Kann man Gott sehen oder nicht?

„Und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war es wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit“ (2. Mose 24,10).

„Und er sprach: Du vermagst nicht mein Angesicht zu sehen, denn nicht kann ein Mensch mich sehen und leben“ (2. Mose 33,20).

Bibelstelle(n): 2. Mose 24,10; 2. Mose 33,20; 1. Timotheus 6,16; Matthäus 5,8; Johannes 1,18

Nicht nur diese, sondern eine Anzahl weiterer Schriftstellen, in denen es um das Anschauen oder Sehen Gottes geht, scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. In 1. Timotheus 6,16 schreibt Paulus von Gott: „... der ein unzugängliches Licht bewohnt, den keiner der Menschen gesehen hat noch sehen kann ...“1 Aber der Herr Jesus sagt in Matthäus 5,8: „Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott sehen.“

Auch im AT gibt es weitere Stellen, wo Menschen Gott gesehen haben (z. B. Hagar in 1. Mose 16,13; die Ältesten Israels in 2. Mose 24,10; Manoah in Richter 13,22; Jesaja in Jesaja 6,5). Um diese scheinbaren Widersprüche zu verstehen, die schon manchem Bibelleser Mühe gemacht haben, müssen wir uns mit dem Wesen Gottes und der Art, wie Er sich offenbart, beschäftigen.

Anders als seine irdischen Geschöpfe ist Gott ein immaterielles Wesen: „Gott ist [ein] Geist“ (Johannes 4,24). Der unsichtbare Geist steht im Gegensatz zur sichtbaren Materie. Als der auferstandene Herr in die Mitte der Jünger trat und diese in ihrer Angst fälschlicherweise meinten, einen Geist zu sehen, entgegnete Er ihnen: „Ein Geist hat nicht Fleisch und Gebein, wie ihr seht, dass ich habe“ (Lukas 24,39). Gott an sich ist unsichtbar, und kein Geschöpf kann Ihn als solchen jemals sehen.

Andererseits finden wir in dem kurzen Abschnitt in Kolosser 1,14 und 15 zwei für die Beantwortung der obigen Frage bedeutsame Tatsachen. Erstens bestätigt er, dass Gott unsichtbar ist. Zweitens sagt er aus, dass es Einen gibt, der das Bild des unsichtbaren Gottes ist. Dieser Eine ist der ewige Sohn Gottes. Immer und überall, wo der an sich unsichtbare Gott sich offenbart, tut er es in seinem Sohn. Dieser ist von Ewigkeit her das Bild des unsichtbaren Gottes, die Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens sowie das ewige Wort, d. h. der vollkommene Ausdruck dessen, was Gott ist (Kolosser 1,15; Hebräer 1,3; Johannes 1,1). Bei seiner Menschwerdung heißt es: „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) voller Gnade und Wahrheit … Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht“ (Johannes 1,14.18). Von Ihm wird auch gesagt, dass die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig in Ihm wohnt (Kolosser 1,19; 2,9). Daher kann jeder, der an Ihn glaubt, die „Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2. Korinther 4,6) schon jetzt im Geist und im Glauben sehen. Aber wenn der Herr Jesus kommt, um seine Erlösten ins himmlische Vaterhaus einzuführen, werden wir Ihn „sehen, wie er ist“ (1. Johannes 3,2). Das bedeutet, dass wir in Ihm die ganze Fülle der Gottheit sehen werden, obwohl diese im absoluten Sinn ewig unsichtbar ist und bleiben wird (vgl. Johannes 14,9).

Was ist nun aber mit den Menschen in der Zeit des AT, die Gott sahen, bevor sein Sohn Mensch wurde? Hier gilt dem Grundsatz nach das Gleiche, was wir über die Zeit seit seiner Menschwerdung im NT lesen. Immer, wenn Gott sich offenbarte, tat Er es im Sohn, auch als dieser noch nicht Mensch geworden war. Es war der ewige Sohn, der die Welten erschaffen hat: „Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: Alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen“ (Kolosser 1,16; vgl. Johannes 1,3; vgl. 1. Korinther 8,6; Hebräer 1,2). Als Jesaja „den HERRN sitzen [sah] auf hohem und erhabenem Thron“, war es nach Johannes 12,41 der ewige Sohn Gottes in seiner Herrlichkeit.

Auch wenn im AT vom „Engel des HERRN“ die Rede ist, ist nicht ein Geschöpf gemeint, sondern der Sohn Gottes, der in sichtbarer Gestalt erschien, bevor Er Mensch wurde. Im Unterschied zu den erschaffenen Engeln heißt es von Ihm das eine Mal „der Engel des HERRN“, ein anderes Mal im gleichen Kontext jedoch „der HERR“ oder „Gott“. So war es z.B. bei Hagar an der Wasserquelle in der Wüste. Es war „der Engel des HERRN“, der zu ihr redete (1. Mose 16,7.9.10.11). Aber in Vers 13 nennt sie „den Namen des HERRN, der zu ihr redete: Du bist der Gott des Schauens“. Der Engel des HERRN erschien Mose im Dornbusch, aber es ist der HERR selbst, der zu ihm redet (2. Mose 3,2.4). In Richter 6 erscheint der Engel des HERRN und spricht zu Gideon (Verse 11 und 12), aber in den Versen 14 und 16 redet der HERR selbst. In Richter 13 erkannte Manoah, „dass es der Engel des HERRN war“, der ihnen mehrfach erschien, und sagte mit Recht zu seiner Frau: „Wir haben Gott gesehen!“, wenn er auch mit seiner Befürchtung, sie müssten jetzt beide sterben, nicht Recht behalten sollte (Verse 21–23). Die Ältesten Israels, die nach 2. Mose 24,10 „den Gott Israels“ sahen, erblickten also „den HERRN“ und damit im Grunde den Sohn Gottes, ebenso wie später Jesaja.

Zusammengefasst bedeutet dies: Gott an sich ist für Geschöpfe unsichtbar. Seine ewige sichtbare Offenbarung ist jedoch der Sohn, der sich auch in der Zeit des Alten Testaments, d. h. vor seiner Menschwerdung, den Menschen in sichtbarer Gestalt gezeigt hat. In Ihm kann der Mensch Gott sehen, und zwar in seiner ganzen Fülle. Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, ist Gott offenbart im Fleisch.


Online seit dem 11.03.2017.

Fußnoten

  • 1 Vgl. Johannes 1,18: „Niemand hat Gott jemals gesehen“; Kolosser 1,15: „das Bild des unsichtbaren Gottes“; 1. Timotheus 1,17: „Dem ... unvergänglichen, unsichtbaren, alleinigen Gott“.