Lebendiger Glaube
Eine Auslegung des Briefes des Jakobus

3. Der Glaube überwindet weltliche Unterschiede

Im Laufe seines Briefes kommt Jakobus immer wieder auf Belehrungen aus dem ersten Kapitel zurück. Dieses erste Kapitel stellt wirklich die Grundlage der Unterweisungen des gesamten Briefes dar. Alles, was ab Kapitel 2,1 folgt, baut auf dem auf, was Jakobus im ersten Kapitel als Grundlage gelegt hat.

Das zweite Kapitel enthält drei große Themen:

  1. Der Glaube überwindet weltliche, soziale Unterschiede (V. 1–7)
  2. Der Glaube beruht auf Gottes Wort (V. 8–13).
  3. Der Glaube zeigt sich in konkreten Werken (V. 14–26).

Diese drei Teile haben ihren Bezugspunkt im ersten Kapitel. Die Verse 1–7 beispielsweise beziehen sich auf Kapitel 1,9–11. Dort haben wir gelesen: „Der niedrige Bruder aber rühme sich seiner Hoheit, der reiche aber seiner Erniedrigung; denn wie des Grases Blume wird er vergehen. Denn die Sonne ist aufgegangen mit ihrer Glut und hat das Gras verdorren lassen, und seine Blume ist abgefallen, und die Zierde seines Ansehens ist verdorben; so wird auch der Reiche in seinen Wegen verwelken.“

Dieses Thema von arm und reich unter Gläubigen bzw. inmitten der Versammlung Gottes greift Jakobus jetzt noch einmal auf. Während in Kapitel 1 besonders der reiche Bruder in das Licht Gottes gestellt wurde, geht es in Kapitel 2 um unser Beurteilungssystem von arm und reich. Das große Thema von Jakobus in diesen ersten sieben Versen ist, dass der Glaube diese Unterschiede überwindet. Er verneint sie nicht, da sie vorhanden sind. Aber er überwindet sie, das heißt, sie spielen für den Umgang der Gläubigen keine Rolle mehr. Die Sprache von Jakobus ist bei diesen Belehrungen sehr direkt. Er nimmt kein Blatt vor den Mund.

Jakobus wendet sich weiter an solche, die bekannten zu glauben, dass Jesus Christus der Herr ist. Die Wirklichkeit dieses Bekenntnisses testet er. Der Schwerpunkt dieses Tests befindet sich im letzten Teil des Kapitels, ist aber im gesamten Kapitel erkennbar. In dieser Hinsicht ist das übergreifende Thema des zweiten Kapitels die Echtheit des Glaubens. Wenn aber die Echtheit geprüft wird, heißt das zugleich, dass diejenigen, die wirklich an den Herrn Jesus glauben, von den falschen Bekennern deutlich unterschieden werden.

Glaube und Lebenspraxis gehören zusammen

Es ist nutzlos zu bekennen, man habe eine Beziehung zum Herrn Jesus, wenn die Früchte oder der entsprechende Lebenswandel fehlen. Wer auf die Armut des anderen sieht und dementsprechend Unterschiede in der Behandlung von Christen macht, mag noch so oft sagen, er habe Glauben. Echter Glaube würde sich aber anders äußern.

Es geht in diesem Kapitel also erneut darum, den Glauben nicht vom praktischen Leben zu trennen. Wie bei allen Themen, die mit unserem praktischen Glaubensleben zu tun haben, schauen wir zuerst auf unseren Herrn Jesus Christus, von dem wir in Johannes 8,25 lesen, dass Er das war, was Er auch aussprach. Sein Leben, seine Worte, seine Taten, seine Gedanken: Alles stimmte miteinander überein. Er musste nicht ein Wort zurücknehmen oder irgendeine Tat in Frage stellen.

Das ist auch für uns ein großer Ansporn. Unser Glaubensleben sollte immer in deutlichem Gegensatz zum Leben der Welt stehen und darüber hinaus durch Glaubenswerke gekennzeichnet sein. Jakobus warnt nun diejenigen, die sich zum Glauben an den Herrn Jesus bekennen, vor der Gleichförmigkeit mit dieser Welt (V. 1–13).

Jakobus greift noch ein zweites Thema in diesen Versen auf. Gerade die Judenchristen der ersten Zeit standen in Gefahr, das Christentum als ein neues System mit neuen Lebensregeln zu verstehen. Das aber hat mit wahrem Christentum nichts zu tun. Daher muss Jakobus diesen Gläubigen zeigen, dass wahrer Glaube nicht in einer Regeleinhaltung besteht. Es geht um eine gesunde Lebenspraxis, nicht um Regeln. Die Juden wollten aus dem Neuen Testament eine Art Talmud1 machen. Das aber ist es nicht. Es gibt uns den Rahmen, innerhalb dessen wir unseren Glauben in christlicher Freiheit ausleben können.

Glaube, der durch die Herrlichkeit Christi geprägt ist (V. 1)

„Meine Brüder, habt den Glauben unseres Herrn Jesus Christus, des Herrn der Herrlichkeit, nicht mit Ansehen der Person“ (V. 1).

Kapitel 2 schließt unmittelbar an die vorhergehenden Verse an. In Vers 27 haben wir gesehen, dass in dieser Welt das Auge des Christen nicht auf solche gerichtet sein soll, die sich nach gesellschaftlichen Maßstäben in hohen Stellungen befinden, sondern auf diejenigen, die hier wenig geachtet werden. Das sind besonders die Waisen und Witwen, somit die Armen. Es sind solche, die nicht in der Lage sind, das wiederzuschenken, was man ihnen gibt.

Im Gegensatz zu diesen stehen die Reichen, durch deren Freundschaft man in dieser Welt manche Vorteile erreichen kann, sogar inmitten von Gläubigen. Was aber haben wir mit dem System dieser Welt zu tun? Nichts! Wir sind aus der gegenwärtigen bösen Welt nach dem Willen Gottes herausgenommen worden (Gal 1,4). Daher sollte sich ein Christ nicht auf die Reichen fokussieren.

Jakobus beginnt diesen ersten praktischen Abschnitt mit einem scharfen Tadel gegen das Ansehen der Person (V. 1–4). Dann zeigt er die traurigen Folgen einer solchen Parteilichkeit und offenbart, wie man sich so in einen vollkommenen Gegensatz zum Handeln Gottes stellt (V. 5–7).

Echter Glaube richtet die Blicke auf die neue Welt, auf das Reich Gottes (V. 5). Da gibt es keine Unterscheidung der Menschen in arm und reich, gering und hoch, wie die Welt sie macht. Wenn in Zukunft nach der Aufrichtung dieses Königreiches in Herrlichkeit eine solche Unterscheidung keine Rolle mehr spielt, warum sollte sie dann heute angebracht sein?

Echter Glaube findet in dieser Welt keine Herrlichkeit, sondern schaut auf den Herrn der Herrlichkeit. Er war einmal in Armut und Erniedrigung auf der Erde, ist jetzt aber in der Herrlichkeit. Die neue Welt ist verbunden mit der Herrlichkeit, die der Herr Jesus jetzt im Himmel hat. Wer so den Charakter dieser Welt versteht, weiß, dass es unmöglich ist, dass der Glaube mit Ansehen der Person verbunden sein kann.

Unterschiedslos Sünder – unterschiedslos Erlöste

In Gottes Augen stehen grundsätzlich alle Menschen auf derselben Stufe: Sie sind Sünder und als verantwortliche Wesen unter seinem Urteil. Wenn das für den Menschen ganz allgemein gilt, wie viel mehr ist es für diejenigen wahr, die auf dem Boden des Glaubens stehen. Jeder Erlöste, sei er reich oder arm, wurde mit demselben Preis erkauft und ist ein Glied am Leib des Christus. Daher soll bei uns kein Ansehen der Person sein.

In unserer Lebensrealität aber sieht das ganz anders aus. Durch diesen ersten Vers wird deutlich, dass schon in den ersten Tagen des Christentums die Reichen den Armen vorgezogen wurden. Das ist keine moderne Erfindung.

Wir wissen, dass diese Welt die Menschen oftmals nicht nach ihrem moralischen Wert beurteilt, sondern nach ihrer sozialen Stellung und ihrem äußeren Erscheinungsbild. Jakobus belehrt uns aber, dass diejenigen, die den Glauben unseres Herrn Jesus Christus besitzen, sich gegenseitig nicht auf eine solche Weise beurteilen sollen. Der Mensch dieser Welt wird dem reichen und hochgestellten Menschen, der einen Namen unter seinen Mitmenschen besitzt, besonderen Respekt zollen. Der Glaube jedoch bringt uns in Berührung mit dem Herrn der Herrlichkeit. In seiner Gegenwart werden alle Menschen sehr klein, mag ihre Position in dieser Welt auch noch so hoch sein. Was aber ist der Reichtum der Reichen, wenn man ihn mit der Herrlichkeit des Herrn vergleicht?

In den weiter folgenden Versen bis Vers 13 zeigt Jakobus, dass derjenige, der den Armen verachtet und den Reichen vorzieht, in dreierlei Hinsicht falsch liegt. Er handelt sowohl gegen Christus (V. 1) als auch gegen Gott (V. 5) sowie im Widerspruch zum Gesetz (V. 8).

Christus – der Gegenstand vor unseren Augen

Zuerst geht es um Christus, unseren Herrn. Wir werden ermahnt, einen Glauben zu verwirklichen, der in allem ganz auf den Herrn Jesus ausgerichtet ist. Es geht hier nicht darum, dass wir so glauben sollen, wie Christus geglaubt hat (Genitivus Subjektivus), was grammatikalisch möglich wäre. Aber daran denkt Jakobus sicherlich nicht. Sein Punkt ist hier vielmehr, dass wir Christus zum Gegenstand unseres Glaubens machen sollen (Genitivus Objektivus). Wir sollen uns nicht auf einen falschen Weg machen und auf Menschen sehen und hoffen, weil sie Geld und Ansehen genießen. Das würde unser Glaubensleben in eine falsche Richtung führen.

Dieser Vers weist uns also nicht an, das zu glauben, was der Herr Jesus geglaubt hat, sondern der Glaube der neuen, von neuem geborenen Menschen soll auf Ihn gerichtet werden. Wir erkennen Ihn als jemanden, der zu einer ganz anderen, ganz neuen Welt gehört. Die heutige Welt ist keine Welt der Herrlichkeit, sondern der Drangsal und Trübsal. Sie ist eine dunkle, sündige und befleckte Welt, wie wir in Kapitel 1 bereits gesehen haben. Wir stehen als Christen in Gefahr, uns von den Überzeugungen dieser Welt anstecken zu lassen. Das will der Geist Gottes aber verhindern.

