Jesus in der Mitte

Es bewegt uns immer tief, wenn wir die letzten Kapitel der Evangelien untersuchen und über die Leiden, den Tod und die Auferstehung unseres Herrn Jesus nachdenken. Nichts fordert unsere Zuneigungen mehr heraus und führt mehr dazu, dass sich unsere Herzen in Anbetung vor ihm neigen. Er hat uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch (Eph 5,2); und in diesem Höhepunkt hat er alle unsere Sünden richterlich vor Gott beseitigt. Johannes 20 zeigt ihn uns als auferstanden. Der Tod konnte ihn nicht festhalten. Sein Werk war vollbracht, dem Tod war die Macht genommen, Gott war verherrlicht - die Antwort Gottes darauf war seine Auferweckung am dritten Tag mit der Absicht, ihn zur Rechten des Vaters zu verherrlichen.

Nachdem der Heilige Geist uns Einzelheiten von seiner Auferstehung berichtet hat, stellt er uns im Johannes-Evangelium vier bemerkenswerte und belehrende Bilder vor. Als erstes finden wir, wie er sich selbst dem gläubigen jüdischen Überrest in der Person der Maria wieder zu erkennen gibt; wie er ihre Herzen von den irdischen Hoffnungen hinweg darauf lenkt, in welche Beziehungen sie nun durch ihn zu dem Vater gekommen waren, und an welchen Platz er nun zu gehen im Begriff stand. Als zweites sehen wir ihn, wie er sich den versammelten Jüngern offenbart, die hier ein Bild der christlichen Versammlung sind, die sich um ihn schart. Als drittes gibt er sich dem Thomas zu erkennen und beseitigt alle seine Zweifel; ein Zeichen davon, was er bald für die Nation dieses Thomas an einem noch zukünftigen Tag tun wird. Und als viertes und letztes wird an dem See Tiberias bei dem erstaunlichen Fischfang ein Bild der Sammlung der heidnischen Nationen für die Segnungen des tausendjährigen Reiches vorgestellt.

Es ist mein Wunsch, unsere Aufmerksamkeit nun auf das zweite dieser Bilder zu richten. „Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen da, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch!“ (Vers 19). Hier wird uns auf eine bemerkenswerte Weise die christliche Versammlung vorgestellt. Aber möchte kein Leser dies falsch verstehen; wie auffallend deutlich die versammelten Jünger, mit dem Herrn in ihrer Mitte, auch immer von der Versammlung sprechen mögen, sie waren zu dieser Zeit noch nicht die Versammlung Gottes. Die Versammlung als solche existierte nicht eher, als dass Jesus verherrlicht und der Heilige Geist am Pfingsttag herab gesandt worden war. Und selbst dann hatten die Gläubigen noch keine Erkenntnis davon. Das Geheimnis Gottes (Kol 2,2) wurde nicht eher entfaltet, bis der Apostel Paulus zur gegebenen Zeit erweckt wurde. Daher, obwohl diese Jünger hier in Joh 20 einmal die Versammlung Gottes werden sollten, ja, sogar deren erste Glieder sein würden, waren sie es doch an dem Tag, von welchem wir hier sprechen, noch nicht. Trotzdem schatten ihre Stellung und ihre Vorrechte, insbesondere die Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte, die Versammlung auf eine sehr eindrucksvolle Weise vor.

Der Heilige Geist berichtet sehr sorgfältig, dass es der erste Tag der Woche war, an dem Jesus kam und in ihrer Mitte stand. Der Herr drückte damit seine Zustimmung über das Zusammenkommen seiner Heiligen an diesem Tag aus. Und welcher Tag wäre passender gewesen? Im Alten Bund war es der siebte Tag - der Sabbat - der für den Gottesdienst bestimmt worden war. Mögen manche auch annehmen, der Unterschied zwischen dem siebten Tag und dem ersten Tag der Woche sei lediglich geringfügiger Natur und nur eine Frage der Ausdrucksweise, so ist es doch ein Unterschied von grundlegender Bedeutung. Der siebte Tag wurde als das Ende der menschlichen Arbeitswoche eingeführt, er wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des Gesetzes vom Sinai, und die Übertretung des Sabbats zog ernste Konsequenzen nach sich. Der erste Tag der Woche jedoch spricht in keiner Weise von der menschlichen Arbeit, sondern von einer völligen Neuordnung der Dinge, die Gott eingeführt hat und die ihre Grundlage in dem Tod und der Auferstehung des Herrn Jesus haben. Er spricht zu uns davon, dass das Fleisch als nutzlos beiseite gesetzt worden ist, dass die Erlösung vollbracht ist, dass alle Gerechtigkeit erfüllt worden ist, und dass es eine neue Schöpfung gibt, wo alle Dinge von Gott sind. Daher versammeln sich die Gläubigen an diesem Tag, mit Triumph in ihren Herzen, um des Herrn zu gedenken und durch das Brechen des Brotes seinen Tod zu verkündigen bis er kommt.

