Einführung in das Buch Ruth

Einführung in das Buch Ruth

Das Buch Ruth ist ein kurzes Buch. Es besteht aus vier Kapiteln mit insgesamt 85 Versen. Man kann es in einer guten halben Stunde durchlesen. Dennoch ist dieses kurze Buch nicht nur lesenswert, sondern es lohnt sich, in Ruhe darüber nachzudenken. Auf den ersten Blick ist es eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte, in der eine mittellose Witwe aus Moab mit ihrer Schwiegermutter nach Bethlehem zieht und dort den reichen und angesehenen Großgrundbesitzer Boas heiratet. Die Geschichte lebt von Kontrasten. Sie spricht von Weggang und Rückkehr, von Leid und Freude, von Niedergang und Hingabe, von Tod und Leben. Und doch ist es mehr als das.

Das Buch Ruth hat erstens einen großen historischen Wert. Es ist das Bindeglied zwischen dem Buch der Richter und den Büchern Samuel. Das Buch Ruth hat ist zweitens von großer praktischer Relevanz. Es enthält eine Fülle von Lektionen für das tägliche Leben. Das Buch Ruth hat drittens eine wichtige prophetische Komponente. Es zeigt uns, wie der Überrest Israels einmal auf dem Grundsatz der Gnade von Gott angenommen wird. Viertens – und das ist der Hauptpunkt – macht uns das Buch Ruth unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus groß. Wir lernen Ihn in seiner Erlöserherrlichkeit kennen. Das Buch Ruth gehört zu den Schriften, die von unserem Herrn zeugen (Joh 5,39). Den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erklärte Er „in allen Schriften das, was ihn selbst betraf“ (Lk 24,27).

Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle eine Auslegung zum Buch Ruth vorzulegen, sondern vielmehr eine ausführliche Einleitung als Hilfe zum Studium dieses alttestamentlichen Buches zu geben. Sie soll dazu anregen, sich intensiver mit diesem Buch zu beschäftigen.

1. Generelle Hinweise zum Buch Ruth

1.1. Der geschichtliche Hintergrund

Die Ereignisse im Buch Ruth führen uns in die traurige Zeit des Buches der Richter (Kap 1,1). Die Zeit der Richter war dadurch gekennzeichnet, dass jeder tat, was recht war in seinen Augen. Es herrschte in jeder Hinsicht – sittlich, moralisch, zivilrechtlich, religiös – Anarchie (vgl. Ri 17,6 und 21,25). Der Hintergrund des Buches ist sehr dunkel. Gerade deshalb strahlt das Licht dieses kleinen Buches besonders hell. Das Buch der Richter führt in eine Wüste. Das Buch Ruth gleicht einer Oase der Erquickung. Man hat es mit einer Lilie in einem Dornenfeld oder mit einem ruhigen und sonnigen Sommermorgen nach einer stürmischen Nacht verglichen. Es ist in der Tat wie eine Idylle inmitten der traurigen Geschichte Israels im Buch der Richter. Statt Szenen von Abfall, Untreue und Unmoral erleben wir Szenen von Hingabe, Treue und Reinheit. Statt von Schlachtfeldern lesen wir von Erntefeldern.

Der geschichtliche Hintergrund wird den meisten Lesern bekannt sein. Elimelech – ein vermutlich nicht ganz armer Mann – aus Bethlehem-Juda trifft die folgenschwere Entscheidung, seine Heimatstadt Bethlehem wegen einer Hungersnot zu verlassen. Seine Familie nimmt er mit. Sie gehen in der Hoffnung nach Moab, dort Brot zu finden. Doch der Weg endet im Desaster. Sie erfahren die Wirklichkeit der Worte Salomos: „Da ist ein Weg, der einem Menschen gerade erscheint, aber sein Ende sind Wege des Todes“ (Spr 14,12; 16,25). Der Vater und beide Söhne sterben. Noomi bleibt als Witwe mit ihren beiden Schwiegertöchtern Ruth und Orpa übrig.

Dann kommt die Nachricht, dass Gott seinem Volk Brot gegeben hat. Noomi macht sich auf die Reise, um nach Bethlehem zurückzukehren. Ihre beiden Schwiegertöchter gehen mit ihr. Doch unterwegs trennen sie sich. Orpa kehrt in ihre Heimat zurück, während Ruth durch nichts zu bewegen ist, ihre Schwiegermutter zu verlassen. Sie geht mit ihr. Ihre Entscheidung steht fest.

In Bethlehem angekommen, sorgt Ruth für den Lebensunterhalt der beiden Frauen. Sie geht auf ein Feld, um dort Ähren aufzusammeln. Unter der Vorsehung Gottes trifft sie „zufällig“ auf ein Feldstück, das einem Verwandten ihres Schwiegervaters – nämlich Boas – gehört. Dort wird sie reichlich gesegnet. Doch nicht nur das. Durch den Segen lernt sie vor allem den kennen, der den Segen gibt. Weil Boas ein Blutsverwandter von Elimelech ist, kommt er als Löser für das verloren gegangene Erbteil in Frage. Boas ist zur Erlösung bereit. Er löst jedoch nicht nur das Erbteil, sondern vor allem Ruth. Sie wird seine Frau. Der erste Sohn, der geboren wird, ist einer der Vorfahren des Königs David.

So beginnt dieses Buch mit dem Hinweis darauf, dass jeder tat, was recht war in seinen Augen, und es endet mit einem Hinweis auf David. Das Buch der Richter endet mit der Feststellung, dass kein König in Israel war (Ri 21,25). Das Buch Ruth endet mit dem Namen des Königs nach dem Herzen Gottes.

1.2. Die historische Bedeutung – Bindeglied zwischen Richterzeit und Königszeit

Das Buch Ruth steht zwischen der Anarchie in der Zeit der Richter und der Monarchie in den Büchern Samuel. Die Verbindung zum Richterbuch ist ebenso wenig zu übersehen wie die zu den Büchern von Samuel. Dennoch wäre es viel zu wenig, dieses Buch als „Anhang“ zum Buch der Richter zu bezeichnen.1 Die Handlung findet zwar gerade in dieser dunklen Zeit statt. Dennoch setzt sich der Inhalt dieses Buches völlig von dem des Buches der Richter ab.

Das Buch der Richter zeigt den fortlaufenden Verfall des Volkes Gottes – und das trotz des Eingreifens und der Hilfe Gottes. Es endet in dunklen Szenen moralischen Niedergangs und Verfalls. Das Buch Ruth zeigt im Gegensatz dazu die tätige Gnade Gottes trotz des Niedergangs und Abfalls seines Volkes. Es endet in einer Szene der Freude und des Segens. J. N. Darby schreibt: „Das Buch erzählt uns ebenfalls von den Tagen der Richter, als kein König in Israel war; es zeigt uns jedoch die schöne Seite jener Tage in den Auswirkungen der Gnade Gottes, der (gepriesen sei sein Name) niemals aufhörte, inmitten des Bösen, wie auch durch den beständigen Fortschritt der Ereignisse auf die Erfüllung seiner Verheißungen in dem Messias hinzuwirken – wie auch immer der gleichzeitige Fortschritt des allgemeinen Bösen sein mochte.“2

Zugleich führt uns das Buch Ruth in die Bücher Samuel ein, denn es endet mit der Erwähnung Davids (Kap 4,22), dessen Geschichte in diesen beiden Büchern ausführlich beschrieben wird. Die Tatsache, dass David dort erwähnt wird, lässt uns an den „wahren David“ oder den „Sohn Davids“ denken, den Mann nach dem Herzen Gottes. Würde dieses kleine Buch im Kanon der Heiligen Schrift fehlen, so fehlte uns ein wichtiges Bindeglied zwischen der Zeit der Richter und der Zeit der Könige. Im 1. Buch Samuel lesen wir nichts weiter über den Stammbaum Davids, außer dass sein Vater Isai war. Dazu benötigen wir das Buch Ruth.

1.3. Der Buchtitel

Viele Bibelbücher sind nach ihren Autoren mit Männernamen benannt. Nur zwei Bücher tragen den Namen einer Frau. Das fällt auf. Es sind die Bücher Ruth und Esther. Beide Bücher haben Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Das Buch Ruth beschreibt die Geschichte eines armen Heidenmädchens, das nach Juda kommt und dort einen reichen Israelit heiratet. Das Buch Esther beschreibt uns die Geschichte eines armen Mädchens aus Israel, das unter den Heiden im Exil lebt und dort einen reichen heidnischen Mann heiratet. Beide Frauen sind gekennzeichnet von Gottesfurcht, von Liebe, von Treue und von Hingabe.