Bevor wir weitergehen, möchte ich auf eine gewisse Schwierigkeit bei diesem Vers hinweisen. Er ist insgesamt nicht ganz leicht zu übersetzen. Man könnte ihn auch so verstehen: „Habt den Glauben unseres Herrn Jesus, den Christus der Herrlichkeit, ohne Ansehen der Person.“ Die Herausforderung besteht darin, dass Jakobus hier sieben Wörter aneinanderreiht, die alle im Genetiv (zweiter Fall) stehen. Wörtlich übersetzt hieße das: Habt den Glauben „des Herrn unseres Jesu Christo der Herrlichkeit“. Alle sieben Wörter sind letztlich dazu da, den Glauben zu erklären.

Die „Herrlichkeit“ könnte sich dabei auf den „Herrn“ beziehen, wie das in der deutschen Übersetzung (Elberfelder, CSV: des Herrn der Herrlichkeit) gemacht wird. Aber es ist auch möglich und sogar sehr passend, dass „unser Herr Jesus Christus“ als eine Einheit aufgefasst wird, also als ein Titel unseres Herrn. Dann würde sich die Herrlichkeit nicht auf den „Herrn“ sondern auf seine ganze Person beziehen.

Bis Jakobus zum Glauben kam, hatte er keinen Blick für diese Person und ihre Herrlichkeit. Seit seiner Bekehrung aber ist diese einzigartige Person für ihn mit der Herrlichkeit verbunden, die wir im Alten Testament beispielsweise auf der Stiftshütte sehen (2. Mo 40,34; 4. Mo 14,10). Später erfüllte sie den Tempel (1. Kön 8,11; 2. Chr 7,2). Im Neuen Testament steht diese Herrlichkeit direkt mit Christus in Verbindung (Joh 1,14; Heb 1,3). Sie war schon zur Zeit des Alten Testaments angekündigt worden (Jes 40,5) und wird den Gläubigen als glückselige Hoffnung vor die Herzen gestellt (Tit 2,13).

Der volle Titel unseres Herrn Jesus Christus

Die Beschreibung unseres Herrn in diesem Vers fällt auf. Jakobus 2,1 ist neben 1,1 die einzige Stelle im Brief, bei der wir den Namen des Herrn Jesus erwähnt finden. Beide Male wird ausdrücklich der volle Titel unseres Herrn genannt: Herr Jesus Christus. Schon in den damaligen Versammlungen glaubte man also an Jesus als an den Herrn. Das aber heißt nebenbei bemerkt auch, dass Jesus Gott ist, denn ein Judenchrist glaubt nicht an einen Menschen, sondern an Gott. Er darf in diesem Sinn gar nicht an einen Menschen glauben, sondern nur an Gott.

Dass Jesus der Herr der Herrlichkeit ist, lesen wir auch in 1. Korinther 2,8. Bei Jakobus steht dieser Titel auch damit in Verbindung, dass Jesus der gottgewollte Messias, der Christus ist. Jetzt ist Er beim Vater, um später einmal in Herrlichkeit und Macht wiederzukommen (vgl. 2. Thes 1,7.10; Mt 24,30; 25,31).

Jakobus verbindet sich mit den Empfängern des Briefes, indem er von „unserem“ Herrn Jesus Christus spricht. So stellt er sich nicht über seine Glaubensgeschwister, sondern an ihre Seite. Er ermahnt sie, ihren Blick zu diesen Herrn der Herrlichkeit zu richten, auf die Person, die Gott verherrlicht hat (vgl. Joh 17,1–5). Es geht um den Glauben an die Person, die das absolute Recht auf alle Titel dieses Verses besitzt. Wir schauen die Herrlichkeit dieser Person an und werden dadurch selbst verändert (2. Kor 3,18).

Echter Glaube erweist sich darin, dass er die Dinge kennt, die für die Menschen dieser Welt verborgen sind. Den Herrn der Herrlichkeit kann man nicht sehen. Und die Belohnung dafür, dass man nicht auf Reichtum oder Armut schielt, ist ebenfalls unsichtbar. Menschen mögen behaupten, Glauben zu besitzen. Aber der Glaube ist nur äußerlich, wenn er nicht die unsichtbare Welt in den Mittelpunkt stellt. Wahrer Glaube sieht alles in Verbindung mit dem Herrn der Herrlichkeit und weiß daher, wie reich die weltlich Armen im Glauben sind.

Kein Ansehen der Person

Im zweiten Teil des Verses lernen wir, dass wahrer Glaube keine Unterschiede macht und frei von Parteilichkeit ist. Jakobus nennt das „nicht mit Ansehen der Person“. Er benutzt erneut die Befehlsform (Imperativ). Wir werden ermahnt, dauerhaft diesen Glauben ohne Ansehen der Person zu haben. Es handelt sich um einen gut bekannten Begriff, der die Parteilichkeit eines Richters bezeichnet, der jemandem einen ungerechten Vorteil verschaffen möchte. Es geht somit um ein tendenziöses Urteil.

Mit Ansehen der Person ist gemeint, dass man eine Person zu Lasten von anderen vorzieht wegen Reichtum, Geburt, Name, sozialer Stellung, Bekanntheit unter Gläubigen usw. Für diese Unterschiede können wir letztlich nichts. Aber wir suchen einen persönlichen Vorteil, wenn wir uns diese Unterscheidungsmerkmale zunutze machen. Wenn man so handelt, zieht man eine Person einer anderen aus niederen Motiven vor.

Jakobus stellt das „Ansehen der Person“ in den Mittelpunkt. Denn im Grundtext (im Griechischen) beginnt Jakobus den Satz nach der Anrede „meine Brüder“ mit diesen Worten. Darum geht es ihm in dieser Ermahnung. Er benutzt für „Ansehen“ ein Wort in der Mehrzahl, um zu zeigen, dass es verschiedene Wege geben kann, in der man parteilich wird. Alle diese Wege sollte ein Christ für sich ablehnen.

Gott lässt sich durch natürliche Dinge nicht beeinflussen, da Er nicht parteilich ist. Er bietet seine Gnade allen Menschen an, ist unbestechlich durch menschliche Unterschiede und sieht die Person als solche nicht an (vgl. 5. Mo 10,17; 2. Chr 19,7; Apg 10,34; Röm 2,11; Gal 2,6; Eph 6,9; Kol 3,25; 1. Pet 1,17; Mt 5,45). Daher darf auch die Versammlung bzw. dürfen auch Erlöste keine einzelne Partei oder Gruppe von Menschen bevorzugen (vgl. 3. Mo 19,15; Spr 24,23; 28,21). Das gilt ganz besonders im Blick auf die Rechtsprechung inmitten des Volkes Gottes. Das lernen wir aus dem Leben der Israeliten (vgl. 5. Mo 1,17).

Unser Vorbild: Christus

Wie immer ist und bleibt unser Herr unser vollkommenes Vorbild. Auch Er hielt sich frei davon, Personen zu bevorzugen (vgl. Mt 22,16). Das mussten sogar die Pharisäer, seine Feinde, anerkennen. Ihm wollen wir auch in diesem Bereich nachfolgen (vgl. Lk 9,23.26; 14,12–14; 16,15). Der Herr Jesus hat einmal gesagt: „Richtet nicht nach dem Schein, sondern richtet ein gerechtes Gericht“ (Joh 7,24). So sollten wir ebenfalls handeln.

In der heutigen Zeitperiode der Gnade gibt es für Gott keine Unterschiede mehr unter den Erlösten (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11). Sie alle haben dasselbe geistliche Teil und dieselben Segnungen, die ausnahmslos Ergebnisse des Werkes Christi und nicht Folge eigener Anstrengung und Fähigkeiten sind. In dieser Welt gibt es zwar Weise, Mächtige und Würdige, nicht aber bei Gott. Er liebt die Demütigen und Niedrigen, die Armen. Für Ihn gibt es keine Unterscheidung zwischen armen und reichen Gläubigen, zwischen niedrigen und hohen Christen. Er liebt sie alle gleich.

Jakobus verbindet nun diesen Punkt mit dem Glauben. Man kann keinen Gott gemäßen Glauben haben, wenn man solche Unterschiede macht. Diese „Art“ von Glauben ist nicht mit dem verherrlichten Herrn, der selbst so demütig war, vereinbar. Natürlich gibt es auch besondere Beziehungen wie die zu unseren Eltern etc. Aber wenn wir Differenzierungen im geistlichen Bereich machen, ist das für Gott ein Gräuel.

Sicherlich gibt es Ungleichheiten zwischen Personen im Blick auf ihre äußere Stellung oder soziale Unterschiede etc. Ein Christ ist dafür auch nicht blind. Es ist zudem richtig, dass man dem Ehre und Respekt entgegenbringt, dem sie zusteht (vgl. 1. Pet 2,17). Wir sollen den König ehren. Aber wir sollen ihn nicht seiner Stellung wegen bevorzugen.

Der Glaube überwindet die Kriterien dieser Welt. Die Tendenz des Menschen im Allgemeinen, aber auch des erlösten Menschen ist es, das zu suchen, was ihn selbst erhebt, aber genauso das, was erhoben ist. Religiöse Menschen handeln nicht anders, besonders, wenn sie böse sind. Ihr Verhalten sollte für uns ein direkter Kontrast sein (vgl. Jud 16).

Unterschiede um des Vorteils willen

Ein solches Fixieren des Äußeren und seine Vorteile finden wir allerdings schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit, bei Adam und Eva: „Ihr werdet sein wie Gott“ (1. Mo 3,5), damit machte die Schlange den ersten Menschen das Übergehen des Gebots Gottes schmackhaft. Eva sah auf das Äußere. Ihr ständiges Anschauen dieser Frucht brachte diese auf einmal sogar in die Mitte des Gartens, obwohl dort eigentlich der Baum des Lebens stand (1. Mo 2,9; 3,3). Je länger sie hinschaute, umso attraktiver wurde ihr diese Frucht.