Gewöhnlich werden diese beiden Tage tatsächlich durcheinander gebracht, als wären sie im Wesentlichen gleich; aber der Unterschied zwischen ihnen ist gewaltig. Der eine ist Judentum, der andere Christentum. Ach! schon sehr früh kam es zu einer Rückkehr zum Judentum mit seinen irdischen Elementen, seinen Festen und Sabbaten. Man braucht nur die Briefe an die Römer und an die Galater zu lesen, um zu sehen, wie ernstlich sich der Apostel der Wirksamkeit dieses Sauerteigs widersetzte. Als aber bei denen, die den Namen des Herrn trugen, die himmlische Berufung und auch die Bedeutung der göttlichen Gnade mehr und mehr aus dem Sinn schwand, machte das Judentum rasche Fortschritte, mit dem Ergebnis, dass sogar in diesen Tagen die große Masse der Christenheit an strengen, gesetzlichen Lehren festhält.

Nun, der Herr kam also am ersten Tag der Woche, dem Tag seiner Auferstehung, in die Mitte seiner Jünger. Beim Studieren der Apostelgeschichte und der Briefe wird man finden, dass dies der feierliche Tag des Zusammenkommens der Versammlung wurde, mögen sie auch andere Gelegenheiten zum Zusammenkommen zur gegenseitigen Erbauung und zum Segen gehabt haben. In Apg 20,7 lesen wir: „Am ersten Tag der Woche aber, als wir versammelt waren, um Brot zu brechen“. Dies war eine Gewohnheit. Sie waren nicht zusammen, um Paulus zu hören, obwohl er sie sogar am nächsten Morgen endgültig verlassen würde, sondern um Brot zu brechen. Es war nicht nur eine örtliche Gewohnheit in Troas, sondern die ständige Übung der Versammlung Gottes in jenen Tagen. Und es war nun an diesem Tag, dass der Herr seinen Platz inmitten der Seinen einnahm. Welche Freude für sie! Können wir dann darüber staunen, dass wir lesen: „Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“? Bedeutet seine gesegnete Gegenwart nicht den Himmel für unsere Seelen? Was wäre selbst die Herrlichkeit, wenn Christus nicht dort wäre? Würden unsere Herzen befriedigt sein, wenn wir dort eingeführt würden, und fänden Christus nicht dort? Nein! Lieber eine armselige Hütte mit Christus, als selbst die Herrlichkeit ohne ihn! Das erneuerte Herz findet seine Freude allein in Christus; unsere Seelen blühen in seiner gesegneten Gegenwart auf.

Die Gegenwart Jesu in der Mitte seiner Heiligen ist heute noch genauso wahr, obwohl er verherrlicht im Himmel ist. Noch immer besitzen wir sein Wort: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). Welch ein Reichtum in den Tagen der Schwachheit und des Versagens! Er hat sich den Seinen gegenüber nicht geändert. Obwohl wir mit demütigen und gebeugten Herzen auf achtzehn Jahrhunderte (der Aufsatz erschien 1897) tiefsten Versagens zurückblicken, ist er solchen gegenüber, die in Einfalt des Glaubens zu ihm aufblicken, genauso treu wie immer. Welch ein Trost! Was wir auch alles nicht haben mögen, wir haben Christus! Ist uns das genug? Sind es Gaben, Vermögen oder Einfluss, was wir suchen, oder ist es wirklich Christus? Ich denke oft, dass der Herr an solche Tage wie heute dachte, als er von den 'zwei oder drei' sprach. In den ersten Tagen der Versammlung gab es keine 'zwei oder drei'; alle Gläubigen waren zusammen. Es waren noch keine Männer aufgestanden, die verkehrte Dinge redeten, noch waren reißende Wölfe hereingekommen, die die Herde nicht verschonten (Apg 20,29.30). Doch wie hat sich der Zustand dieser Dinge jetzt geändert! Und doch bleibt sein Wort bis ans Ende bestehen: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“.

