zeigt, wie unmaßgeblich sie sind (A. C. Gaebelein: The Book of Lamentations, in: The Annotated Bible). Vgl. auch G. L. Archer: A Survey of Old Testament Introduction.
  • 7 Die fünf Megillot sind: Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther.
  • 8 Man hat diese Klagegesänge mit Beerdigungsliedern verglichen (vgl. 2. Sam 1,17-27), die für jemand gesungen wurden, der gerade gestorben war. Jeremia beklagt sozusagen den tragischen und selbstverschuldeten „Tod“ der Stadt Jerusalem.
  • 9 A. C. Gaebelein: The Lamentations of Jeremiah (in: The Annotated Bible)
  • 10 Damit ist nicht gesagt, dass dies unmöglich ist, dennoch ist eine gewisse Vorsicht geboten.
  • 11 Das „klassische“ und zugleich längste Beispiel dafür ist Psalm 119. Der gesamte Psalm ist so aufgebaut, d. h. es gibt 22 Abschnitte, die dem hebräischen Alphabet folgen (jeder der jeweils 8 Verse beginnt mit demselben Buchstaben). Weitere Beispiele sind Psalm 25,34,37,111,112,145. Sie sind entweder ganz oder teilweise alphabetisch aufgebaut. Ein weiteres Beispiel ist das Lob der tüchtigen Frau in Sprüche 31. Diese literarische Form zeigt nicht nur etwas von der kunstvollen Gestaltung, sondern weist auf etwas hin, das vollständig und geordnet ist (sozusagen von „A bis Z“).
  • 12 W. Kelly: The Book of Lamentations (in: Lectures Introductory)
  • 13 C. H. Dryer: Die Klagelieder, in: Das Alte Testament (herausgegeben von J. F. Walvoord und R. B. Zuck).
  • 14 W. M. Donald: Das Buch der Sprüche
  • 15 C. R. Swindoll: The Lamentations of Jeremiah (Introduction)
  • 16 Das Prinzip des gerechten Gerichts Gottes gilt auch für die Ungläubigen. Auch hier ist sein Gericht nicht willkürlich. Allerdings kommt der Zeitpunkt, an dem das Gericht nur noch Strafe ist – „ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke“ (2. Thes 1,9). Dieser Gedanke hilft uns heute, Unrecht zu ertragen. Allerdings ist das nicht die Lektion der Klagelieder, denn hier geht es um die Erziehungswege Gottes mit seinem Volk – und nicht mit der Welt oder den Feinden.