Sah nicht auch Samuel auf das Äußere statt auf das, was Gott suchte (vgl. 1. Sam 16,7)? Ein Test für uns ist, von wem wir im Wesentlichen sprechen: von den Hohen und Bekannten oder in gleicher Weise von den Niedrigen und sonst Unbekannten. Laden wir diejenigen ein, von denen wir uns eine gute Reaktion für unser Ansehen erhoffen, oder auch jene, die es nicht erwidern können (vgl. Lk 14,14)?

Jakobus hebt durch diese Ermahnung den Unterschied zwischen der Herrlichkeit des Herrn und der falschen Herrlichkeit des Menschen in dieser Welt hervor. Die Gestalt dieser Welt vergeht (1. Kor 7,31). Die Herrlichkeit unseres Herrn aber ist von bleibender Art. Mit ihr will uns der Geist Gottes erfüllen, so dass wir schon heute die Unterschiede, von denen Paulus in Kolosser 3,11 und Galater 3,28 spricht und die äußerlich vorhanden sind, überwinden.

Das Ansehen von Personen ist in dieser Welt eine Art Selbsterhaltungstrieb und wird damit zum Charakter und Handeln dieser Welt. Wenn wir das nachahmen, verleugnen wir Christus in der Praxis und zudem die Wirklichkeit der Beziehung, welche die Gnade unter allen Gläubigen bewirkt hat.

Dazu wollen wir noch einmal bedenken: Man kann nur dann bereit sein, Ansehen und irdische Belohnung zu übersehen, wenn man auf den Herrn Jesus sieht, den Herrn der Herrlichkeit. Nur durch diesen Blick bekommen wir die richtigen Wertmaßstäbe für unser Leben. Armut und Bedürftigkeit vertragen sich schlecht mit der menschlichen Vorstellung von Herrlichkeit und mit menschlichen Beurteilungen. Aber mit der göttlichen Herrlichkeit sind sie sehr wohl vereinbar. Denn das Geschenk der Herrlichkeit wird heute im Inneren und nicht im Äußeren gesehen.

Jakobus zeigt im Folgenden, dass es ihm besonders darum geht, dass der Arme nicht verachtet wird. Wenn man das tut, handelt man dem Gesetz zuwider, das alle Israeliten als Gegenstände der Gunst Gottes sah. Nach diesem Gesetz war das Volk eine Einheit vor Gott und jeder Einzelne wurde als Glied ein und derselben Familie Gottes betrachtet. Das Verachten der Armen steht zugleich dem Geist wahren Christentums völlig entgegen. Der Herr fordert uns zu Demut auf und preist die Armen glücklich, lässt die wahre Größe in der Herrlichkeit finden und lehrt uns, dass das Kreuz auf der Erde direkt mit der Herrlichkeit im Himmel verbunden wird. Der Glaube sieht den Herrn der Herrlichkeit in der Erniedrigung, Ihn, der nicht hatte, wo Er sein Haupt hinlegen konnte. Und dieser Glaube wird sich zu allen denen halten, die wie Christus in der Verwerfung und im Abseits der Menschen leben.

Die Unterscheidung von arm und reich – Böses richten (V. 2–4)

„Denn wenn in eure Synagoge ein Mann kommt mit goldenem Ring, in prächtiger Kleidung, es kommt aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung herein, ihr seht aber auf den, der die prächtige Kleidung trägt, und sprecht: Setze du dich bequem hierher, und zu dem Armen sprecht ihr: Stelle du dich dorthin, oder setze dich hier unter meinen Fußschemel – habt ihr nicht unter euch selbst einen Unterschied gemacht und seid Richter mit bösen Gedanken geworden?“ (V. 2–4).

Jakobus kommt jetzt auf einen Fall zu sprechen, den er wahrscheinlich so erlebt hat, auch wenn er diesen als hypothetisch darstellt. Jedenfalls handelt es sich um ein sehr realistisches Beispiel. Durch das „denn“ werden die ersten beiden Verse miteinander verbunden. In Vers 2 kommt also die Begründung für die Ermahnung in Vers 1.

Ein immer aktuelles Beispiel (V. 2)

Das Beispiel, das Jakobus anführt, ist einfach: Es kommen zwei Menschen in die Zusammenkunft der Christen: ein Reicher und ein Armer. Das ist Vers 2. In Vers 3 lesen wir dann, dass der Reiche in jeder Hinsicht zuvorkommend, ja geradezu kriecherisch behandelt wird, während der Arme verächtlich abgefertigt und nahezu ignoriert wird. Wieder fällt die anschauliche Schilderung von Jakobus auf. Seine Beschreibung kann jeder verstehen.

Wir sehen an dieser Beschreibung auch, dass die Versammlung von Anfang an sowohl reiche als auch arme Geschwister kannte. Sie war weder eine Versammlung der Armen noch der Reichen. Sie war vielmehr die Versammlung Jesu Christi. Dazu gehörten Erlöste aller sozialen Schichten.

Die Synagoge – das örtliche Zusammenkommen

Es fällt auf, dass Jakobus hier von der Synagoge spricht. Die Wortbedeutung lässt sich aus „sun“ (Zusammen) und „ago“ (führen, bringen) ableiten. Ganz allgemein gesprochen geht es um ein Zusammenkommen von Menschen (Apg 6,9) oder den Platz des Zusammenkommens (Lk 7,5). Synagoge war damals aber zugleich die bekannte Bezeichnung für eine jüdische Versammlung, ein Zusammenkommen zur Anbetung (vgl. Mt 4,23; 6,2.5; 9,35; 12,9; 13,54; Joh 18,20; Apg 17,1.2).

An all diesen Stellen geht es um die jüdische Synagoge, letztlich also um ein Gebäude. In Hebräer 10,25 wird bemerkenswerterweise für die christliche Versammlung das Wort „Epi-Synagoge“ benutzt. Es ist interessant, dass gerade in den beiden Briefen an Judenchristen, im Hebräer- und Jakobusbrief, von der Synagoge als christlichem Versammlungstreffpunkt gesprochen wird. Gemeint ist jeweils das Gebäude bzw. die Zusammenkunft. Womöglich möchte der Schreiber des Hebräerbriefes dadurch, dass er die Präposition „epi“ voranstellt, deutlich machen, dass es ihm in diesem Fall gerade nicht um das Gebäude oder eine Versammlung in einer Synagoge geht, sondern um ein christliches Zusammenkommen.

Das ist bei Jakobus allerdings anders. Noch immer kamen diese jüdischen Gläubigen zur Zeit Jakobus‘ auf jüdischem Terrain zusammen und waren praktischerweise noch keine „Ekklesia“, keine Versammlung im äußerlich sichtbaren christlichen Charakter. Erst in Hebräer 13,13 finden wir dann die endgültige Ermahnung, aus dem Lager Israels herauszugehen. Dadurch würden auch die Christen aus dem Judentum vollständig den Charakter der himmlischen Versammlung annehmen.

Die Judenchristen waren also noch nicht völlig von den ungläubigen Israeliten getrennt, auch wenn in Kapitel 5 bereits von einer örtlichen Versammlung die Rede ist. Dass Jakobus die Synagoge sogar in seinem Brief erwähnt, lässt erkennen, wie sehr sich seine Gedanken noch in den jüdischen Gewohnheiten bewegten. Dass auch hier die Versammlung am Ort gemeint ist, wird dadurch offensichtlich, dass von Schemel und Stuhl/Sessel gesprochen wird. Das sind Arten von Möbelstücken, die man im örtlichen Versammlungsraum benutzte, die es aber nicht für Synagogen vorgesehen waren. Auch in der Apostelgeschichte lesen wir davon, dass man zu Beginn noch in den Synagogen zusammenkam (vgl. Apg 22,19; 26,11). Übrigens spricht die Verwendung des Begriffs „Synagoge“ erneut dafür, dass dieser Brief sehr früh verfasst wurde, als begrifflich noch nicht zwischen Synagoge und Versammlung (Jak 5,14) deutlich unterschieden wurde.

Ein christliches Zusammenkommen

Manche haben in Verbindung mit den Versen 4 und 6 gedacht, dass es sich hier um eine Sitzung der örtlichen Versammlung handelte, um über eine bestimmte Sache zu richten (vgl. Mt 18,15–17; 1. Kor 6,1–11). Das erscheint jedoch nicht richtig. Denn in einer solchen Zusammenkunft wäre es unwahrscheinlich, dass Fremde hineinkommen. Es ist daher eher an eine normale Versammlungsstunde zu denken, die von Anfang an offen auch für Gäste war, für Besucher, die von außen hinzukamen (vgl. 1. Kor 14,23–25). Beide Männer, die Jakobus hier nennt und die in die Synagoge kamen, waren vermutlich Menschen, die am Ort lebten, wobei der eine sichtbar reich und angesehen war, der andere eben nicht.

Jakobus spricht interessanterweise auch von „eurer“ Synagoge. Das unterstreicht, dass es hier nicht um ein jüdisches Zusammenkommen geht, sondern um ein christliches. Die Christen, an die er schrieb, hatten offensichtlich die Bestimmungsgewalt über diesen Raum und die Zusammenkunft.

Nun lesen wir, dass zwei Männer in die Synagoge hineinkamen. Zweimal ist von einem Kommen die Rede. Auch wenn beide Menschen zeitlich zur selben Zeit gekommen sein mögen, wird doch jedes Kommen als eigenständige Handlung gesehen, weil die Reaktion jeweils anders ist.

In Bezug auf den ersten Mann wird nicht direkt gesagt, dass er reich war. Sein Reichtum wird eher umschrieben. Jakobus spricht von einem goldenen Ring und seiner prächtigen Kleidung.

Der Reiche

Gold ist ein Zeichen von Reichtum. Dieser Mann trug einen goldenen Ring: Eigentlich verwendet Jakobus ein Adjektiv, das „Gold befingert“ bedeutet. Es geht also nicht einfach um einen einzelnen goldenen Ring, den dieser Mann am Finger trug. Anscheinend waren seine Finger mit Goldringen sozusagen beladen.

Das Tragen eines Rings war anscheinend normal unter Juden, jedenfalls unter wohlhabenden (vgl. Lk 15,22). In der römischen Gesellschaft trugen die Reichen an ihrer linken Hand Ringe in Fülle. Das war zuweilen eine regelrechte Zurschaustellung. Man konnte in Läden in Rom sogar Ringe für besondere Gelegenheiten mieten, die der Repräsentation dienten. Wahrscheinlich hat sich diese Gewohnheit auch über die Provinzen verbreitet, wo die Juden wohnten, an die sich Jakobus wendet.