Was unser aller Seelen nötig haben, ist ein tiefes Bewusstsein von seiner Gegenwart. Das würde manche Dinge regeln, die wir vor ihm beklagen müssen. Würden die Heiligen am ersten Tag der Woche spät oder zu spät zu den Zusammenkünften kommen, wenn sie ein Gefühl dafür hätten, dass der Herr dort ist? Zu wem versammeln wir uns? Wem wollen wir begegnen? Wage ich es, ihn warten zu lassen, der sich herablässt, in die Mitte seiner versammelten Heiligen zu kommen? Und weiter, wenn wir versammelt sind, welche heilige Stille würde herrschen, wenn wir uns seiner Gegenwart gebührend bewusst wären! Keine Hast und eifrige Ungeduld, und sicherlich auch keine Wirksamkeit des Fleisches würde uns Kummer bereiten, wenn sich alle Herzen ausreichend der einfachen aber entscheidenden Tatsache bewusst wären, dass der Herr da ist. Dies würde sich in alle Bereiche auswirken - unsere Kleidung, unsere Worte und unser ganzes Benehmen. Der Herr schenke es uns, dass wir unsere Herzen vor ihm prüfen.

Beachte den Platz der Absonderung dieser Jünger. Sie waren eingeschlossen; die Welt - die mörderische, Christus verworfen habende Welt - war ausgeschlossen. Wohl waren es zu diesem Zeitpunkt besondere Umstände, aber der Grundsatz bleibt bestehen. Was hat die Versammlung mit der Welt zu schaffen? Wo lesen wir etwas von all den Gemeinden, die sich mit den Heiligen in 'öffentlichem Gottesdienst' verbinden? Ja, aus welcher Stelle des Wortes Gottes kann man den Gedanken eines 'öffentlichen Gottesdienstes' herauslesen? Wir sind berufen, der Welt gegenüber Zeugnis abzulegen, wir sollen der Welt das Evangelium verkündigen und die Menschen warnen, damit sie dem kommenden Zorn entfliehen; aber Gottesdienst mit der Welt? Fern sei ein solcher Gedanke! In Johannes 13,1 lesen wir von 'den Seinen, die in der Welt waren'. Wenn wir zu dem Kreis gehören, der 'die Seinen' genannt wird, dann gehören wir zwangsläufig nicht zu dem anderen Kreis, 'der Welt'. Diese beiden sind in Natur und Wesen vollkommen unterschiedlich und einander entgegengesetzt.

Die ersten Worte des Herrn zu seinen Jüngern waren: „Friede euch“! wie kostbar, nachdem er sein Werk vollbracht hatte! Er war von dem Kampf zurückgekehrt, der Feind war überwunden, das Werk war getan, und die Gerechtigkeit Gottes war befriedigt worden. Daher kehrt er zu denen zurück, für die er gelitten hat und verkündet das großartige und gesegnete Resultat. Nicht nur das, sondern, „als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite“. Es scheint so, als wollte er sagen: „Seht, wodurch ich Frieden gemacht habe“. Er tat es durch das Blut seines Kreuzes; etwas anderes hätte keinen Erfolg gehabt.

Als Johannes das Lamm in der Herrlichkeit sah, war es 'ein Lamm wie geschlachtet' (Off 5,6). Die Spuren von Golgatha werden nie von seiner heiligen Person ausgelöscht werden; obwohl es nicht richtig ist, was Wesley sagt: „Fünf blutende Wunden trägt er“. Immer wenn wir auf ihn blicken (und werden wir jemals unsere Augen von ihm abwenden?), werden unsere Herzen daran erinnert werden, welchen Preis es ihn gekostet hat, uns für Gott zu erlösen.