Beide Bücher scheinen auf den ersten Blick sehr verschieden zu sein, denn sie beschreiben ganz unterschiedliche Szenen. Dennoch haben sie gemeinsam, dass sie ausführlich über die Vorsehung Gottes für sein Volk Israel sprechen. Hinter der beschriebenen Szene geschehen Dinge, die kein Mensch erahnen und erdenken kann, denn Gott hat es im Sinn, sein Volk zu bewahren und zu erhalten. Gott ist immer souverän. Er ist allmächtig. Das zeigen uns beide Bücher sehr deutlich. Er kümmert sich nicht nur um Völker und Nationen, sondern ebenso um Familien und um einzelne Personen.

Obwohl wir wissen, dass die Buchtitel der Bibelbücher nicht göttlich inspiriert sind, trägt das Buch Ruth diesen Titel zu Recht. Ohne Frage hätte man es ebenso das „Buch des Boas“ nennen können. Wir sind jedoch überzeugt, dass Gott es so geführt hat, dass dieses Buch gerade den Namen der Frau trägt, die eine Hauptrolle in der Geschichte spielt.

1.4. Ruth, die Moabiterin – ein Denkmal der Gnade

Fünfmal wird sie in dem Buch so genannt (1,22; 2,2.21; 4,5.10). Damit wird an ihre Herkunft erinnert. Sie bleibt unvergessen. Ruth gehörte ursprünglich zu den Feinden des Volkes Gottes, mit denen sie sich nicht verbünden sollten. Moab hat – wie Ammon – eine traurige Entstehungsgeschichte. Sie wird in 1. Mose 19,30–38 beschrieben. Die Töchter Lots wollten ihren Wunsch nach Kindern erfüllen und griffen deshalb zu List und Verführung. Ihr eigener Vater wurde der Vater ihrer Söhne. Lot stammte aus der gleichen Familie wie Abraham, der Vater der Kinder Israel. Beide Nationen hatten somit gleiche Wurzeln. Dennoch entwickelten sie sich völlig unterschiedlich. Moab war ein böses und götzendienerisches Volk, das Israel von Anfang an feindlich gegenüberstand. Die Bibel berichtet widerholt von Zwistigkeiten zwischen beiden Nationen.3 Gott hatte klar gesagt: „Kein Ammoniter oder Moabiter soll in die Versammlung des Herrn kommen; auch das zehnte Geschlecht von ihnen soll nicht in die Versammlung des Herrn kommen in Ewigkeit“ (5. Mo 23,4). Doch selbst unter Gesetz siegt die Gnade, denn Gott ist ein Gott, der „den Fremden liebt“ (5. Mo 10,18), und die Kinder Israel sollten den Fremden aufnehmen und nicht bedrücken (5. Mo 24,14–21). Das wird im Buch Ruth sehr schön illustriert. W. Kelly schreibt: „Wenn das Gesetz gerecht und gut ist – Gnade ist besser und das einzige Mittel, um Schuldige und Gefallene von ihren Sünden zu retten. Wenn das Gesetz geeignet ist, uns niederzubeugen und uns unseren sündigen Zustand zu zeigen, dann ist die Gnade das Geheimnis Gottes für den Verlorenen und Elenden, um ihn zu retten und zu segnen.“4

Gerade vor dem dunklen Hintergrund des völligen Fehlverhaltens von Elimelech zu Beginn des Buches strahlt die unverdiente Zuwendung und Gnade Gottes in der Forstsetzung der Ereignisse besonders hell. Es ist die wiederherstellende Gnade Gottes für Noomi, es ist die rettende, die segnende und zur Ruhe bringende Gnade für Ruth, die Fremde aus dem Land Moab. Die Geschichte illustriert den wichtigen Vers aus Römer 5,20: „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden.“ Es ist die Gnade für Israel, die alle Verheißungen Gottes an sein Volk sicherstellt. Es ist die Gnade, die uns in der Person des Herrn Jesus erschienen ist und jetzt allen Menschen das Heil anbietet (Tit 2,11). Petrus verbindet die Gnade und Barmherzigkeit Gottes an Israel mit dem, was wir empfangen haben: „... die ihr einst ‚nicht ein Volk‘ wart, jetzt aber ein Volk Gottes seid; die ihr ‚nicht Barmherzigkeit empfangen hattet‘, jetzt aber Barmherzigkeit empfangen habt“ (1. Pet 2,10).

Ruths Name wird außer in dem Buch selbst nur noch ein einziges Mal erwähnt, nämlich in Matthäus 1,5. Dort hat sie einen Ehrenplatz im Geschlechtsregister des Messias. Sie wurde die Urgroßmutter von König David, dessen Sohn der Messias war. In den ausführlicheren Registern in 1. Chronika steht ihr Name nicht, doch im Neuen Testament erwähnt der Heilige Geist sie zusammen mit drei anderen Frauen, die ebenfalls eine bewegte Vergangenheit hatten und die alle nur von der Gnade lebten. Es sind die beiden kanaanäischen Frauen Tamar und Rahab sowie Bathseba, die Frau von Urija. Sie illustrieren, was Hanna in ihrem Gebet sagte: „Er hebt aus dem Staub empor den Geringen, aus dem Kot erhöht er den Armen, um sie sitzen zu lassen bei den Edlen; und den Thron der Ehre gibt er ihnen als Erbteil. Denn des Herrn sind die Säulen der Erde, und auf sie hat er den Erdkreis gestellt“ (1. Sam 2,8).

Das Buch Ruth ist in der Tat ein Buch der Gnade, und zwar der Gnade vonseiten Gottes. Hand in Hand damit geht der Glaube, und zwar aufseiten von Ruth. Er ist die Antwort auf die Gnade und Liebe Gottes. H. Rossier merkt an: „Wenn das Buch Ruth ein Buch der Gnade ist, dann ist es notwendigerweise ebenso ein Buch des Glaubens. Gnade und Glauben gehen immer Hand in Hand, denn es ist der Glaube, der seine Hand auf die Gnade legt und sie sich zu eigen macht. Der Glaube hält fest an den göttlichen Zusagen und an dem Volk, das der Gegenstand dieser Zusagen ist. Schließlich ist es der Glaube, der seine Freude in dem findet, der alle Verheißungen trägt und der ihr Erbe ist.“5 Ruth wurde durch diesen Glauben gekennzeichnet, während wir bei Elimelech gerade das Gegenteil sehen.

1.5. Verfasser und Datierung

Wie bei einigen anderen Bibelbüchern ist der Verfasser nicht bekannt. Deshalb kann nicht gesagt werden, wann das Buch geschrieben wurde. Selbst die beschriebene Handlung kann zeitlich nur relativ grob eingeordnet werden, nämlich in die Zeit der Richter.

Dem Buch selbst kann man entnehmen, dass es nach der Geburt Davids geschrieben wurde. Das Buch endet mit der Erwähnung seines Namens. Vorher kann es also nicht geschrieben worden sein, viel später vermutlich ebenfalls nicht. Natürlich haben Bibelforscher darüber nachgedacht, wer das Buch geschrieben hat und wann es entstanden ist. Viele jüdische Kommentatoren nennen Samuel als Autor. Einige kritische Kommentatoren legen die Verfassungszeit deutlich später, zum Teil in die Zeit nach dem babylonischen Exil. Sie nennen Esra als Autor. Die meisten bibeltreuen Ausleger schließen sich dem Gedanken an, dass es in der Zeit Samuels geschrieben wurde und dass viel dafür spricht, dass er dieses Buch unter der Leitung des Heiligen Geistes verfasst hat. Für Samuel als Autor spricht, dass er ein besonderes Interesse an David hatte und mit ihm gerade in seinen frühen Jahren sehr verbunden war.

Was die Datierung der Geschehnisse selbst betrifft, können wir den Hinweisen aus dem Buch selbst entnehmen, dass sie wohl eher zum Ende der Richterzeit stattfanden. Die Richterzeit umfasste einen Zeitraum von etwa 320 Jahren. Baos selbst war kein junger Mann mehr, als er Ruth heiratete. Nach ihm kamen noch Obed und Isai und dann David. Wie viel Zeit zwischen der Geburt Obeds und der Geburt Davids lag, kann man nur schätzen. Die Geschichte könnte etwa in der Zeit Simsons stattgefunden haben.6

1.6. Authentizität des Buches Ruth und sein Platz im Kanon der Bibel

Die historische Genauigkeit der berichteten Fakten ist selten in Frage gestellt worden. Gleiches gilt für den Platz des Buches im Kanon der Heiligen Schrift. Es gibt keinen Zweifel daran, dass dieses kleine Buch zu den „heiligen Schriften“ zählt (Röm 1,2; 2. Tim 3,15), die zu unserer Belehrung, „zur Überführung, zur Zurechtweisung und zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ geschrieben worden sind (2. Tim 3,16).