Dieser Mann trug aber nicht nur diesen goldenen Ring, sondern auch noch prächtige Kleidung. Prächtig heißt eigentlich hell und strahlend. Es bezieht sich auf glänzende, funkelnde Farben der Kleidung. Lukas benutzt das Adjektiv mehrfach. Er beschreibt so die Kleidung, die Herodes und seine Soldaten benutzten, um Jesus zu verspotten (Lk 23,11). Auch die glänzenden Kleider des Engels, der Kornelius erschien, werden so genannt (Apg 10,30). Wahrscheinlich müssen wir uns darunter also ein glänzendes Gewand vorstellen, vielleicht aus kostbarem Leinenstoff oder Seide, ein Kleidungsstück, das jedem ins Auge stach.

Möglicherweise soll der Ring besonders ein Hinweis auf die hohe Stellung sein, die dieser Mann einnahm, während die Kleidung sein Vermögen und seinen sozialen Rang andeutete. In jeder Hinsicht, offenbar auch im Blick auf sein Auftreten, war dieser Mann höhergestellt. Gründet sich nicht oft das Vertrauen der Reichen auf ihren Reichtum (vgl. Spr 18,11; Jak 1,11), leider sogar das der gläubigen Reichen?

Der Arme

Im Gegensatz dazu kam ein anderer Mann mit schmutziger, getragener und unansehnlicher Kleidung herein. Er war vielleicht ein arbeitender, armer Mann, der nur über ein einziges Gewand verfügte, das daher abgetragen und befleckt war. Es kann kein Zufall sein, dass Jakobus für „unsauber“ dasselbe Wort verwendet wie in Kapitel 1,21 für Unsauberkeit, die unsaubere Gesinnung. Und doch: Was für ein Unterschied zwischen diesen beiden Bedeutungen! Innerlich unsauber zu sein ist Sünde. Äußerlich unsauber war hier vermutlich unverschuldet.

Dieser Mann war nicht nur arm. Man könnte sogar übersetzen: bettelarm. Er war sozusagen ein Bettler, jedenfalls im Vergleich zu dem anderen Menschen. Sein Gewand ist nicht durch Faulheit schmutzig, sondern wegen der armseligen Verhältnisse, in denen er lebte. Sein Feiertagsgewand war zugleich sein Alltagsgewand.

Nun sind zwei Menschen, die äußerlich nicht unterschiedlicher sein könnten, an einem Ort zusammen. Millionär und Bettler friedlich zusammen: Wo ist das möglich, außer in der Versammlung Gottes? So sollte es sein ...

Selbst dem erlösten Menschen gefällt das aber oft nicht, weil er zu sehr auf das Äußere fixiert ist. Kaum etwas offenbart die Selbstsüchtigkeit des menschlichen Herzens stärker als der Weg, den wir im Blick auf die Reichen und kulturell Hochstehenden gehen. Und wie entlarvend ist es, wie leicht wir die Armen und Unwissenden ignorieren! Es ist schon schlimm, solch ein Verhalten in der Welt beobachten zu müssen. Es ist noch viel trauriger, so etwas unter denen erkennen zu müssen, die sich nach dem Namen Gottes nennen, der keine solchen Unterschiede macht.

Die Behandlung von reich und arm (V. 3)

Vers 3 stellt eine direkte Fortsetzung von Vers 2 dar. Das „aber“ deutet an, dass die Beschreibung von Vers 2 noch nicht ausreicht, um das ganze Bild vor Augen zu haben. So findet hier die genannte Bedingung, das „wenn“ aus Vers 2, ihre Weiterführung. In diesem Vers lernen wir, wie die Christen in der Versammlung auf das Hereinkommen der beiden unterschiedlichen Personen reagierten.

Diese Reaktion kann man in aller Kürze so zusammenfassen: Der Reiche wurde hofiert, der Arme ignoriert. Dieses Verhalten ist fast „natürlich“. Denn der Reiche fiel allen auf. Das traf zwar auch auf den Armen zu, aber bei ihm in einer gegensätzlichen Weise. Vielleicht spielt hier eine Rolle, dass in der frühen christlichen Versammlung (Gemeinde) Arme und Niedrige überwogen (1. Kor 1,26). Einen einflussreichen Mann für ein christliches Zusammenkommen zu gewinnen, war also etwas ganz Besonderes. Das mochte sogar in mancher Hinsicht sehr hilfreich sein. Aber die Einzelnen standen in Gefahr, diese Hilfe im Blick auf menschliche Überlegungen und nicht bei Gott zu suchen.

Die Reaktion auf den Reichen

Man sah also auf den Reichen mit der prächtigen Kleidung. „Sehen auf“ könnte man auch übersetzen mit „sich kümmern um“. Es bedeutet, auf diesen Mann mit besonderem Wohlwollen zu sehen, um ihm Gunst zu erweisen (und Gunst von ihm zu erwarten und zu erhalten). Das „ihr“ zeigt, dass offensichtlich alle angesichts seines Reichtums mit Bewunderung geradezu auf ihn starrten. Die Wiederholung der Kleidung macht deutlich, dass sich die Geneigtheit allein auf die äußere Erscheinung bezog.

Dem Reichen sagte man sozusagen: „Du Reicher, nimm den ganz besonders bequemen Sitz ein!“ Das „du dich“ macht die Einladung sehr persönlich für diesen Mann. Ihm wurde ein zumindest bequemer, wenn nicht besonders ehrenvoller Platz gegeben, und das nur deshalb, weil er reich war bzw. diesen Eindruck vermittelte.

Natürlich sprach nicht die ganze Versammlung. Aber sie identifizierte sich mit dem, was der eine Bruder an ihrer Stelle sagte. Wer hier spricht, wird nicht weiter erörtert. Es war jedenfalls jemand, der am Ort Autorität besaß, vielleicht ein Ältester (vgl. Jak 5,14).

Die Reaktion auf den Armen

Ganz anders ging man mit dem Armen um. Ihm gab man nur einen Stehplatz oder einen schlechten Sitzplatz. Ob hier Saalordner oder Aufseher tätig waren? Wir wissen es nicht. Jedenfalls durfte sich der Arme entweder in die Ecke stellen, oder er sollte sich unter den Schemel setzen. Er musste also auf dem Boden Platz nehmen.

Vor diesem Hintergrund drückt das „aber“ zu Beginn des Verses einen Gegensatz aus und deutet die Parteilichkeit inmitten der örtlichen Versammlung an. Auch der arme Mann wird wie der Reiche persönlich angesprochen. Ihm aber wird keine wirkliche Wahl vorgestellt. Ihm wird ein Platz ohne Komfort und Bequemlichkeit zugewiesen.

Man kann sich fragen, was es mit dem Schemel auf sich hat. Vermutlich saßen einige führende Brüder der Versammlung auf bestimmten bevorzugten Stühlen, wie wir das von den pharisäischen Lehrern ebenfalls lesen (Mt 23,2). Bei diesen Lehrstühlen stand wohl ein Schemel, auf den die Füße gestellt oder gelegt werden konnten. Dadurch wurde die Stellung dieser Lehrer hervorgehoben.

Jedenfalls hatte der Sprechende selbst einen bequemen Sitz und sogar einen Schemel. Er gab aber seinen eigenen Platz nicht auf, sondern wies dem Kommenden einen Platz an seinem Fußschemel an, in schlimmer Abschätzigkeit sogar unter diesem. Der Arme durfte sich also nicht einmal auf diesen Schemel setzen. Damals trug man in der Regel Sandalen. Wer unten am Schemel oder sogar darunter saß, bekam also die Ausdünstungen der Füße zu spüren.

Wahrscheinlich saß der Sprechende in der Nähe des Eingangs. Er war für alle zu sehen, dem Armen dagegen wurde ein „unsichtbarer“ Platz zugewiesen. dem Reichen wiederum einer, der für alle sichtbar war. Da von „meinem“ Schemel gesprochen wird, könnte in Vers 3 tatsächlich von einem Ältesten in der Versammlung die Rede sein, vielleicht auch von einem Lehrer im Sinn von Matthäus 23,10, wo er Meister genannt wird. Insofern weist Jakobus auf die Drahtzieher der falschen Haltung gegenüber Armen hin, die auch die anderen Christen mit in eine falsche Richtung zogen.

In der Welt – unter Christen

Wenn solch eine ungerechte Behandlung in einer weltlichen Versammlung passiert, wundert es uns nicht. Aber kann so etwas in einer christlichen Versammlung vorkommen? Was ist weniger mit Christus übereinstimmend als ein Mann, der seinen Reichtum durch einen goldenen Ring und glänzende Kleider vor Augen führt? Christus war nie in irgendeiner Weise fein gemacht. Er hatte sich eine arme Familie ausgesucht. Es gab nur einen Augenblick, wo Er scheinbar kostbare Kleidung tragen musste: als Er von sündigen und boshaften Menschen zum furchtbaren Spott derer gemacht wurde, die Ihn kreuzigen würden. Da wurde ihm entsprechende Kleidung umgehängt. Christus besaß allen Reichtum. Aber Er kleidete sich nicht damit, sondern wurde um unsertwillen arm.

Hat Jakobus das in Vers 3 Geschilderte selbst erlebt? Fast möchte man dies vermuten, wenn man seine plastischen Worte hier hört. Es ist leider peinlich, bekennen zu müssen, dass wir heute oft die gleichen Fehler begehen. Wenn ein Besucher hereinkommt, neigen wir eher dazu, ihn nach seinem äußeren Erscheinen zu beurteilen als nach dem, was er innerlich ist. Kleidung, Hautfarbe, Mode, Name, Begabung und andere oberflächlichen Aspekte haben oft mehr Gewicht als die Furcht Gottes, die sich vielleicht im Leben einer solchen Person zeigt. Wir müssen unsere eigenen Maßstäbe hier überprüfen.

Die göttliche Beurteilung des Verhaltens (V. 4)

Im vierten Vers lesen wir jetzt, wie Gott durch seinen Diener Jakobus dieses Verhalten in der örtlichen Versammlung beurteilt. Wenn man in der Versammlung einen Unterschied zwischen Armen und Reichen macht, ist Gottes Urteil, dass man dadurch zu einem Richter wird, aber zu einem mit bösen Gedanken.