Aber wir finden noch mehr in Johannes 20: „Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch“. Ist dies nur eine unnötige Wiederholung? Nein, in der Heiligen Schrift gibt es nichts Derartiges. Der Herr gibt in diesem Vers einen Auftrag, und in Verbindung damit sagt er zum zweiten Mal: „Friede euch“. Er wollte, dass die Seinen mit dem Genuss des 'Friedens' in ihren Seelen ihm dienen. Wie könnte man ihm auch auf eine andere Weise wirklich dienen? Was gibt das doch für eine heilige, innere Ruhe, die feste Gewissheit zu haben, dass Frieden gemacht worden ist, und dass der Friede nun unser ist; und darüber hinaus besitzen wir seinen Frieden, der unsere Herzen und unseren Sinn bewahrt! Die Umstände des Dienstes und des Zeugnisses sind oftmals entmutigend, und manchmal sind wir geneigt, aufzugeben; doch dann dringt sein Wort in unser Herz: „Friede euch“, und das Herz kommt zur Ruhe und erhält neue Kraft.

Es ist ein gesegneter aber auch ernster Auftrag. So wahr, wie der Vater den Sohn gesandt hat, hat auch der Sohn die Seinen in die Welt gesandt. Was für eine Stellung für uns! Aus der Welt herausgenommen, dem Sohn gegeben, und dann in die Welt gesandt, um für ihn zu handeln. Der Sohn war hier auf der Erde gewesen, um Gott kundzumachen, und um der Wahrheit Zeugnis zu geben; in dieser Hinsicht sind wir in der gleichen Stellung. Es ist tatsächlich ein Vorrecht, einige Jahre hier verbringen zu dürfen, bevor wir in den Himmel aufgenommen werden. Als er uns zu Beginn unseres Glaubenslebens zur Erkenntnis seiner selbst geführt hat, war es seine Absicht, uns in das Haus des Vaters zu bringen; und er hätte es damals tun können, und dann wäre es auch das Richtige gewesen. Aber er hat es vorgezogen, uns für eine Zeit hier zu lassen, damit wir für ihn etwas tun könnten. Im Himmel können wir kein Zeugnis mehr ablegen. Alle derartigen Dienste müssen hier geleistet werden; und je schwieriger und anstrengender sie sind - je mehr Leiden und Schmach sie mit sich bringen - umso mehr wird es seine Anerkennung und Belohnung an dem nahe bevorstehenden Tag bewirken.

„Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist“. Diese Stelle mag für manchen eine ernste Schwierigkeit bedeuten. Es war hier jedoch nicht die Gabe des Heiligen Geistes als eine göttliche Person um in ihnen zu wohnen; darauf mussten sie noch warten, bis Jesus verherrlicht war. In Apostelgeschichte 1,5 lesen wir: „Ihr aber werdet mit Heiligem Geist getauft werden nach nunmehr nicht vielen Tagen“; diese Worte wurden erst später an die Jünger hier gerichtet. Um die Handlung des Herrn hier richtig verstehen zu können, müssen wir zu einer ähnlichen Handlung in 1. Mose 2 zurückgehen. Dort finden wir zunächst, wie Jehova Gott den Menschen aus Staub von dem Erdboden bildete; und danach hauchte er in seine Nase den Odem des Lebens (Vers 7). Darin unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Hier hauchte der Herr, nachdem er die Erlösung vollbracht hatte und aus den Toten auferstanden war sein eigenes Auferstehungsleben durch den Heiligen Geist seinen geliebten Jüngern ein. Unzweifelhaft waren sie schon vorher errettet, und der Herr gab ihnen nun die Teilhaberschaft mit sich selbst in einem weit ausgedehnteren und reicheren Leben. Es ist höchste Zeit, dass wir erfassen und festhalten, dass unser Leben in Christus ein Auferstehungsleben ist. Was hat das Gericht noch damit zu tun? Was hat das Gesetz noch dazu zu sagen? Es ist ein siegreiches Leben und außerhalb der Reichweite des Feindes. Der Unterschied zwischen dem Geist als Leben und seinem persönlichen Innewohnen kann in Römer 8 gesehen werden. In den Versen 1 bis 11 ist es nicht so sehr seine persönliche Gegenwart, sondern eher, dass er der Geist des Lebens ist, der selbst alle unsere Gedanken und Wege prägt und dem Leben, das wir auf dieser Erde führen, Gestalt und Wesen gibt. In den Versen 12 bis 27 wird er mehr als eine eigene Person gesehen, die in uns wohnt, mit unserem Geist zeugt, Mitempfinden mit uns in unseren Seufzern und Schwierigkeiten hat, und sich selbst für uns vor Gott verwendet.