Interessant ist der Platz, den das Buch in unterschiedlichen Bibelausgaben einnimmt. Wir wissen, dass die Anordnung und Reihenfolge der Bibelbücher ebenso wenig inspiriert sind wie die Einteilung in Kapitel und Verse. Dennoch sind wir überzeugt, dass Gott darin sicher seine Hand gehabt hat. In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes – der Septuaginta – steht das Buch wie in den meisten modernen Bibelübersetzungen zwischen den Büchern Richter und Samuel. Wie wir weiter oben gesehen haben, macht das unbedingt Sinn, weil es geschichtlich dorthin gehört.

In den hebräischen Bibelausgaben hat das Buch einen anderen Platz. Es ist dort eine der fünf sogenannten Megillot (= Buchrolle), und zwar zusammen mit dem Hohenlied, den Klageliedern, Prediger und Esther. Die fünf Bücher gelten als eine gewisse Einheit und wurden – wenn sie kopiert wurden – immer zusammen abgeschrieben.7 Diese Bücher werden „Festrollen“ genannt, weil sie zu bestimmten Festtagen vorgelesen werden.

  • Das Hohelied wird zum Passahfest, dem ersten Fest der Juden, gelesen.
  • Das Buch Ruth wird zu Pfingsten – dem Fest der Wochen – gelesen. Das ist verständlich, denn Pfingsten hat es mit Ernte zu tun, und das ist gerade das Thema des Buches.
  • Die Klagelieder begleiten den Gedenktag der Tempelzerstörung im Jahr 586 v. Chr. Das Fest finden wir nicht in der Bibel. Es findet im 5. Monat des jüdischen Kalenders statt.
  • Der Prediger gehört zum Laubhüttenfest, das im Herbst gefeiert wird.
  • Das Buch Esther verbindet sich mit dem Purimfest (oder Esther-Fest). Es findet sich ebenfalls nicht in der Bibel und wird am Ende des Jahres gefeiert. Es erinnert an die Befreiung der Juden von dem bösen Haman, an der Esther und Mordokai beteiligt waren.

Es scheint so, als ob diese Einteilung der Bücher relativ willkürlich vorgenommen wurde. Es macht jedenfalls mehr Sinn, das Buch zwischen Richter und Samuel zu platzieren. W. Kelly merkt dazu an: „Dass das Buch Ruth sehr zu Recht an dem Platz steht, an dem wir es (in unseren Bibeln) finden, muss von jedem geistlichen Sinn so empfunden werden. Es ist für jeden aufmerksamen Leser der Schrift offenkundig.“8

1.7. Die handelnden Personen

Abgesehen von den zehn Namen in dem Geschlechtsregister am Ende des Buches werden sieben Personen mit Namen genannt. Es handelt sich um Elimelech, Noomi, Machlon, Kiljon, Ruth, Orpa und Boas. Die beiden anonymen Personen sind der Knecht, der über die Schnitter bestellt ist (Kap 2,5.6), sowie der nähere Blutsverwandte, der weder lösen konnte noch lösen wollte (Kap 3,12; 4,1–6).

Die Namen in der Bibel – besonders im Alten Testament – haben eine Bedeutung. Namen von Kindern wurden damals nicht einfach deshalb gegeben, weil sie den Eltern gut gefielen, sondern es ging ihnen um die Bedeutung. Einige haben die Bedeutung ihres Namens in ihrem Leben bestätigt und ihm Ehre gemacht, bei anderen sehen wir gerade das Gegenteil von dem, was der Name aussagte.

Die sieben Namen im Buch Ruth haben folgende Bedeutung9:

  • Elimelech = mein Vater ist König: Es liegt auf der Hand, dass dieser Mann seinem Namen keine Ehre gemacht hat, sonst wäre er nicht nach Moab in das Land der Feinde gegangen.
  • Noomi = die Liebliche: Das mag sie gewesen sein, bevor sie von Bethlehem wegzog. Danach änderte sich alles. Sie wollte Mara (die Bittere) genannt werden. Erst zum Ende des Buches trägt sie ihren Namen zu Recht.
  • Machlon = zart, gebrechlich (oder krank): Es bleibt ein Rätsel, warum die Eltern ihrem Sohn seinen solchen Namen gaben. Vielleicht erkannten sie schon bei der Geburt, dass er keine normale Entwicklung nehmen würde.
  • Kiljon = Gram, Grämen: Erneut rätseln wir, warum Elimelech und Noomi ihr Kind so nannten. Für Noomi war es jedenfalls mit Gram verbunden, als er als junger Mann starb.
  • Orpa = Gazelle oder steifer Nacken: Die Eltern mochten an die Anmut einer Gazelle gedacht haben, als sie ihr Kind so nannten. Am Ende erwies sie sich als eine Frau, die eine falsche Entscheidung traf und nicht die Konsequenz ihrer Schwägerin bewies.
  • Ruth = Gefährtin, Freundin (oder Schönheit): Für Noomi erwies sie sich in der Tat als eine Gefährtin und Freundin. Sie teilten das Leid und sie teilten die Freude. Boas erkannte ihre Schönheit – vor allem ihre moralischen Qualitäten (Kap 3,11)
  • Boas = in Ihm ist Stärke: Boas machte seinem Namen alle Ehre. Er war ein vermögender Mann, der fähig und willig war, das Erbteil Elimelechs und Ruth selbst zu lösen. Er ist – wie wir noch sehen werden – ein treffliches Bild von dem Herrn Jesus.

Zwei Männer bleiben aus gutem Grund „namenlos“. Der Knecht, der über die Schnitter bestellt war, ist wohl – ähnlich wie der ungenannte Knecht Abrahams in 1. Mose 24 – ein Bild des Heiligen Geistes. Der nähere Blutsverwandte spricht vom Gesetz, das keine Erlösung zustande bringen konnte.

2. Die prophetische Bedeutung des Buches Ruth10

Allein schon die Tatsache, dass das Buch Ruth mit einem Geschlechtsregister endet, das von Perez (dem Sohn der Tamar) bis auf David geht, zeigt, dass das Buch nicht nur historischen und praktischen Wert hat, sondern dass es vor allem eine prophetische Bedeutung hat. Die Periode im Geschlechtsregister umfasst die komplette Zeit der Geschichte Israels von der Sklaverei in Ägypten bis zur Königsherrschaft Davids, die ein Bild der Herrschaft des Herrn Jesus im Tausendjährigen Reich ist. So sehen wir in diesem Geschlechtsregister die zwei Phasen der Geschichte Israels angedeutet: erstens den nationalen Abfall Israels und die Tatsache, dass sie Gott verlassen haben. Davon spricht die Reise Elimelechs nach Moab. Zweitens die Wiederherstellung und den Segen durch den Erlöser, der in Boas vorgestellt wird.

2.1. Ein prophetischer Überblick

Noomi ist ein Bild des Volkes Israel, das aufgrund von Untreue und Fehlverhalten alle Anrechte und Ansprüche auf den Segen und das Erbe Gottes verloren hat. Trotzdem wird Gott sich seines irdischen Volkes erbarmen und sie einmal in ihr Erbteil bringen, das sie verloren haben. Das wird im Tausendjährigen Reich der Fall sein. Es wird einen Überrest geben, der die von Gott zugesagten Segnungen genießen wird und der vor allen Dingen – unter großen inneren Übungen11 – dahin kommt, den Messias selbst zu erkennen. Dieser Überrest wird uns in Ruth vorgestellt. Wichtig ist dabei, dass Gott nicht auf der Grundlage eigener Verdienste gibt, sondern ausschließlich auf der Grundlage bedingungsloser Gnade.

Es gibt vier Hauptpersonen im Buch Ruth, die alle etwas mit dem Familienerbe zu tun haben, das verloren zu sein schien. Das erinnert daran, dass Israel auf dem Boden des Gesetzes jedes Anrecht verloren hat. Das Erbe musste am Ende durch Boas ebenso gelöst werden wie Ruth selbst.