Wenn wir unsere Augen auf die Unterscheidungen von arm und reich, verachtet und angesehen richten, wie wir sie in der heutigen Welt finden, benutzen wir die Maßstäbe dieser alten, Gott feindlichen, bösen Welt. Wir werden dagegen aufgerufen, alles nach den Grundsätzen der neuen Welt zu beurteilen. Darin gibt es Menschen, die sich bewusst sind, dass der niedrige Bruder erhöht ist, weit über alles Hohe und Erhabene in dieser Welt.

Schon im ersten Kapitel haben wir gelernt, dass der reiche Bruder sich seiner Niedrigkeit rühmen soll. Er hat gelernt, dass er vor Gott in sich selbst nichts ist und dass sein Reichtum schnell vergehen kann (1,9.10). Genau das sind die Maßstäbe dieser neuen Welt und wir müssen uns fragen, wonach wir in solchen Umständen urteilen.

Die Gläubigen, an die sich Jakobus richtete, trafen eine Unterscheidung, die in der alten Welt ganz normal ist, die aber in der neuen nicht gilt. Das heißt nicht, dass wir diese Unterschiede einfach aufheben sollten, indem wir uns bemühen, in buchstäblichem Sinn die Armen reich und die Reichen arm zu machen. Das ist ein Umverteilungskampf, den manche politischen Parteien heute führen. Das finden wir in Gottes Wort nicht. Das ist auch in 2. Korinther 8,13.14 nicht gemeint, wo der Apostel von „Gleichheit“ spricht. Der Verweis auf das Manna und die dort existierenden Unterschiede zeigt, dass Gott keinen Ausgleich in sozialer oder materieller Hinsicht bewirken möchte, wohl aber ein Stillen der existenziellen Bedürfnisse.

Wir haben mit der alten Welt überhaupt nichts zu tun. Wir sind aus ihr herausgenommen worden (Gal 1,4) und gehören nicht mehr zu ihr. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Welt zu verbessern oder zu verändern. Unsere Aufgabe besteht darin, in diesen Umständen etwas von der neuen Welt auszustrahlen. Diese Gläubigen jedoch, zu denen und von denen Jakobus spricht, führten durch die fleischliche Beurteilung böse Gedanken inmitten der Gläubigen ein. Es ist das Fleisch, das den Armen geringschätzig behandelt, nur weil er arm ist, oder den Reichen verherrlicht, nur weil er reich ist. Und oftmals können beide Personen für ihre Lebenssituation nichts oder nicht viel.

Das sündige Fleisch soll in unserem Leben keinen Einfluss haben. Wir sollten unseren Blick stattdessen auf den Herrn Jesus richten, den Herrn der Herrlichkeit. Wir sollten Gott danken, dass wir in der Versammlung miteinander für den Himmel und auch in den himmlischen Dingen leben können. Dort machen wir nicht einmal Unterschiede im Blick auf das unterschiedliche Maß an geistlicher Gesinnung, erst recht nicht, was die Dinge betrifft, die in dieser Welt gelten.

Falsche Unterscheidungen machen

Statt „habt ihr nicht unter euch einen Unterschied gemacht“ kann man auch übersetzen: Seid ihr nicht mit euch selbst in Streit geraten? Oder: Habt ihr nicht bei euch selbst gezweifelt, nämlich so, dass sich Leben und Lehre widersprechen? Die Art der Fragestellung von Jakobus macht deutlich, dass die Antwort eindeutig „ja“ lauten muss. So wird aus dieser Frage zugleich eine Anklage an das Gewissen dieser Gläubigen. Jakobus musste diese Schlussfolgerung im Licht der zuvor angesprochenen Verhaltensweisen ziehen.

Er entlässt die Gläubigen nicht aus ihrer Verantwortung. „Unter euch“: Das kann sich sowohl auf die innere Haltung der Versammlung bzw. jedes Einzelnen als auch auf die äußerlich sichtbare Handlungsweise beziehen. Wahrscheinlich bezieht sich Jakobus auf die äußerliche Handlung, die aber normalerweise aus dem Inneren hervorkommt. Dieses „unter euch“ könnte auch darauf hindeuten, dass es nicht allein um einen Sonderfall geht, als zufällig ein Reicher zu ihnen kam, sondern dass es auch ihre „normalen“ Verhaltensweisen innerhalb der Versammlung betraf, in der sowohl Reiche als auch Arme waren.

Wir haben schon mehrfach Parallelen zu Matthäus 23 gezogen. Man könnte diese Ermahnung von Jakobus auch so verstehen, dass er den Gläubigen eine Verletzung der Belehrungen des Herrn vorwirft. Hatte der Herr nicht darauf verwiesen, dass sie alle Brüder ohne Unterschied waren (vgl. Mt 23,8–11)? Warum machten sie dann diese Klassifizierungen? „Lasst euch nicht Meister nennen; denn euer Meister ist nur einer, der Christus. Der Größte aber unter euch soll euer Diener sein“ (vgl. auch Lk 14,11).

Wenn ein Richter parteiisch ist, sind seine Gedanken zwingend böse. Sie werden dann nicht auf der Grundlage des Wortes Gottes, sondern nach dem Kriterium geformt, was seinem persönlichen Vorteil am besten zuträglich ist. So jemand richtet mit bösen Gedanken, denn er urteilt nach den Prinzipien dieser Welt, die Ansehen und Herrlichkeit hier auf der Erde sucht. Das war böse, ungerecht und destruktiv. Damit aber wurde auch der Charakter der Welt deutlich. Solche Unterscheidungen kommen aus unserem Fleisch. Für uns dagegen sollte es keine Differenzierung geben als nur die, sich von der Welt zu trennen.

Sollen wir überhaupt richten?

War es überhaupt recht, dass sie sich durch solche Unterscheidungen zu Richtern erhoben? Meint Jakobus nur das geistliche Richten und Entscheiden in dieser Sache? Vielleicht nimmt er auch diese fleischliche Unterscheidung im Blick auf Reiche und Arme zum Anlass, ihren grundsätzlichen Richtgeist zu tadeln. Denn es ist wahrscheinlich, wenn man in einer Sache fleischlich urteilt, dass sich das auch auf andere Bereiche ausdehnt. Hatten sie sich vielleicht im Blick auf das Richten, wie wir es in 1. Korinther 6,1–5 finden, zu Richtern aufgespielt?

Wie umfassend diese Ansprache von Jakobus auch sein mag, es ging ihm nicht um besondere Gerichtsverhandlungen, sondern um den schlechten moralischen Zustand inmitten seiner Briefempfänger. Dieser offenbarte sich schon dadurch, dass sie andere und einander richteten. In diesem Sinn finden wir hier ein Beispiel für die Belehrungen von Matthäus 7,1.2, das uns warnt, überhaupt andere zu richten. Schon im Alten Testament wird letztlich immer wieder davor gewarnt.

Das Gericht liegt auf der Welt und der Richter steht vor der Tür (Jak 5,9). Wir sind allerdings keine Richter und haben auch nicht die Aufgabe zu richten. Unser Auftrag ist es, solange der Herr noch nicht gekommen ist, uns von dieser Welt unbefleckt zu halten und wahren Gottesdienst zu üben.

Wir empfinden in diesen Worten eine regelrechte Entrüstung bei Jakobus. Galt nicht auch hier: „Reiche und Arme begegnen sich – der Herr hat sie alle gemacht“ (Spr 22,2)? Das menschliche Herz ändert sich nicht. Denken wir nicht gelegentlich an den Reichen, dass er mehr Geld geben kann? Erhoffen wir uns von ihm nicht manche Hilfe, so dass wir ihm mehr Ehre erweisen als anderen?

Gottes Urteil: Wahrer Reichtum – falscher Reichtum (V. 5–7)

„Hört, meine geliebten Brüder: Hat Gott nicht die weltlich Armen auserwählt, reich zu sein im Glauben, und zu Erben des Reiches, das er denen verheißen hat, die ihn lieben? Ihr aber habt den Armen verachtet. Unterdrücken euch nicht die Reichen, und ziehen nicht sie euch vor die Gerichte? Lästern nicht sie den guten Namen, der über euch angerufen worden ist?“ (V. 57).

In den Versen 5–7 lernen wir jetzt, wie Gott die Dinge beurteilt. Er hat die weltlich Armen, wenn sie an Ihn glauben, nicht nur erwählt. Er hat ihnen sogar einen ganz besonderen Platz gegeben. Zugleich entlarvt Jakobus den wahren Charakter der Reichen, die von den Gläubigen so hoch geachtet wurden.

Weltlich arm – reich bei Gott (V. 5)

Jakobus leitet seine weiteren Worte ein mit: „Hört, meine geliebten Brüder“. Er verlangt die volle Aufmerksamkeit seiner Briefempfänger. Das ist die kraftvolle und durchgreifende Sprache eines Schreibers, der sich nicht zum ersten Mal so äußert (vgl. Apg 15,13). Bevor er die Torheit ihrer Gedanken deutlich macht, versichert er seinen Zuhörern seine Liebe. Sein Motiv, sowohl zu reden als auch zu tadeln, ist die Liebe. Jeder, der in der Verantwortung steht, andere zu tadeln, sollte wie Jakobus handeln.

Jakobus zeichnet nun einen deutlichen Kontrast zwischen der Art und Weise, wie Gott handelt, und der Einstellung vieler bloßer Bekenner des Glaubens. Auch wenn Gläubige in unserer heutigen Welt nach den Maßstäben der Menschen arm sind, sind sie doch Erben der Reichtümer des zukünftigen Königreichs, das Gott denen verheißen hat, die Ihn lieben.

Wie also sieht Gottes Urteil aus im Unterschied zu dem der Gläubigen, an die sich Jakobus wendet? Gott hat die weltlich Armen, das heißt solche, die nach den Maßstäben der heutigen Welt arm sind, auserwählt, reich zu sein im Glauben. Worauf richtet sich ihr Glaube? Auf den Herrn der Herrlichkeit (V. 1). So schließt sich der Kreis dieses Abschnitts.

Gottes Herz für die Armen, von Christus offenbart

Während der Mensch den Reichen seine Aufmerksamkeit schenkt, fängt Jakobus unter der Leitung des Heiligen Geistes bei den Armen an. Auch darin folgt er seinem Meister. Verkündigte nicht auch der Herr Jesus gerade den Armen die gute Botschaft (vgl. Lk 4,18; Jes 61,1)? Johannes dem Täufer ließ Er ausrichten, dass den Armen die gute Botschaft gebracht worden war (vgl. Mt 11,5). Dazu passt, dass Gott gerade diejenigen, die nach den Maßstäben der Welt arm sind, auserwählt hat.

