Lukas, Das Evangelium nach – Bibel-Lexikon

Es ist oft gesagt worden, dass dieses Evangelium von dem Schreiber aus verschiedenen Quellen zusammengestellt wurde. Als eine wichtige Quelle wird der Apostel Paulus genannt, weil Lukas viel mit diesem Apostel zusammen gewesen ist. Diese Meinung wurde schon früh vertreten: Irenäus und Tertullian behaupteten, dass es sich bei Lukas um das Evangelium handelt, welches Paulus predigte. Eusebius bezog die Worte „nach meinem Evangelium" (2. Tim 2,8) auf das Lukasevangelium, und Hieronymus stimmte dem zu. Viele neuere Schreiber wiederholen dasselbe. In dieser Theorie gibt es aber zwei schwerwiegende Fehler. Der eine besteht in der Bemühung, die Entstehung des Lukasevangeliums nur durch menschliches Wirken zu erklären, anstatt anzuerkennen, dass der Schreiber durch den Heiligen Geist geleitet wurde. Der zweite liegt in der Missachtung des einzigartigen Charakters des Evangeliums, welches von Paulus gelehrt wurde. Wie er selbst erklärte, hatte er dieses durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen. Es wird das Evangelium „der Herrlichkeit des Christus" genannt, und es verband den Gläubigen mit Christus in der Herrlichkeit (2. Kor 4,4).

Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass Lukas' Darstellung des Dienstes des Christus auf der Erde in Übereinstimmung mit dem Dienst des „Apostels der Nationen" ist, dessen Mitarbeiter und Begleiter Lukas war. Gnade dem Menschen - „sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen", wie Paulus es ausdrückt - ist der Grundgedanke des Lukasevangeliums.

Das Evangelium nach Lukas stellt den Herrn in dem Charakter des Sohnes des Menschen vor uns, indem er Gott durch Gnadenerweisung unter den Menschen offenbart. Daher wird mehr auf die gegenwärtige Tätigkeit der Gnade und ihre Auswirkung und sogar prophetisch auf die gegenwärtige Zeit Bezug genommen. Es wird nicht, wie bei Matthäus, die Einsetzung von anderen Haushaltungen sondern die Einführung der rettenden, himmlischen Gnade thematisiert. Zuerst wird er jedoch (und gerade weil er als Mensch in Gnade den Menschen geoffenbart werden soll) Israel dargestellt, welchem er verheißen war und mit welchem er durch sein Kommen in diese Welt in Beziehung stand. Dies geschieht in einem einleitenden Teil, in dem wir das herrlichste Bild des gottesfürchtigen Überrestes finden. Aber danach stellt dieses Evangelium moralische Grundsätze vor, die für den Menschen allgemein gelten, wer auch immer er sein mag, während Christus noch für den Augenblick in der Mitte dieses Volkes offenbart wird. Diese Macht Gottes in Gnade wird auf verschiedenen Wegen in ihrer Anwendung auf die Bedürfnisse der Menschen entfaltet.

Nach der Verklärung (Kap. 9), die, was den Inhalt des Evangeliums angeht, hier früher berichtet wird als bei den anderen Evangelisten, finden wir das Gericht über solche, die den Herrn verwarfen. Außerdem treffen wir auf den himmlischen Charakter der Gnade, die, weil sie Gnade ist, sich auch an die Nationen richtet, an Sünder, wobei kein besonderer Hinweis auf die Juden gegeben wird. Vielmehr werden die gesetzlichen Prinzipien umgestoßen, gemäß derer die Juden vorgaben, in einer Beziehung zu Gott zu stehen, wozu sie ursprünglich, was ihre äußere Stellung betraf, am Sinai berufen worden waren. Bedingungslose Verheißungen an Abraham und andere Glaubensmänner und ihre prophetische Zusicherung sind hiervon zu unterscheiden. Sie werden in Gnade erfüllt werden und mussten im Glauben erfasst werden.

Nach diesem (Kap. 19-21) werden Einzelheiten darüber berichtet, was dem Juden gemäß dem gerechten Gericht Gottes widerfahren sollte. Zum Schluss folgt noch die Schilderung des Todes und der Auferstehung des Herrn zur Vollendung des Werkes der Erlösung.

Lukas setzt das jüdische System moralisch bei Seite und stellt den Sohn des Menschen als den Menschen in der Gegenwart Gottes vor. Dabei stellt er ihn als den einen dar, der mit der ganzen Fülle Gottes erfüllt ist, die leibhaftig in ihm wohnt, als den Menschen in der Gegenwart Gottes nach seinem eigenen Herzen. Auf diese Weise ist er als der Mittler zwischen Gott und Menschen das Zentrum des moralischen Systems, das viel umfassender ist als das des Messias unter den Juden. Während er mit diesen neuen Beziehungen beschäftigt ist (die, was den Ratschluss Gottes angeht, in Wirklichkeit keineswegs neu waren), zeigt Lukas nichtsdestotrotz die Tatsachen auf, welche die Beziehung des Herrn zu den Juden - dargestellt in dem gottesfürchtigen Überrest dieses Volkes - betreffen. Dies geschieht mit einer viel stärkeren Ausprägung als bei den anderen Evangelisten. Letzteres trifft auch auf die Beweise seiner Sendung zu diesem Volk zu, als er in diese Welt kam - Beweise, welche die Aufmerksamkeit des Volkes hatten erlangen sollen und diese auf das Kind hatten lenken sollen, das ihnen geboren wurde.

Das, was die Schilderung des Lukas besonders charakterisiert und diesem Evangelium eine besondere Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, dass es darstellt, was Christus in sich selbst war. Es ist nicht seine offizielle Herrlichkeit, eine relative Position, die er einnahm, noch ist es die Offenbarung seiner göttlichen Natur in sich selbst, noch sein Auftrag als der große Prophet, die hier gezeigt werden. Er selbst wird uns vorgestellt, wie er war, ein Mensch auf der Erde - die Person, der man jeden Tag begegnet wäre, wenn man zu dieser Zeit in Judäa oder in Galiläa gelebt hätte.

Eine Anmerkung zu dem Stil von Lukas mag noch angefügt werden. Er fasst oft eine Menge von Tatsachen in einer kurzen allgemeinen Aussage zusammen und dehnt dann einige einzelne Aspekte länger aus, wodurch moralische Prinzipien und Gnade vorgestellt werden.