  1. Elimelech: Er verließ das Land seines Erbes und zog nach Moab. Das symbolisiert Israel von den Tagen der Richter an. Sie haben den lebendigen Gott verlassen und sich an die Götzen fremder Nationen gehängt. Für einen vermeintlichen zeitlichen Vorteil gab Elimelech sein Erbe auf und verachtete es. Er hörte auf, Gott zu dienen und Ihn anzubeten. Genau das wirft Gott seinem Volk vor: „Und sie verschmähten das kostbare Land, glaubten nicht seinem Wort“ (Ps 106,24). „Hat irgendeine Nation die Götter vertauscht? Und doch sind sie nicht Götter; aber mein Volk hat seine Herrlichkeit vertauscht gegen das, was nichts nützt“ (Jer 2,11). „Denn zweifach Böses hat mein Volk begangen: Mich, die Quelle lebendigen Wassers, haben sie verlassen, um sich Zisternen auszuhauen, geborstene Zisternen, die kein Wasser halten“ (Jer 2,13). Elimelech starb als Folge seiner falschen Entscheidung, und seinen Söhnen erging es nicht anders. Alle drei waren von großer Schwäche gekennzeichnet. Somit war alles völlig hoffnungslos. Das Erbteil im Land der Verheißung schien endgültig verloren zu sein. Elimelech war von Unglauben gekennzeichnet. Er agierte nach dem, was er sah, ohne Vertrauen auf einen Gott. Dieser Unglaube ist für das Volk Israel ebenfalls kennzeichnend.
  2. Noomi: Sie ging mit ihrem Mann nach Moab, und in ihr setzt sich die Geschichte fort. Als ihr Mann starb, blieb sie als Witwe übrig und lebte kinderlos und arm. Darin erkennen wir ein Bild Israels als Witwe. Die „Liebliche“ wurde zu einer „Verbitterten“. Gott sagt über sein Volk in diesem Zustand: „Rechtet mit eurer Mutter, rechtet – denn sie ist nicht meine Frau, und ich bin nicht ihr Mann“ (Hos 2,4). „Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist einer Witwe gleich geworden die Große unter den Nationen! Die Fürstin unter den Landschaften ist fronpflichtig geworden“ (Klgl 1,1). Dieser Zustand dauert lange an. „Und ich sprach zu ihr: Du sollst mir viele Tage so bleiben, du sollst nicht huren und keinem Mann angehören; und so werde auch ich dir gegenüber tun“ (Hos 3,3). In Jesaja 54,6 wird Israel mit einer „verlassenen und im Geist betrübten Frau“ verglichen, mit einer „Frau der Jugend, wenn sie verstoßen ist“. Alles scheint völlig hoffnungslos zu sein.
  3. Ruth: In Ruth setzt sich die Geschichte Israels fort. Sie war selbst Witwe und im ganzen Buch Ruth eng mit Noomi verbunden. Damit ist sie ein treffliches Bild von dem Überrest Israels, der durch Gnade das Erbteil zurückbekommt. Orpa, ihre Schwägerin, ging zurück nach Moab. Nur Ruth kehrte mit Noomi um. Es wird nur ein Überrest sein, der in den Segen des Reiches kommen wird. Ruth war eine Fremde und hatte keine Rechte. Wenn Israel einmal gesegnet wird, ist das nicht aufgrund irgendeines Anrechtes. Es gibt keine Rechte für Israel. Die Annahme Israels durch den Messias wird reine Gnade sein.
    Ruth stellt also den Überrest aus Israel dar, aber nicht als Nation, wie sie von allen anderen Nationen unterschieden und von Gott berufen waren, sondern als ein Volk, das alle Anrechte verloren hat und von Gott nicht mehr als Volk anerkannt wird. In Hosea 1,9 lesen wir: „Gib ihm den Namen Lo-Ammi; denn ihr seid nicht mein Volk, und ich will nicht euer sein.“ So weit war es gekommen. Das „erste“ der Völker war zum „letzten“ der Völker geworden. Das „Haupt“ war zum „Schwanz“ geworden (5. Mo 28,44). Doch dann lesen wir in Hosea 2,1: „Doch die Zahl der Kinder Israel wird sein wie der Sand des Meeres, der nicht gemessen und nicht gezählt werden kann; und es wird geschehen, an dem Ort, wo zu ihnen gesagt wurde: ‚Ihr seid nicht mein Volk!‘, wird zu ihnen gesagt werden: ‚Kinder des lebendigen Gottes‘“. Das bringt die Gnade zustande, und das sehen wir in Ruth vorgeschattet. Am Ende hielt sie einen Sohn in den Armen und es bewahrheitete sich, was Psalm 113,9 sagt: „Der die Unfruchtbare des Hauses wohnen lässt als eine fröhliche Mutter von Söhnen.“
  4. Boas: Die Person von Boas wird uns noch besonders beschäftigen. Es ist völlig klar, dass er hinweist auf den Erlöser, von dem besonders Jesaja häufig spricht12 und der einmal sein Volk und sein Erbteil erlösen und freikaufen wird. Ruth hörte die Worte Boas: „Und nun, meine Tochter, fürchte dich nicht! Alles, was du sagst, werde ich dir tun“ (Kap 3,11). Das passt zu dem Propheten Jesaja, durch den Gott seinem Volk immer wieder sagen lässt: „Fürchte dich nicht“. Eine besonders treffende Aussage ist die in Kapitel 54,4: „Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden, und schäme dich nicht, denn du wirst nicht zuschanden werden; sondern du wirst die Schmach deiner Jugend vergessen und dich an die Schande deiner Witwenschaft nicht mehr erinnern. Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann – Herr der Heerscharen ist sein Name –, und der Heilige Israels ist dein Erlöser: Er wird der Gott der ganzen Erde genannt werden.“
    Sobald der Sohn geboren ist, weist der Heilige Geist auf David hin (Kap 4,17). Es ist naheliegend, nicht nur an den historischen David, sondern an den wahren David – den Messias und Erlöser13 – zu denken. Das erinnert an die Weissagung aus Micha 5,1–3: „Und du, Bethlehem-Ephrata, zu klein, um unter den Tausenden von Juda zu sein, aus dir wird mir hervorkommen, der Herrscher über Israel sein soll; und seine Ursprünge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her. Darum wird er sie hingeben bis zur Zeit, da eine Gebärende geboren hat; und der Rest seiner Brüder wird zurückkehren zu den Kindern Israel. Und er wird dastehen und seine Herde weiden in der Kraft des Herrn, in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden wohnen; denn nun wird er groß sein bis an die Enden der Erde.“ W. J. Hocking schreibt: „Boas ist der Erlöser oder Blutsverwandte, der das verloren gegangene Erbe wiederherstellt. Er ist ein Bild von Christus selbst, der in seiner Auferstehungsmacht und seinem persönlichen Recht die „zuverlässigen Gnaden Davids“ (Apg 13,34) für sein irdisches Volk sicherstellt.“14

A. C. Gaebelein fasst wie folgt zusammen: „Noomi repräsentiert Israel im Unglauben, verwitwet und verbittert. Ruth ist ein Bild des Überrestes, der gerufen und in Gnade angenommen wird (wie der Sünder aus den Nationen). Der Überrest identifiziert sich mit dem Ruin Israels, so wie Ruth sich mit Noomi identifizierte. Der verwandte Löser ist ein Bild von Christus als Erlöser. Er heiratet Ruth und nimmt damit die Bitterkeit Noomis weg und verwandelt sie in Freude.“15

Eine noch bessere Zusammenfassung gibt uns die Bibel selbst in Jesaja 54,1–10. Dort finden wir Noomi, das Volk Israel, in dem Bild der vereinsamten und kinderlosen Witwe wieder, in der Frau, die von Gott wegen ihrer Untreue verstoßen wurde. Zugleich finden wir Ruth, den Überrest, von dem Gott sagt: „Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann – der Herr der Heerscharen ist sein Name – und der Heilige Israels ist dein Erlöser“ (Vers 5). Diesen Erlöser sehen wir im Buch Ruth in der Person von Boas. Gott sagt: „Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen will ich dich sammeln. ... Mit ewiger Güte werde ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“ (Verse 7.8). Dann wird die Kinderlose, die Unfruchtbare (Noomi und Ruth), in Jubel ausbrechen, „denn die Kinder der Vereinsamten sind zahlreicher als die Kinder der Vermählten, spricht der Herr“ (Vers 1). Das sehen wir am Ende des Buches Ruth, wo Boas und Ruth heiraten und dadurch der Noomi ein Sohn geboren wird (Kapitel 4,17). In dem Überrest wird Israel fruchtbar werden, wenn es durch den Messias in den Segen des Tausendjährigen Reiches gebracht wird. Dann gehen die Worte aus Psalm 22,32 in Erfüllung: „Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkünden einem Volk, das geboren wird, dass er es getan hat.“