So führte die Armut dieser Menschen zu Reichtum in geistlichen Dingen, denn Gott machte sie zu Erben seines Königreiches. Wenn wir also Arme verachten, drehen wir die Wertschätzung Gottes geradezu um. Wie ganz anders war da unser Herr. Armut ist Er freiwillig eingegangen. Er wählte die arme Familie von Joseph und Maria aus, um in ihr aufzuwachsen. Sie konnten kein großes Opfer, sondern nur zwei Tauben für Marias Reinigung in den Tempel bringen (vgl. Lk 2,22–24).

So ist und bleibt unser Herr das beste Vorbild für die Armen. Er wählte ja nicht nur eine arme Familie aus. Er war bereit, als Baby in eine Krippe gelegt zu werden. Später finden wir seine Worte zu Armen und Reichen, die zugleich die Beurteilung Gottes offenbaren (vgl. Lk 6,20–25).

Auch Paulus hat dasselbe Urteil im Blick auf Arme und Reiche (1. Kor 1,26 ff.). Damit reihen sich Jakobus und Paulus in die Gedanken Gottes ein. Hatte Gott nicht auch das kleine und arme Israel erwählt (5. Mo 7,6 ff.)? Gott gab den Armen und Elenden seine besondere Fürsorge (2. Mo 22,20 ff.; 5. Mo 24,14; Ps 146,7 ff.; Spr 14,31). Den Elenden und Vernachlässigten inmitten der Menschen und besonders in seinem Volk galt seine ganz besondere Freundlichkeit und Güte. Man kann auch an die Psalmworte Davids denken: „Du hast in deiner Güte für den Elenden zubereitet, o Gott!“ (Ps 68,11). War nicht sein eigener Sohn freiwillig elend und arm (Ps 40,18)? So richtet sich Gottes Auge in besonderer Weise auf diejenigen, die seine Verwerfung teilen und dadurch ebenfalls elend und arm sind (Ps 41,2).

So finden wir die Güte und das Erbarmen Gottes gegenüber dem Armen schon im Gesetz, ja im ganzen Alten Testament. Aber das scheint in der Zeit Christi verloren gegangen zu sein. Heute ist das leider auch oft wahr, wo so viel von Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit die Rede ist. Wenn wir uns Gott und den Herrn Jesus zum Vorbild nehmen, werden wir diese besondere Wertschätzung und Sorge für die Armen teilen.

Gottes Wertmaßstäbe

Nach weltlichen Maßstäben gibt es viele Menschen und Christen, die äußerlich „arm“ sind. Bei Gott sind diese „armen Erlösten“ aber Auserwählte. Er macht damit deutlich: In der Versammlung hört jede Verachtung auf. Wer also Reiche bevorzugt, tut das nicht nur in einer kriecherischen Art und Weise und handelt im Unterschied zu Christus. Er tut das auch im Widerspruch zum Gesetz und noch mehr zum Evangelium und wahrem Christentum. Man leugnet die eigentliche Beziehung, die jeder Erlöste zu Gott besitzt, und stellt sie letztlich zur Seite als eine zweitrangige Sache gegenüber den täglichen Umständen und irdischen Errungenschaften.

Was wollte man den Armen sagen, wenn man ihnen das Evangelium predigte? Ihr werdet zwar erlöst, bekommt aber nur einen hinteren Platz im Himmel und unter Christen?

Damit wird in diesen Versen zunächst die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das Evangelium nicht nur Armen gepredigt wird, sondern dass sie solche sind, die als eine Art „Klasse“ von Gott auserwählt worden sind. Der demütigende Zustand der Armen ist durch Gnade ihr besonderer Vorteil, wenn sie von Gott gerufen werden und ihnen das Evangelium verkündigt wird. Denn es gibt wohl kaum eine stärkere Knechtschaft als die, die in der Gesellschaft durch Werte und Fokussierung auf Vermögen und Reichtum bewirkt wird. Der Herr richtete diese böse Haltung während seines Lebens in scharfer Weise allein schon dadurch, dass Er sich außerhalb dieser anmaßenden Systeme und Schulen aufhielt. Er hielt sich zu den Verachteten und Ausgegrenzten.

Die Bevorzugung des Reichen steht aber nicht nur im Widerspruch zu Gottes Auswahl der Armen, sondern auch zu den feindseligen Handlungen der Reichen. Die zwei Männer, von denen Jakobus in Vers 2 spricht, werden ab Vers 5 in der Beurteilung Gottes sogar zu Repräsentanten zweier Gruppen von Menschen.

Auserwählung

Wenn hier von Auserwählung die Rede ist, will Jakobus damit sagen, dass diese Gläubigen Zielpunkt der Liebe Gottes sind. Er hat für sie ein wunderbares Teil vorbereitet. Gottes Ziel für die erlösten Armen ist,

  • dass sie reich sind im Glauben, und
  • dass sie Erben des Königreiches sind.

Ähnliches hatte Jakobus, wie wir gesehen haben, schon in Kapitel 1,9 gesagt. Er stellt hier also nicht als Gottes Ziel vor, dass die Armen die Reichen verurteilen und ihren Reichtum umverteilen sollen. Er redet auch nicht von irdischen Veränderungen. Stattdessen zeigt er, dass der Reichtum des Glaubens viel wichtiger ist als irdisches Vermögen. Das Erbe in Gottes Königreich ist weitaus wertvoller als alles, was ein Mensch hier auf der Erde erben könnte.

In dieser Welt mag das als Vertröstung auf einen Nimmerleinstag verspottet werden. Dieser Vorwurf aber geht ins Leere, denn sowohl der Glaube als auch das Königreich Gottes sind Realitäten der Gegenwart und der Zukunft. Dennoch liegt der Schwerpunkt in diesen beiden Segnungen auf unterschiedlichen Zeitpunkten. Reich zu sein im Glauben bezieht sich besonders auf das gegenwärtige Leben. Erben des Königreiches zu sein hat dagegen schwerpunktmäßig mit der künftigen Zeit zu tun. Der Christ lebt also in der Gegenwart mit einem Blick auf die Zukunft. Er vergisst nie den jeweils anderen Aspekt und hat immer beides vor Augen.

Unterschiedliche Aspekte der Auserwählung

In Bezug auf die Auserwählung haben wir wieder einen Fall, bei dem Jakobus und Paulus zwar denselben Ausdruck verwenden, ihm aber einen unterschiedlichen Inhalt geben.

Paulus betont bei der Auserwählung den ewigen Ratschluss Gottes. Die Gläubigen heutiger Zeit wurden vor Grundlegung der Welt (vgl. Eph 1,4) auserwählt. Jakobus dagegen bezieht sich vor allem auf die sozusagen praktische Wahl von Menschen, die „weltlich Armen“, die also in den Augen und nach den Maßstäben dieser Welt arm waren. Für sie hat Gott ein wunderbares und erhabenes Ziel vorgesehen. Auch davon hat der Apostel Paulus gesprochen. Den Korinthern, die so hoch von sich dachten, musste er sagen, dass Gott das Unedle der Welt und das Verachtete auserwählt hat (1. Kor 1,26.29). Dazu gehörte auch der größte Teil der Korinther selbst.

Arme in den Augen der Welt sind somit Menschen, denen nach der Beurteilung der Ungläubigen irdische Besitztümer fehlen. Arm meinte ursprünglich sogar solche, die sich ihrer materiellen Nöte bewusst sind. Das war damals oft mit der Notwendigkeit des Bettelns verbunden. Später wurde dieses Wort allgemeiner dafür benutzt, die Armen im Unterschied zu den Reichen zu zeigen.

Das Handeln dieser Gläubigen, an die sich Jakobus wendete, stand somit im Gegensatz zum Handeln Gottes. Für Ihn spielte bei der Erwählung die Frage irdischen Reichtums keine Rolle und wenn, dann sind es besonders die Armen, die Er erwählte. Der Akt der Auserwählung selbst ist abgeschlossen (daher: Aorist Indikativ).

Zugleich aber müssen wir sorgfältig lesen. Hier steht nicht, dass alle Armen gerettet werden, denn wir wissen, dass es manche Armen gibt, die Jesus Christus als Retter ablehnen. Jakobus zeigt vielmehr, dass ihre Armut sie nicht auf einen Platz geistlichen Nachteils im Vergleich zu den Reichen bringt. Sie sind sogar in dem Sinn bessergestellt als die Reichen, als es für sie oft leichter ist, sich zu bekehren und dann den rettenden Ratschluss Gottes zu verstehen (vgl. Mk 10,22–25). Ihre Auswahl bedeutet im Übrigen kein Verdienst ihrerseits. Auch für sie ist die Auserwählung das Ergebnis souveräner, unverdienter Gnade.

Reich im Glauben

Die Welt sah diese Gläubigen also als armselig an, Gott dagegen sah sie als reich im Glauben an. Ihre materielle Armut und ihr geistlicher Reichtum fallen sogar zusammen. Was heißt es nun, reich im Glauben zu sein? Dieser Ausdruck bedeutet nicht, dass der Glaube ihr Reichtum war.

Glaube ist das persönliche Vertrauen auf Gott und sein Evangelium. Er ist sozusagen die Sphäre oder der Bereich, in dem man seinen Reichtum kennt und genießt. Ihr Reichtum bestand aus ihrer Errettung und allen Segnungen, die damit verbunden sind. Glaube ist die offene Hand der Seele, um alle Angebote Gottes aufzunehmen, wie jemand einmal geschrieben hat. Der geistliche Wohlstand wird nicht durch gute Werke bewirkt, sondern durch Glauben in Anspruch genommen.

Reich im Glauben zu sein wird so durch göttliche Gnade zum direkten Gegensatz ihrer niedrigen Umstände hier auf der Erde. Der Glaube machte sie alle reich, auch wenn sie sonst nichts besaßen. Glaube und Liebe würde sie nun gewissermaßen ehren, so wie Gott es einmal öffentlich vor dem ganzen Universum tun wird.

Wer reich im Glauben ist, ist auch reich im Blick auf Gott (Lk 12,21). Paulus hatte nichts und doch alles (2. Kor 6,10). Der Versammlung in Smyrna wird gesagt: „Ich kenne deine Armut, du bist aber reich“ (Off 2,9).