Die nun folgenden Worte des Herrn müssen sehr sorgfältig erwogen werden; „welchen irgend ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten“. Wie gründlich verkannt, unverstanden und sogar entstellt worden sind doch diese wenigen Worte! Schon lange wird hieraus der Anspruch abgeleitet, einer priesterlichen Klasse Autorität verleihen zu können, damit diese ihre Nachfolger und Jünger von den ewigen Folgen ihrer Sünden freisprechen kann. Aber wir wollen entschieden festhalten, dass es so etwas wie eine priesterliche Klasse im Christentum nicht gibt. Sie gab es in Israel, aber damals war die Erlösung noch nicht vollbracht worden, und das Volk Gottes konnte nicht für sich selbst in das Allerheiligste in seine Gegenwart treten. Aber ist nach dem Tod und der Auferstehung Christi dies denn noch der Stand der Dinge? Sicher nicht; wenn doch, was hätte dann dieser Gepriesene vollbracht? Der Vorhang ist zerrissen, alle Gläubigen sind in die Stellung von Priestern Gottes versetzt worden - ein heiliges Priestertum -, und alle können auf der Grundlage des einmal vergossenen Blutes nahen. Darüber hinaus haben wir in der Gegenwart Gottes einen großen Hohenpriester für uns. Die Behauptung einer priesterlichen Klasse ist also eine Leugnung des Christentums und führt die Seele wieder in Knechtschaft, in Dunkelheit, und weg von Gott. Wir können heute gar nicht deutlich genug darüber sprechen oder schreiben. Große Massen der bekennenden Christenheit haben sich diesem und noch schlimmerem Übel hingegeben; sie ziehen Knechtschaft, Dunkelheit und Gottesferne der Freiheit, zu der uns Christus freigemacht hat, und der gesegneten Nähe zu Gott im Licht - das wahre und unvergängliche Teil aller Gläubigen - vor.

Hätte der Herr irgendeine Art von offiziellen Sonderrechten oder Autoritäten beabsichtigt, hätten wir zumindest lesen müssen: „...wo die Apostel versammelt waren“. Dies hätte ein Hinweis auf die Berechtigung einer solchen Annahme sein können; aber der Herr ist weiser als die Menschen. Er kannte den Stolz und das Sich-Rühmen von der apostolischen Nachfolge schon im Voraus genau, und für eine solche Einbildung wollte er in den vor uns liegenden Versen keine Lücke lassen. Daher lesen wir nicht „als die Apostel...“, sondern „als die Jünger versammelt waren“. Dieser zweite Ausdruck umfasst alle Gläubigen, ganz gleich ob Apostel oder andere. Nebenbei wollen wir noch bemerken, dass im Johannes-Evangelium der Titel 'Apostel' überhaupt nicht vorkommt.

Zweifelsohne gibt es viele, die sich darüber im klaren sind, was dieser Vers nicht bedeutet; aber stellt man sie einmal auf die Probe, dann können sie nicht sagen, was er bedeutet. Wir wollen diese Angelegenheit in aller Sorgfalt vor dem Angesicht des Herrn erwägen. Wie wir bereits gesehen haben, sind die versammelten Jünger mit dem Herrn in ihrer Mitte ein Bild von der christlichen Versammlung. Wir finden hier also, wie er ihnen Autorität in einem administrativen (verwaltungsmäßigen) Charakter zur Ausübung von Aufnahme oder Zucht innerhalb ihrer Grenzen gibt. Die Worte des Herrn an dieser Stelle haben im Wesentlichen die gleiche Bedeutung, wie die in Matthäus 16 und 18. In dem ersten Kapitel wendet er sich an Petrus aufgrund dessen wunderbaren Bekenntnisses von ihm selbst als dem Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes; auf diesen Felsen sollte seine Versammlung gebaut werden, und er sagt: „Ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was irgend du auf der Erde binden wirst, wird in den Himmeln gebunden sein, und was irgend du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein“ (Mt 16,19). Dies ist absolut keine Anspielung auf ewige Konsequenzen. Der Herr spricht hier nicht von den Schlüsseln des Himmels, als würde Petrus oder einer seiner angeblichen Nachfolger Macht haben, nach seinem eigenen Willen Seelen von den himmlischen Segnungen auszuschließen; er spricht hier von einer irdischen Verwaltung, und wir finden später in der Apostelgeschichte, wie Petrus dies entsprechend ausgeübt hat. Zu Pfingsten öffnete er das Reich der Himmel den Juden, und dreitausend Seelen gingen hinein; in dem Haus von Kornelius öffnete er es den Nationen, und durch die Gnade machten viele reichen Gebrauch davon. Dies war also das Lösen; und auf der anderen Seite liefern die Fälle von Ananias und von Simon ernste Beispiele vom Binden (Apg 5,1-11; 8,9-25).