2.2. Ruth – kein Bild von der Versammlung (Gemeinde)16

Es gibt eine Reihe von Kommentaren zum Buch Ruth, in denen die oben aufgezeigte prophetische Linie in dieser Form nicht zu finden ist. Stattdessen wird Ruth als Bild – oder Hinweis – auf die Versammlung Gottes gesehen, die jetzt in der Zeit der Gnade auf dieser Erde existiert. Auf den ersten Blick scheint das plausibel zu sein, denn so wie Ruth eine Fremde war, sind wir es ebenso. Epheser 2 spricht davon, dass wir „fern“ waren und nun „nahe“ geworden sind. Wie Ruth sind wir erlöst und erkauft. Der Gedanke an den Kaufmann, der schöne Perlen suchte und dann hinging und alles verkaufte, um die eine Perle zu besitzen (Mt 13,45.46), liegt ebenfalls nahe. Die Vereinigung von Boas und Ruth am Ende der Geschichte könnte ebenso als Hinweis auf die Vereinigung von Christus mit seiner himmlischen Braut gelten.

Dennoch sollten wir es nicht bei einem ersten Blick belassen und sollten mit schnellen Rückschlüssen vorsichtig sein. Beim näheren Hinschauen wird klar, dass Ruth – im Gegensatz zu Asnath, der Frau Josephs, – kein Bild von der Versammlung ist. Wenn wir dieser verkehrten Interpretation folgen, gehen wir an dem eigentlichen Gedanken des Buches Ruth vorbei. Ruth ist – wie oben gezeigt – ein Hinweis auf den jüdischen Überrest.17

Es gibt in der Tat eine Reihe von Gründen, warum Ruth nicht von der Versammlung, sondern von Israel spricht:

  1. Ruth steht durchweg von Anfang bis zum Ende des Buches in enger Verbindung mit Noomi. Sie nimmt sozusagen ihren Platz ein, denn in ihr geht die Geschichte Noomis weiter. Die beiden Frauen zeigen uns die beiden Phasen in der Geschichte Israels. Zuerst hat Israel Gott verlassen und sich den Nationen zugewandt. Sie haben alle Anrechte auf das Erbteil verloren (Noomi). Auf der Grundlage der Gnade wird Gott den Überrest annehmen (Ruth). Ruth nimmt Noomis Platz ein. Die Versammlung hingegen nimmt nie den Platz Israels ein. Es ist nicht in Übereinstimmung mit der Lehre des Wortes Gottes, die Versammlung als „geistliche Fortsetzung“ Israels zu bezeichnen. In Noomi kann es keine Frucht (Nachkommen) mehr geben. Die Frucht kommt aus Ruth. Dennoch wird das Kind, das am Ende durch Ruth geboren wird, Noomi zugeschrieben (Kap 4,17). Es ist der Segen Israels, der dem Überrest gegeben wird. Der Augenblick kommt, wo sie als Nation gesegnet werden. Das jedoch nur, weil ein kleiner Überrest aus ihnen zu Christus umkehrt und sich Ihm zuwendet.
    Die enge Verbindung von Ruth und Noomi wird besonders bei der Rückkehr nach Bethlehem deutlich. Kapitel 1,22 sagt ausdrücklich, dass Ruth nach Bethlehem zurückkehrte, obwohl sie offensichtlich vorher nie dort war. Das kann man nur prophetisch verstehen. Ruth wird hier völlig mit Noomi identifiziert, die tatsächlich zurückkehrte. Wenn man Ruth mit der Versammlung verknüpft, kann man diesen Vers nicht erklären.
  2. Noomi und Ruth haben gemeinsam, dass sie Witwen sind. Allerdings ist Ruth eine Moabiterin – und das ist der große Unterschied. Als Moabiterin war sie eine Fremde und hatte keine Ansprüche zu stellen. Sie war auf Gnade angewiesen. Das spricht von Israel in der Zukunft. Das Volk Israel hat kein Anrecht und ist ganz und gar von Gnade abhängig. Es ist ein „Überrest nach Auswahl der Gnade“ (Röm 11,5). Die Versammlung hingegen wird nie als Witwe bezeichnet.18 Der Ausdruck Witwe steht in den prophetischen Schriften mit Israel und dem Überrest in Verbindung (Jes 54,4.5; Jes 62,2–5). Das ist ein wichtiges Argument gegen die Ansicht, Ruth spreche von der Versammlung.
  3. Das Thema „Gnade“ und „Barmherzigkeit“ führt uns zu dem Propheten Hosea, aus dem wir bereits weiter oben zitiert haben. Hosea beschreibt das Volk Israel als ein Volk, das Gott nicht mehr „sein Volk“ nennt. Zweimal nennt Er das Volk „Lo-Ammi“ (Hos 1,9; 2,25). Das bedeutet „nicht mein Volk“. Dreimal nennt Er es „Lo-Ruchama“ (Hos 1,6.8; 2,25). Das bedeutet „nicht Begnadigte“ oder „nicht Erbarmen“. Israel ist jetzt in dem Zustand von „Lo-Ruchama“ (Noomi). Erst der kommende Überrest (Ruth) wird angenommen werden und dann Gnade und Barmherzigkeit empfangen (Hos 2,25) und wieder Gottes Volk sein. Es ist bemerkenswert, dass das hebräische Wort für Gnade in Ruth 2,10 aus der gleichen Wurzel stammt wie das Wort Ruchama im Propheten Hosea.
  4. Der nähere Verwandte (Löser), den wir vor allem in Kapitel 4 finden, ist ein treffliches Bild von dem Gesetz. Er hatte das erste Recht zu lösen, doch er konnte es nicht. Das Gesetz vom Sinai war niemals fähig, Israel wieder in das Erbteil zu bringen, noch dem Toten Samen zu erwecken. Das kann nur die Gnade. Der Segen Israels war eindeutig im Gesetz verankert und an das Gesetz gebunden, doch durch das Fehlverhalten Israels (Elimelech) verloren gegangen. Die Versammlung hingegen ist nie unter Gesetz gewesen. Das Gesetz verbindet sich mit Israel, nicht mit der Versammlung.

Viele Einzelheiten des Buches Ruth werden uns unverständlich bleiben, wenn wir den Gedanken der Versammlung hineinbringen und Ruth nicht als Bild des Überrestes aus Israel sehen, der Gnade empfängt. Die Geschichte von Ruth illustriert zuerst die Liebe zwischen dem Herrn und seinem irdischen Volk, so wie der Überrest Israels sie in der Zukunft genießen wird. Wir sollten nicht der Gefahr erliegen, Israel etwas von seinem Teil zu „rauben“, in dem wir alles in der Bibel unmittelbar auf die Versammlung beziehen.

Davon unbenommen bleiben viele praktische Lektionen, die wir aus dem Buch lernen können, und Segnungen, die mit dem wahren Boas verbunden sind.

3. Die praktische Bedeutung des Buches Ruth19

Neben der historischen und prophetischen Bedeutung des Buches finden wir eine Fülle moralischer und geistlicher Unterweisungen für uns. Obwohl Ruth kein Bild von der Versammlung als Braut Christi ist, können wir doch vieles, was über sie gesagt wird, praktisch auf uns übertragen. Wenn wir an Noomi und Ruth denken, lernen wir, wie Gott in dem Herrn Jesus auf den krummen Lebenslinien eines Menschen immer noch gerade schreiben kann. Wir sehen die Treue und das gnädige Eingreifen Gottes.

In der praktischen Anwendung auf uns sehen wir in Elimelech das Bild eines Gläubigen, der die Gemeinschaft mit seinem Herrn verlassen hat. In Noomi sehen wir die wiederherstellende Gnade im Leben eines Gläubigen. Es gibt immer einen Weg zurück. Die Gnade stellt uns wieder her. Orpa gibt uns das traurige Bild eines Menschen, der in Kontakt mit der göttlichen Wahrheit war, die ersten richtigen Schritte eingeleitet hat, aber nicht zur Entscheidung gekommen ist. Ruth hingegen ist das Bild eines – jung bekehrten – Gläubigen, der in der Beschäftigung mit dem Wort Gottes den Herrn Jesus besser kennenlernt und dadurch in eine enge persönliche Beziehung zu Ihm gebracht wird. Boas ist – wie wir schon gesehen haben – ein herrliches Bild von unserem Herrn, der uns in seiner unbegreiflichen Gnade begegnet ist, der uns erlöst hat, der uns segnet und uns in die engste persönliche Verbindung mit sich selbst bringt, die wir uns nur denken können.