Wichtig ist, dass wir verstehen, dass die Betonung in diesen Versen auf Gottes Handeln, auf seiner Auswahl und nicht auf unserem Verdienst liegt. Es geht um die Gnade Gottes. Wenn die Errettung und geistlicher Reichtum auf der Grundlage von Verdienst geschenkt würden, wäre das alles nicht Gnade. Gnade umfasst Gottes unumschränkte Wahl derer, die seine Errettung nicht ererben und nicht verdienen, wie sich der Apostel Paulus ausdrücken würde (Eph 1,4–7; 2,8–10).

Erben des Königreiches

Die armen Gläubigen sind nicht nur reich im Glauben, sondern auch zu Erben des Königreiches gemacht worden. Bei „Reich“ geht es immer darum, dass ein Herr oder Herrscher in königlicher Weise regiert. Ein König hat seine Gesetze, aufgrund derer er seinen Herrschaftsbereich regiert. Davon spricht Jakobus später in Vers 8: vom königlichen Gesetz. Eingehen werden in dieses Reich alle, die Gott lieben, also die Erlösten.

Es ist ein herrliches Wissen für uns Gläubige, dass wir ein unverderbliches Erbe besitzen, seien wir reich oder arm (vgl. 1. Pet 1,3.4). Hier aber wird es ganz besonders den Armen zur Ermunterung und Motivation vorgestellt. Gläubige mögen heute in dieser Welt unbekannt und arm sein. Doch kennen sie die herrliche Erwartung, mit ihrem souveränen Herrn ein Königreich zu erben (Mt 25,34). Sie sind Erben durch ihre Beziehung zu dem König. Diese Beziehung ist von Gott geschenkt und durch unseren Glauben bewirkt, das heißt durch ihn aktiviert worden. Mit anderen Worten: Erbe des Königreiches wird man ebenfalls nicht durch Werke, sondern durch eine persönliche Beziehung zum Herrscher des Königreichs, also durch die neue Geburt.

Hier finden wir nebenbei bemerkt das einzige direkte Vorkommen des Reiches in diesem Brief. Christus hat sein Königreich bei seinem ersten Kommen eingeführt. Nun regiert Er im Leben derer, die Ihn als ihren Souverän angenommen haben. Das Königtum in seiner vollen Offenbarung ist noch zukünftig und wartet auf die Rückkehr des Königs in Herrlichkeit (Mt 25,31; 1. Kor 15,50–58; 2. Tim 4,1; Tit 2,11–13).

Der Glaube sieht alles in Verbindung mit diesem zukünftigen Reich. Was bedeutet denn die heutige Welt für den Herrn der Herrlichkeit? Es ist die Welt, die Ihn gekreuzigt hat. Hatte der Herr Reichtümer in dieser Welt? Er hatte nicht einmal einen Platz, wo Er sein Haupt hinlegen konnte (Mt 8,20). Seine tiefste Armut sehen wir am Kreuz. Nicht einmal seine Geburt, die schon ein solch gewaltiges Licht auf seine Erniedrigung scheinen lässt (vgl. 2. Kor 8,9), offenbart in gleicher Weise diesen Mangel. Diese äußerliche Armut war kennzeichnend für den Platz, den der Herr Jesus in dieser Welt hatte.

Hat Er als der Herr der Herrlichkeit irgendeine Verbindung mit der heutigen Welt? Nein, der Glaube sieht auf die neue Welt, auf das Königreich Gottes, das einmal hier auf der Erde errichtet werden wird. Das wird geschehen, wenn der Herr Jesus in Herrlichkeit vom Himmel zurückkommen wird. Er erduldete um der vor Ihm liegenden Freude die Verachtung und Hinrichtung dieser Welt (vgl. Heb 12,2). Darin ist Er ein Ansporn für uns.

Verheißen denen, die Ihn lieben

Wir müssen beachten, dass das Reich „denen verheißen ist, die ihn lieben“. Die meisten der Briefempfänger werden vermutlich darauf hingewiesen haben, dass das Königreich den Juden als Nation verheißen worden war. Und viele bestanden noch immer darauf, dass dies nur unter Ausschluss aller anderen Nationen denkbar wäre. Das war aber ein Irrtum. Es ist denen verheißen, die Gott lieben, seien sie Juden oder Griechen, wie wir es in den Schriften des Apostels Paulus finden.

Das alles war für die Juden schwer zu verstehen. Dies ist übrigens auch ein wesentlicher Grund hinter dem Ausspruch des Apostels Petrus, dass einige der Briefe von Paulus nicht leicht zu verstehen seien (2. Pet 3,16). Warum war das für sie so schwierig zu erfassen? Sie meinten, allein schon aufgrund ihrer Abstammung Erben dieses Königreiches zu sein. Nun aber mussten sie lernen, dass Gott sein Reich denen verheißt, die Ihn lieben, und zwar unabhängig davon, wo sie herkamen und was für eine soziale Stellung sie besaßen.

Jakobus sagt, dass dieses Reich verheißen worden war. Dieses Wort wurde im klassischen Griechisch oft im Blick auf freiwillige Gaben und Geschenke benutzt. Es passt hier und an den anderen Stellen des Neuen Testaments zu den göttlichen Verheißungen. Gottes Treue im Blick auf seine Verheißungen gibt dem Gläubigen Sicherheit, dass Gott diese Verheißungen wirklich erfüllen wird.

Jakobus benutzt an dieser Stelle die Zeitform (Aorist). Sie lässt ihn sozusagen zurückschauen und zeigt, dass das Versprechen eine Tatsache ist: Gott selbst hat den Gläubigen diese Verheißungen gegeben. Ihr Erbe ist kein plötzlicher Einfall, sondern ein lange zurückliegendes Geschenk. Das sollte für jeden Erlösten den Wert dieser Verheißung und seines Inhalts verdeutlichen.

Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Verheißung ist, dass man Gott liebt. Diese Wendung finden wir öfter im Neuen Testament (vgl. Jak 1,12; Röm 8,28; 1. Kor 2,9). Die Armen haben also eine Verheißung. Aber die Voraussetzung besteht nicht darin, dass man arm ist, sondern dass man Gott liebt. In diesem Sinn kann man diesen Vers mit der herrlichen Verheißung des Herrn in Matthäus 5,3 (vgl. Lk 6,20) verbinden. Man kommt nicht durch Armut ins Reich, sondern dadurch, dass man als Armer glaubt und liebt. Dieser Glaube führt dazu, dass man den Herrn liebt (vgl. Röm 5,1–11; Eph 1,13.14; 1. Joh 4,9,10).

Schon in Kapitel 1,12 hatte Jakobus von dieser Liebe gesprochen. Die Krone des Lebens und das kommende Königreich sind parallele, eigentlich synonyme Gedanken. Hier wird unterstrichen, dass ein Armer diesen Segen durch seinen Glauben erhält. Diese Liebe zu Gott ist ewig von ihrem Charakter und gehört zum ewigen Leben (1. Joh 4,7.8). So ist diese Liebe eine Folge davon, dass man durch Glauben die Offenbarung von Gottes erlösender Liebe in Christus angenommen hat (1. Joh 4,14–19).

Das alles zeigt uns klar und deutlich: Wahre Größe und echter Reichtum sind nur in Gott zu finden. Er schenkt uns alles, was seine Liebe Menschen geben möchte. Er gibt es denen, die Ihn wiederlieben, weil Er sie zuerst geliebt hat.

Arme verachtet – von Reichen unterdrückt (V. 6)

In diesem Vers wird das große religiöse Bekenntnis mitsamt seinen Bekennern auf den Prüfstand gestellt. Wie beurteilt es die Welt? Wie behandelt es die Gläubigen? Und vor allem: Was für einen Wert sieht es im Namen Christi? Ein großartiges christliches Bekenntnis entpuppt sich als leer, wenn es dem Reichen huldigt, aber den Armen verachtet, den Gläubigen verfolgt und den herrlichen Namen Christi lästert.

Jakobus weist die Briefempfänger geradezu unvermittelt darauf hin, dass sie in einer Weise handelten, die im Gegensatz zu Gott steht. Das ausdrückliche Pronomen „ihr“ schärft diesen tatsächlichen Kontrast. Die Gläubigen hatten übersehen, dass es viel wahrscheinlicher war, dass ein Armer sich zum Herrn bekennt als ein Reicher. Ihre Handlungsweise führte aber dazu, dass der Arme an die letzte Stelle gestellt wurde. Dadurch waren sie als Christen nicht anders als die Ungläubigen. Was unterschied die Christen dann jedoch von der Welt? Was für ein Licht warfen diese Christen damit auf das Christentum?

Das „Ihr aber“ wirft für uns allerdings noch weitere Fragen auf. Waren das dieselben, auf die wir dann in Kapitel 5 in den ersten Versen wieder stoßen (vgl. Jak 5,6)? „Ihr habt verurteilt, ihr habt getötet den Gerechten; er widersteht euch nicht.“

Liegt der Ernst im Verhalten dieser Gläubigen, an die sich Jakobus richtete, nicht besonders darin, dass sie genau das taten, was die ungläubigen Reichen kennzeichnete? Sie handelten wie die Welt. Dort wird der Arme sogar von seinem Nachbarn und von seinen Brüdern gehasst (Spr 14,20; 19,7).

Obwohl sie bekehrt waren, führten diese Christen aus dem Judentum in der Praxis den jüdischen Charakter derjenigen fort, die Christus ans Kreuz gebracht hatten. Nicht von ungefähr wird hier nicht von „den Armen“ sondern von „dem Armen“ gesprochen: Weist Jakobus damit nicht letztlich auf den Einen hin, der stellvertretend für alle anderen steht, wie übrigens auch in Kapitel 5,6? Christus war dieser Arme, wie Er auch prophetisch immer wieder genannt wird (vgl. Ps 40,18;.41,2). Derselbe Ausdruck wird zudem in den Psalmen und im Alten Testament öfters auf den künftigen Überrest der Juden bezogen. Und die Gläubigen aus den zwölf Stämmen waren damals ein solcher Überrest.

Dadurch, dass diese Gläubigen den Armen verachteten, handelten sie im Gegensatz zu dem, was Christus tat, als Er hier auf der Erde unter den Armen dieser Welt lebte (vgl. Mt 5,3; 11,5; 19,21; Mk 10,21; Lk 6,20; 14,13.21; 16,22). Wer den Armen verachtet, verachtet damit auch den, der diesem einen solch herausragenden Platz in seinem Reich gegeben hat.