Es wird hier also nichts von einer aufeinander folgenden Autorität gesagt, es sei denn, die Worte des Herrn in Matthäus 18 werden so gesehen. Dort spricht der Herr von der Versammlung, einer versammelten Gemeinschaft, welcher von dem Fehler eines Bruders berichtet wird, und er sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein“. Dies ist unmittelbar mit seiner Gegenwart inmitten der zwei oder drei zu seinem Namen hin Versammelten verbunden (Mt 18,18-20). Folglich ist die einzige Form, in der die dem Petrus zugestandene Autorität übertragen worden ist, die, die der Herr zweifellos seinen versammelten Heiligen übertragen hat - wie wenige und wie schwach diese auch sein mögen. Wenn also eine Person aus der Welt aufgenommen wird, 'vergibt' oder 'löst' die Versammlung. Wenn jemand aus der Mitte der Heiligen hinaus getan werden muss, dann 'behält' oder 'bindet' die Versammlung. Dies alles geschieht auf der Grundlage der Autorität seines Wortes und seiner Gegenwart in ihrer Mitte. Die Briefe an die Korinther liefern uns eine Illustration hiervon. In dem ersten Brief fordert der Apostel von der Versammlung, den Bösen aus ihrer Mitte hinauszutun (dieser Betreffende wurde auch dem Satan überliefert, zum Verderben des Fleisches, aber dies konnte nicht ohne apostolische Autorität geschehen. Da ich aber hier nur behandeln möchte, welche Autorität die Versammlung von Gott zum Handeln erhalten hat, will ich diesen Gedanken hier nicht weiter einführen).

Der Mann wurde hinaus getan, seine Sünde wurde ihm aufgebunden. Die Zucht hatte Erfolg, daher finden wir, wie Paulus später schrieb: „Genügend ist einem solchen diese Strafe, die von den Vielen ist, so dass ihr im Gegenteil vielmehr vergeben und ermuntern solltet, damit nicht etwa ein solcher durch die übermäßige Traurigkeit verschlungen werde“ (2. Kor 2,6.7). Durch das Wiederaufnehmen vergab die Versammlung in administrativer Hinsicht seine Sünden. Die Versammlung ist verantwortlich, über die Aufrechterhaltung der Ehre des Herrn zu wachen. Wenn sich Böses hineindrängt und die Versammlung erfährt davon, ist sie gehalten, sich in der Furcht des Herrn damit zu beschäftigen; tut sie das nicht, verliert sie allen Anspruch, als Versammlung Gottes angesehen werden zu können. Es sind drei Dinge, die wir bei solch ernsten Vorfällen vor unseren Augen haben sollten:

  1. die Ehre des Herrn,
  2. die Reinheit der Versammlung,
  3. die Wiederherstellung und der Segen für den Schuldigen.

Wenn der erste Punkt aus dem Auge verloren wird, steht alles das, was getan wird, wie richtig es auch immer sein mag, auf einem sehr niedrigen Boden; ist es der zweite Punkt, dann geht den Gewissen von allen Handelnden der moralische Gewinn verloren, der aus solchen schmerzlichen Umständen erlangt werden sollte; und wenn der dritte Punkt nicht vor den Augen steht, dann neigen unsere Herzen dazu, im Blick auf solche, die dem Herrn angehören und die doch vom Feind verführt worden sind, hart und unbekümmert zu sein.

Zu der Versammlung Gottes zu gehören ist wahrlich ein unschätzbares Vorrecht; aber ernste Verantwortlichkeiten sind mit diesem Platz verbunden. Der Herr schenke es uns allen, dies mehr und besser zu verstehen.