Das Buch Ruth behandelt eine Vielzahl von praktischen Themen, die mit dem Alltagsleben des Christen zu tun haben. Sie betreffen u. a. das persönliche Leben, das Familienleben, das Berufsleben und den Dienst für den Herrn. Einige Beispiele seien exemplarisch genannt:

3.1. Lektionen für das Glaubensleben

  • Die traurigen Folgen falscher Entscheidungen und Wege
  • Die Möglichkeit der Umkehr
  • Fleiß und Eifer im Lesen des Wortes Gottes
  • Hingabe an den Herrn Jesus
  • Abhängigkeit und Gehorsam von unserem Herrn
  • Über die Beschäftigung mit dem Segen lernen wir den Segnenden kennen
  • Gott erzieht seine Kinder aus Liebe. Er lässt uns nicht dauerhaft gehen

3.2. Lektionen für das Familienleben

  • Das Vorbild der Eltern
  • Falsche Entscheidungen der Eltern haben in der Regel fatale Folgen für Kinder
  • Gutes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern (Schwiegerkindern)
  • Aufgaben für Großmütter
  • Im Geben und Annehmen guter Ratschläge liegt Segen
  • Im Teilen mit anderen liegt ebenfalls Segen

3.3. Lektionen für das Berufsleben

  • Respekt vor Vorgesetzten
  • Fleißig arbeiten
  • Ein aufmerksames Auge für Mitarbeiter haben

3.4. Lektionen für den Dienst für unseren Herrn

  • Die Aufgaben im Dienst für den Herrn sind verschieden
  • Auf die Weisung des Herrn und des Heiligen Geistes achten
  • Auf solche achten, die am Rand stehen
  • Arbeiten hat seine Zeit und Ausruhen hat seine Zeit
  • Gott wünscht fleißige Arbeiter
  • Im gemeinsamen Arbeiten liegt große Freude
  • Der Herr belohnt jede Treue. Er gibt vollen Lohn

3.5. Der Umgang mit Gottes Wort

  • Fleißig lesen
  • Auf die Schnitter achten (von solchen profitieren, die das Wort auslegen)
  • Wir bekommen immer mehr, als wir nötig haben und essen können (der Herr gibt reichlich)
  • Nicht auf andere „Felder“ gehen, weil das gefährlich sein kann
  • Mit anderen Gemeinschaft haben über Gottes Wort
  • Das, was wir selbst gelernt haben, mit anderen teilen

3.6. Lektionen in Verbindung mit der Umkehr eines Menschen

  • Vater, Mutter und Land verlassen (2,11)
  • Sich nicht von anderen aufhalten lassen (Orpa konnte Ruth nicht aufhalten)
  • Liebe zum Weg, zum Erbteil, zum Volk, zu Gott selbst
  • Es geht nicht nur um das, was wir bekommen, sondern darum, eine Person kennenzulernen und in ihr alles zu finden, was wir nötig haben
  • Wenn wir den Herrn kennenlernen, finden wir Gnade, werden getröstet und Er redet zu unseren Herzen (2,13)

3.7. Sonstige Lektionen

  • Warten auf das, was der Herr tut. Ruth durfte nicht zu ungeduldig sein (3,13.18 u. a.)
  • Es ist wichtig, ein gutes Zeugnis bei unseren Mitbewohnern zu haben (3,11)
  • Wenn der Herr ein Werk beginnt, bringt Er es sicher zu Ende – in der Erlösung und auch sonst (3,18)
  • Ruhe gibt es nur bei unserem Herrn. Sonst nirgends

4. Boas – ein Bild von unserem Herrn

Es ist eine Frage, wen man als Hauptperson im Buch Ruth bezeichnen will. Spontan möchten wir vielleicht Ruth nennen, die arme Moabiterin, die am Ende das Glück ihres Lebens findet. Wir mögen an Noomi denken, die durch tiefe Prüfungen und Not geht, bevor es in ihrem Alter wieder hell wird. Doch die eigentliche Hauptperson ist ohne Frage Boas. Ohne ihn hätte es weder für Ruth noch für Noomi einen guten Ausgang gegeben. Deshalb lohnt es sich, diesen Mann, der ein treffliches Bild von unserem Herrn Jesus ist, etwas näher zu besehen.

Boas wird zum ersten Mal in Kapitel 2,1 erwähnt. Dort wird er vorgestellt als ein Verwandter von Elimelech, ein vermögender Mann. Kapitel 2 zeigt uns, dass er derjenige ist, der allen Bedürfnissen von Ruth entsprechen kann. In Kapitel 3 und 4 sehen wir ihn dann besonders in seiner Erlöserherrlichkeit.

4.1. Boas, ein vermögender Mann

Kapitel 2 erwähnt drei Dinge in Verbindung mit Boas:

  1. Er trägt den Namen Boas: Wir haben bereits gesehen, dass die Bedeutung des Namens lautet: „In ihm ist Stärke“. Damit steht er in deutlichem Kontrast zu Ruth und Noomi. Beide waren arme Witwen und damit der Inbegriff von Schwäche und Elend. Sie hatten keine Rechte und konnte nichts einfordern. Sie waren vielmehr darauf angewiesen, die Ränder der Felder abzusuchen und darauf zu hoffen, dass man sie gewähren ließ. Demgegenüber ist in Boas alle Kraft zu finden. Das erinnert an unseren Herrn, dem als dem Auferstandenen alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf der Erde (Mt 28,18). Er ist jetzt zur Rechten Gottes erhoben „über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird“ (Eph 1,21). So dürfen wir Ihn jetzt sehen, so dürfen wir Ihn kennen und lieben. So wird Er einmal zugunsten von Israel eingreifen und für das arme Volk alles gut machen.
  2. Er ist ein Verwandter von Noomi, aus dem Geschlecht Elimelechs: Das erinnert daran, dass der Herr Jesus Mensch geworden ist. Er wurde von einer Frau geboren, und zwar unter Gesetz. Römer 9,5 sagt: „... aus denen (Israeliten), dem Fleisch nach, der Christus ist“. Der Schreiber des Hebräerbriefes erklärt: „Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen“ (Heb 2,14). Beide Verse beziehen sich zunächst auf Israel, wobei wir natürlich besonders in Hebräer 2 ebenso an uns denken. In seiner Verwandtschaft zu Elimelech liegt zugleich sein Recht, Löser zu sein. So musste der Herr Jesus, um für Israel der Löser (Erlöser) zu werden, Mensch werden. Gleiches gilt im Blick auf uns. Der eine Mittler zwischen Gott und Menschen ist niemand anderes als der „Mensch Christus Jesus“ (1. Tim 2,5). Um Menschen an dem Segen Gottes teilhaben zu lassen – sei es Israel oder wir –, hat der Herr Jesus sich unendlich tief erniedrigt und ist Mensch geworden.
  3. Er ist ein vermögender Mann: Sein Vermögen lag zum einen in seinem Reichtum. Boas hatte ein großes Vermögen und war so in der Lage, das Lösegeld zu bezahlen. Das erinnert an unseren Herrn, dessen Reichtum unergründlich ist (Eph 3,8). Diesen Reichtum lernte Ruth auf dem Feld des Boas kennen. Nicht nur das: Sie kam mit dem in Verbindung, dem dieser Reichtum gehörte. Zum anderen war Boas in dem Sinn vermögend, dass er alles vermochte. Er war mächtig und einflussreich und deshalb in der Lage, alles für Ruth zu tun, was notwendig war – und darüber hinaus. Der andere Löser, der später in Kapitel 4 erwähnt wird, musste sagen: „Ich kann nicht für mich lösen“ (Kapitel 4,6). Christus allein war in der Lage, eine vollkommene Erlösung zu vollbringen. Diese Erlösung gilt für Israel im Blick auf die Erde. Sie gilt für uns im Blick auf den Himmel.
    Der große Unterschied zwischen Boas und den beiden Frauen fällt erneut auf. Die beiden „vermochten“ gar nichts, sie waren völlig „unvermögend“, doch in Boas fanden zuerst Ruth und später dann Noomi alles, was sie nötig hatten – und sie fanden mehr als das.

4.2. Der (Er)Löser

Das Buch Ruth ist das „Buch der Erlösung“ genannt worden, weil häufig von „lösen“ (eig. erlösen) die Rede ist. Boas war ein „Blutsverwandter“ von Elimelech. Das Wort „Blutsverwandter“ bedeutet eigentlich „Löser“ (Erlöser). Es wird ebenalls mit „rächen“, „zurückkaufen“, „freimachen“ oder „beanspruchen“ übersetzt. Es kommt im Buch Ruth über zwanzigmal vor.20 Das dritte Buch Mose spricht ebenfalls häufig vom „Lösen“. Gott hatte im Gesetz detaillierte Vorschriften dazu gegeben. Es geht dabei um Anordnungen, die mit dem Familienrecht in Israel zu tun hatten und die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern regelten. Das Buch Ruth zeigt uns an einem Beispiel, wie diese Anordnungen umgesetzt werden konnten.

Insgesamt unterscheidet das Gesetz vier Fälle, von denen die ersten beiden im Buch Ruth relevant sind.

  1. 1. In 3. Mose 25 wird gesagt, dass es die Aufgabe des Lösers – des Verwandten – war, das Erbteil eines Israeliten zurückzukaufen (zu lösen), wenn er verarmt war und seinen Grund und Boden deshalb verkauft hatte. Das Erbteil sollte freigekauft und dem ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden. Die Begründung dafür lautet, dass das Land letztlich dem Herrn gehörte. Für Israel wird das in der Zukunft erfüllt werden. Gott wird das Land für sie freikaufen und lösen. Davon spricht der Prophet Jesaja: „Denn du bist unser Vater; denn Abraham weiß nicht von uns, und Israel kennt uns nicht; du, Herr, bist unser Vater; unser Erlöser von alters her ist dein Name. Warum, o Herr, lässt du uns von deinen Wegen abirren, verhärtest unser Herz, dass wir dich nicht fürchten? Kehre zurück um deiner Knechte willen, der Stämme deines Erbteils! Für eine kurze Zeit hat dein heiliges Volk es besessen: Unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten“ (Jes 63,16–18).
  2. In 5. Mose 25 geht es um die sogenannte „Schwagerehe“. Wenn ein Mann starb und seine Frau kinderlos zurückblieb, sollte der Bruder des Verstorbenen die Witwe heiraten und ihr „Samen erwecken“, d. h. für Nachkommen sorgen. In diesem Sinn löste er die Frau seines Bruders von ihrer Kinderlosigkeit. Deshalb wird von dem geborenen Sohn der Ruth in Kapitel 4,17 gesagt, dass er der Sohn der Noomi war. In 5. Mose 25 steht zwar nichts von Lösen, aber im Buch Ruth finden wir, dass dieser Vorgang ein „Lösen“ war. Jesaja 54,5ff. erwähnt Löser und Gatten in einem Vers zusammen. Der Prophet Jesaja schreibt: „Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann – Herr der Heerscharen ist sein Name –, und der Heilige Israels ist dein Erlöser: Er wird der Gott der ganzen Erde genannt werden. Denn wie eine verlassene und im Geist betrübte Frau ruft dich der Herr – und wie eine Frau der Jugend, wenn sie verstoßen ist, spricht dein Gott. Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen will ich dich sammeln. Im Zornesausbruch habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Güte werde ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“ (Jes 54,5–8).
  3. In 3. Mose 25,47 wird der Fall beschrieben, dass ein Hebräer zum Sklaven eines Ausländers (Fremden) geworden war und sich ihm verkauft hatte. Es war dann die Aufgabe des Lösers, ihn freizukaufen. Das wird im Blick auf Israel ebenso wahr werden. Gott wird sie aus der Hand aller Bedränger befreien und sie lösen. Dann werden die Befreiten des Herrn „zurückkehren und nach Zion kommen mit Jubel, und ewige Freude wird über ihrem Haupt sein; sie werden Wonne und Freude erlangen, Kummer und Seufzen werden entfliehen“ (Jes 51,11).
  4. In 4. Mo 35 und 5. Mose 19 ist die Rede von Schuld durch Totschlag (nicht Mord). Gott gibt die Anweisungen über die Zufluchtsstädte im Land. Jemand, der seinen Bruder versehentlich getötet hatte, hatte die Möglichkeit, in eine dieser Städte zu fliehen, um so dem „Bluträcher“ (eigentlich „Blutlöser“, denn Rächer ist das gleiche Worte wie Löser oder Erlöser) zu entkommen. Die Aufgabe des „Bluträchers“ war es, die Schuld zu lösen, indem er den Totschläger umbrachte. Auf diese Weise wurde die Schuld eingelöst, in die jemand gekommen war. Im Blick auf Israel finden wir das in Jesaja 47. Dort heißt es von Babel: „... aufgedeckt werde deine Blöße, ja, gesehen werde deine Schande! Ich werde Rache nehmen und Menschen nicht verschonen. Unser Erlöser, Herr der Heerscharen ist sein Name, der Heilige Israels!“ (Jes 47,3.4).

Es fällt auf, dass das Wort „Löser“ im 3. Buch Mose, im Buch Ruth und im Propheten Jesaja mit Abstand am häufigsten vorkommt. Das 3. Buch Mose gibt die Vorschriften, das Buch Ruth zeigt ein praktisches Beispiel und der Prophet Jesaja die Erfüllung. Dabei denken wir bei der Erfüllung zuerst an die prophetische Seite im Blick auf Israel. Im Tausendjährigen Reich wird Gott sie aus der Knechtschaft ihrer Feinde erlösen und ihnen das verloren gegangene Erbteil zurückgeben. Er wird sich aufs Neue mit Israel vermählen, so wie Boas Ruth geheiratet hat.

Wir übersehen dabei nicht, dass es eine praktische Anwendung auf uns gibt. Der Herr Jesus hat uns erlöst (1. Pet 1,18). Dafür hat Er den hohen Preis bezahlt, den niemand als nur Er bezahlen konnte. Wir gehören heute zu den glücklichen Erlösten des Herrn. In Ihm sind wir zu Erben Gottes geworden. Wir werden mit Ihm über alle Werke der Hände Gottes herrschen. Gott hat uns den Heiligen Geist gegeben, der „das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes, zum Preise seiner Herrlichkeit“ (Eph 1,14). Er wird den Feind vernichten (Heb 2,14), den Er am Kreuz bereits besiegt hat. Er ist Mensch geworden und hat dem Teufel die Macht des Todes genommen. Er wird uns Frucht bringen lassen, die Er bei uns findet, die wir einst tot waren und jetzt Gegenstände der Gnade geworden sind.

Nicht jeder in Israel war qualifiziert dazu, Löser zu sein. Es gab mindestens drei Voraussetzungen oder Bedingungen, die erfüllt sein mussten:

  1. Der Löser musste ein Recht haben zu lösen: Es musste ein (naher) Verwandter dessen sein, der gelöst werden sollte. Wir sehen das bei Boas und bei dem „näheren Blutsverwandten“ im Buch Ruth. Wenn wir an den Herrn Jesus denken, war es unbedingt erforderlich, dass Er Mensch wurde, um Menschen erlösen zu können (vgl. Heb 2,14).
  2. Der Löser musste fähig sein zu lösen: Er musste das Lösegeld bezahlen können. Boas konnte zahlen, und wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass der andere ebenfalls zahlen konnte. Wenn wir wiederum an den Herrn Jesus denken, so wissen wir, dass Er den höchsten Preis gezahlt hat, den Er zahlen konnte – sein eigenes Blut (vgl. 1. Pet 1,18.19).
  3. Der Löser musste willens sein zu lösen: Er musste die Bereitschaft dazu mitbringen. Boas wollte das Erbteil und Ruth lösen. Der andere Blutsverwandte war wohl an dem Erbe interessiert, jedoch nicht an Ruth. Deshalb sagte er: „Ich kann nicht für mich lösen, dass ich mein Erbteil nicht verderbe“ (Kap 4,6). Darin erkennen wir unschwer ein Bild des Gesetzes. Es ist dem Gesetz unmöglich, Menschen zu erlösen (Röm 8,3). Unser Herr war – wie Boas – bereit zur Erlösung. Was Er tat, tat Er aus Liebe (Gal 2,20).

So finden wir in dem Löser im Buch Ruth ein herrliches Bild von dem Herrn Jesus in seiner Erlöserherrlichkeit. Er ist der wahre Löser, unser Heiland und Erlöser!

5. Einteilung und Gliederung

Man kann das Buch auf unterschiedliche Weise einteilen. Denken wir an Ruth selbst, können wir die vier Kapitel wie folgt zusammenfassen:

  • Kapitel 1 zeigt Ruth als eine Fremde, die unterwegs ist und eine wichtige Entscheidung trifft
  • Kapitel 2 zeigt Ruth als Ährenleserin, die mit großem Fleiß auf dem Feld arbeitet und gesegnet wird
  • Kapitel 3 zeigt Ruth als eine Bittende, die auf der Tenne von Boas ist und dort auf seine Anweisung wartet
  • Kapitel 4 zeigt sie als Ehefrau und Mutter, die bei Boas ihre Erfüllung findet

Anders ausgedrückt können wir sagen: Kapitel 1 zeigt die Glaubensentscheidung von Ruth, Kapitel 2 ihren Wachstumsprozess, der sich in den Kapiteln 3 und 4 fortsetzt, bis sie schließlich die Frau von Boas wird und damit in die engste Verbindung mit ihm gebracht wird.

Aus göttlicher Sicht finden wir in Kapitel 1 die rettende Gnade, in Kapitel 2 die unterweisende Gnade, in Kapitel 3 die ruhebringende Gnade und in Kapitel 4 schließlich die Frucht der Gnade.

Wenn man die Ereignisse berücksichtigt, die in den einzelnen Kapiteln mitgeteilt werden, kann man das Buch wie folgt strukturieren:

Kapitel 1: Von Bethlehem nach Moab und zurück

  • Verse 1–5: Eine folgenschwere Entscheidung
  • Verse 6–14: Ruth und Orpa
  • Verse 15–18: Das Glaubensbekenntnis von Ruth
  • Verse 19–22: Zurück in Bethlehem

Kapitel 2: Auf dem Feld von Boas

  • Vers 1: Boas
  • Verse 2–4: Ruth setzt ihre Entscheidung um
  • Verse 4–13: Ruth begegnet Boas
  • Verse 14–16: Pausenzeit
  • Verse 17–23: Ruth kehrt zu Noomi zurück

Kapitel 3: Auf der Tenne von Boas

  • Verse 1–5: Ein guter Rat von Noomi
  • Verse 6–13: Zu den Füßen von Boas
  • Verse 14–18: Sechs Maß Gerste

Kapitel 4: An der Seite von Boas

  • Verse 1–8: Der andere Blutsverwandte
  • Verse 9–12: Ruth wird gelöst
  • Verse 13–17: Boas heiratet Ruth und bekommt einen Sohn
  • Verse 18–22: Von Perez bis David

Fußnoten

  • 1 W. Kelly weist in seiner Einleitung zum Buch Ruth darauf hin, dass es eine alte Tradition gibt, das Buch Ruth als Teil des Buches der Richter anzusehen. Wenn man überhaupt von einem Anhang zu diesem Buch sprechen will, dann sind es die Kapitel 17–21 des Buches der Richter selbst. Sie geben in der Tat eine Rückblende in die Geschehnisse zur Zeit der Richter. Das tut das Buch Ruth zwar in einem gewissen Sinn ebenso, doch in ganz anderer Weise und mit einem ganz anderen Thema (vgl. W. Kelly: The Book of Ruth).
  • 2 J. N. Darby: The Book of Ruth (in: Synopsis of the Books of the Bible)
  • 3 Man mag sich fragen, warum Elimelech gerade Moab auswählte, um dort zu wohnen. Der Grund mag die relative Nähe gewesen sein (eine Distanz von ca. 80 km zwischen Bethlehem und Moab). Denkbar ist, dass das Verhältnis beider Staaten zu diesem Zeitpunkt einigermaßen entspannt war. Im Kriegszustand wäre er sicher nicht dorthin gegangen.
  • 4 W. Kelly: The Book of Ruth
  • 5 H. Rossier: Le Livre de Ruth
  • 6 Einige Ausleger bringen die Hungersnot im Buch Ruth mit der Nahrungsmittelknappheit in der Zeit Gideons in Verbindung und vermuten, die Ereignisse im Buch Ruth hätten sich zu seiner Zeit abgespielt. Diese Ansicht ist jedoch kaum haltbar, weil Gideon einer der ersten Richter war. Außerdem gab es in der Zeit Gideons keine Hungersnot im eigentlichen Sinn, sondern eine Nahrungsmittelknappheit aufgrund der Aggression der Midianiter.
  • 7 Sie sind wiederum ein Teil der sogenannten „Schriften“, zu denen die poetischen Bücher (Psalmen, Hiob, Sprüche), die fünf Megillot und die übrigen Bücher (Daniel, Esra, Nehemia, 1. und 2. Chronika) gehören.
  • 8 W. Kelly: The Book of Ruth
  • 9 Es ist anzumerken, dass die Deutung der Namen nicht immer ganz eindeutig ist. Manchmal ist die Erklärung schwieriger, manchmal sind auch mehrere Varianten der Deutung möglich. Wir denken nur an den Namen Zaphnat Paneach, den Joseph in Ägypten bekam. Er wird mit „Erhalter des Lebens“, „Retter der Welt“ und „Enthüller von Geheimnissen“ erklärt. Interessanterweise passen alle Deutungen sehr gut zu der Rolle, die Joseph in Ägypten einnahm.
  • 10 Der interessierte Leser sei hier besonders auf Auslegungen von W. J. Hocking (The Book of Ruth, in: www.stempublishing.com) und F. W. Grant (The Book of Ruth, in: The Numerical Bible) hingewiesen. Beide Ausleger gehen ausführlich auf die prophetische Seite ein.
  • 11 Diese inneren Seelenübungen finden wir vor allen Dingen in den Psalmen und zum Teil in den Propheten geschildert. Es sind Übungen, die mit tiefen Leiden und mit großer Drangsal verbunden sind. Das Buch Ruth zeigt uns diese Seite nicht so sehr, sondern beschäftigt uns eher mit der positiven Seite der Hinwendung des Überrestes zu seinem Messias.
  • 12 Gott bezeichnet sich im Propheten Jesaja siebenmal als Erlöser Israels – „dein Erlöser“ (41,14; 44,24; 48,17; 49,26; 54,5.8; 60,16).
  • 13 Es ist bemerkenswert, dass der Sohn von Boas und Ruth selbst auch als „Löser“ (Erlöser) bezeichnet wird (Kap 4,14 Fußnote).
  • 14 W. J. Hocking: The Book of Ruth (in: Bible Treasury). Die englische Auslegung zum Buch Ruth ist ausführlich und empfehlenswert.
  • 15 A. C. Gaebelein: The Book of Ruth (in: The Annotated Bible)
  • 16 Im Folgenden wird das Wort „Versammlung“ benutzt. Erstens wird es so in der von mir benutzten überarbeiteten Elberfelder Bibelübersetzung wiedergegeben. Zweitens scheint es tatsächlich die beste Übersetzung des griechischen Wortes (Ekklesia) zu sein. Entscheidend ist ohnehin nicht, welches deutsche Wort man wählt, um „Ekklesia“ zu übersetzen (andere übersetzen mit „Gemeinde“ oder „Kirche“, sondern dass man das Richtige darunter versteht: Ekklesia bedeutet „die Herausgerufene“. Die Versammlung Gottes besteht aus allen wiedergeborenen Christen in der Zeit der Gnade, die mit dem Heiligen Geist versiegelt worden sind.
  • 17 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf eine Ausarbeitung von M. Hardt: Ruth is a type – but not of the Church (in: www.biblecentre.org). Die hier aufgeführten Argumente habe ich mit freundlicher Genehmigung des Verfassers weitgehend übernommen.
  • 18 Die Bezeichnung „Braut“ hingegen wird sowohl für Israel als auch für die Versammlung benutzt. Der Herr Jesus hat eine irdische Braut (Israel) und eine himmlische Braut (die Versammlung). Im Alten Testament lesen wir von Israel als Braut und Frau, im Neuen Testament ist es die Versammlung. Beides ist zu unterscheiden. Wenn es jedoch um die Bezeichnung „Witwe“ geht, so wird nur Israel so genannt.
  • 19 Viele gute Auslegungen zum Buch Ruth behandeln gerade diese praktische Seite (z. B. Hamilton Smith, The Book of Ruth).
  • 20 Eine Ausnahme bildet Kapitel 2,1. Dort wird Boas als „Verwandter“ von Elimelech bezeichnet. Das Wort beschreibt dort jemanden, der einem anderen nahe steht oder mit ihm verbunden ist.