Gott beachtet heute keine nationalen Unterschiede (vgl. Apg 10,34.35). Er hat durch das Werk Jesu die sozialen Gegensätze überwunden. Herren und Sklaven (vgl. Eph 6,9), Reiche und Arme sind vor Ihm gleich. Der Herr macht reich und arm (vgl. 1. Sam 2,7.8). Auch der Apostel Paulus zeigt in 1. Korinther 11,22 deutlich, was er davon hält, wenn die Armen verachtet werden: Es ist schändlich.

Wir müssen uns also fragen, wie wir heute mit dem Armen umgehen und mit denen, die durch die Armen in diesen Versen repräsentiert werden. Wir ehren Gott, wenn wir dem Armen in seiner Not helfen (vgl. Spr 14,21.31; vgl. Ps 41,2; Spr 19,17). Im Gegensatz dazu haben die Israeliten schon zu Zeiten des Alten Testaments die Armen geschlagen (Jes 3,14.15). Könnte das womöglich auch unser Spiegelbild sein?

Der Charakter der Reichen

Wir haben gesehen, dass die Armen einen besonderen Platz im Herzen Gottes haben, gerade auch deshalb, weil sie in dieser Welt von den Reichen unterdrückt werden. Die Reichen dagegen sind in diesem Brief oft das Synonym für die Feinde des Christentums. Auch der Herr Jesus hatte gesagt, dass es für einen Reichen schwer wäre, ins Königreich Gottes einzugehen (Mt 19,24; Mk 10,23.24). Reich in diesem Sinn ist jemand, der an seinen Reichtümern hängt. Diese Güter machen sein Leben aus, seine Lebenswelt. Wer aber keine andere Welt hat als die heutige, wird im Gericht über diese Welt umkommen. Denn was haben die Reichen getan? Sie haben die Armen unterdrückt, sie vor die Gerichte gezogen und den guten Namen gelästert, der über ihnen angerufen worden ist.

Im Unterschied zu „dem“ Armen (Einzahl) stehen die Reichen hier in der Mehrzahl, in ihren unterschiedlichen Motiven und verschiedenartigen Handlungsweisen vor uns. Letztlich gehören aber auch sie alle zu einer Klasse von Menschen: Sie sind geeint darin, Gott und die Seinen abzulehnen.

Wenn man die Beschreibung der Reichen verfolgt, kann man somit kaum zum Schluss kommen, dass es sich um Gläubige handelt. In Kapitel 5 offenbart Jakobus ein zweites Mal ihren Charakter sehr deutlich. Es muss sich um bloße Bekenner gehandelt haben, was wiederum den gemischten Zustand der Zusammenkünfte in diesen Versammlungen entlarvt. Oder standen die Reichen wirklich schon außerhalb der christlichen Zusammenkommen? Es ist nicht leicht, das anhand dieses Textes zu beurteilen.

Drei Fragen

Jakobus kleidet die abschließenden Ermahnungen dieses Abschnitts in drei Fragen. Die beiden ersten sind direkt miteinander verbunden und betreffen die Feindschaft der Reichen im täglichen Leben. Alle Fragen verlangen schon grammatikalisch eine bejahende Antwort.

Während Jakobus in Vers 2 den Reichtum mit kostbaren Kleidern und einem goldenen Ring umschrieben hatte, spricht er jetzt ausdrücklich und direkt von „den Reichen“. Er bezeichnet sie gewissermaßen als eine besondere Klasse. Diese Benennung bedeutet nicht, dass alle reichen Menschen schuldig waren, denn Reichtum als solcher ist nicht böse, genauso wie Armut in sich selbst nicht gut ist. Aber viele Reiche sind stolz auf ihr Vermögen und vertrauen auf ihre Besitztümer statt auf Gott. So wurde der reiche Besucher zu einem Repräsentanten der Reichen als eine Klasse ungläubiger Menschen. Es sind diejenigen, die dem ungerechten Mammon (Mt 6,24) anhängen.

Wir wollen nicht übersehen, dass Reichtum und reich werden wollen eine große Gefahr für uns Christen ist. Auch Paulus spricht mehrfach über dieses Thema (vgl. unter anderem 1. Tim 6,7–11.17). Jakobus kommt im weiteren Verlauf des Briefes in anderem Zusammenhang noch einmal auf diese Art von Freundschaft mit der Welt zu sprechen (vgl. Jak 4,4).

Das Unterdrücken der Armen

Wir müssen diesen Versen jedenfalls entnehmen, dass die Gläubigen damals, also auch örtliche Versammlungen, Reiche bevorzugten. Was aber kennzeichnete das Handeln dieser Reichen? Sie brachten den Gläubigen und den Armen Unglück, indem sie den Erlösten jede Art von Gewalt antaten. Wie töricht war es daher, mit solcher Hochachtung auf die Reichen zu sehen, obwohl sich diese eines solchen Respekts als unwürdig erwiesen.

Die Reichen unterdrückten die Gläubigen. Es geht wirklich um eine Art Tyrannei und Überwältigung, wie das einzige weitere Vorkommen dieses Wortes „unterdrücken“ in Apostelgeschichte 10,38 deutlich macht. Das Unterdrücken und Tyrannisieren (vgl. auch Mt 20,25) bedeutet, dass die Reichen die Armen mit ihren Forderungen quälten. Wollten sie womöglich auch in der Versammlung die Leitung und den ersten Platz für sich beanspruchen, obwohl sie ungläubig waren oder der Glaube keine Bedeutung für sie besaß?

Der Begriff „unterdrücken“ wird in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, oft für das Ausbeuten der Armen und Bedürftigen verwendet (Jer 7,6; 34,11; Hes 22,29; Am 4,1; Sach 7,10). Man kann sich auch an die Situation des zurückgekehrten Überrestes in Jerusalem erinnern, wo solche Unterdrückungen stattfanden (vgl. Neh 5,1–6).

Es geht also nicht um religiöse Verfolgungen, sondern um soziales und ökonomisches Bestehlen der Gläubigen. Jakobus 5,4.6 gibt ein volleres Bild ihrer unterdrückenden Taten. Jakobus benutzt die Gegenwartsform bei „unterdrücken“ (Präsens). Das zeigt, dass es sich um eine wiederholte und dauerhafte Unterdrückung handelte.

Vor die Gerichte zerren

Die Reichen unterdrückten nicht nur auf direkte Weise, sie brachten auch die Gläubigen vor die öffentlichen Gerichte. Die Reichen zogen dazu offenbar besonders die Armen vors Gericht. Genauso handelten die reichen Sadduzäer gegen die Nachfolger des Herrn Jesus (vgl. Apg 4,1–6; 5,17.18). Und mit solchen Reichen wollten sich die Gläubigen wirklich verbinden (V. 3) und sie sogar besonders ehren?

In Vers 6b und in Vers 7 wird das „sie“ betont: sozusagen „sie selbst“. Jakobus sagt damit letztlich: „Es sind doch gerade diejenigen, die ihr so stark ehrt und die ihr in den Zusammenkünften bevorzugt, die euch vor die Gerichte bringen.“ Dass dies eines Christen unwürdig ist, schreibt Paulus in 1. Korinther 6,1.6. Wie konnte man dann solchen Personen einen Ehrenplatz inmitten der Christen geben?

Jakobus betont sogar die Art und Weise, in der die Gläubigen vor Gericht gebracht wurden. Die Ungläubigen gingen gewaltsam vor (vgl. Apg 16,19). Auch hier geht es nicht um religiöses Verfolgen, sondern um gerichtliche, juristische Verfolgung. Die Reichen benutzten die Gerichte, um die Armen zu drangsalieren, indem sie ungerechte Entscheide forderten und förderten bzw. die Richter drängten, den Armen die ihnen zustehenden Rechte wegzunehmen. Ob es sich um römische oder jüdische Gerichte handelte, wird nicht konkretisiert. Womöglich handelte es sich hier sogar um jüdische Synagogen-Gerichte, was das Ganze noch schlimmer machte. Wie furchtbar, wenn man materielle Auseinandersetzungen auf einen religiösen Boden stellt, ihnen womöglich auch noch einen solchen Anstrich gibt.

Religiöses Lästern des guten Namens Christi (V. 7)

Bislang hatten wir es bei den beiden Charakterzügen der Reichen mit weltlichen Bosheiten zu tun. Jetzt kommt als drittes noch eine religiöse Sache hinzu. Jakobus bleibt nicht bei dem stehen, was die Reichen den Armen antaten. Er fährt damit fort, was ihr Verhalten für den Namen „Christus“ bedeutet.

Auch Saulus stritt letztlich nicht einfach gegen die Erlösten, sondern gegen den Christus Gottes, der hinter ihnen stand. Das ist immer die Taktik Satans, nicht nur den Gläubigen zu schaden, sondern Christus und Gott in dieser Welt zu verunehren.

Hier geht es also um religiöse Feindschaft vonseiten der Reichen. Man kann gegen Menschen lästern (Röm 3,8; 1. Kor 10,30; Tit 3,2) oder gegen heilige Dinge und sogar gegen Gott (Apg 13,45; 18,6; 26,11; 1. Tim 1,13). In diesem konkreten Fall war die Auswirkung des Handelns der Reichen, dass sie den Namen Jesu Christi lästerten. Sie brachten diesen einzigartigen Namen in Verruf. Sie lästerten den, der im ersten Vers als der Herr der Herrlichkeit vor den Blicken der Gläubigen gestanden hatte (vgl. Apg 18,5.6). So handelten die Reichen direkt gegen den Herrn Jesus.

Die Frage ist nun, warum diese geliebten Brüder solchen reichen Männern einen derart herausragenden Platz in ihrer Versammlung gaben. Das war ja ausdrücklich nicht deshalb der Fall, weil diese Menschen Gott liebten. Das Gegenteil war wahr. Nein, sie hatten nur deshalb einen Ehrenplatz unter den Christen, weil sie reich waren und man sich selbst dadurch Vorteile erhoffte. Oder war es Menschenfurcht, die zu diesem Verhalten führte (Spr 29,25)?

Der gute Name

Jakobus spricht vom ehrvollen Namen dessen, zu dem Christen gehören: von Christus. Wenn die Reichen diesen Namen lästerten, konnten sie keine Erlösten sein. Es muss sich somit um Christus verleugnende Juden handeln. Ob sie so vor Gericht auftraten, um die Feindschaft des Richter gegen die Christen zu erhöhen?

Der gute Name ist im Besonderen der Name Jesus. Der Ausdruck „guter Name“ kommt so nur hier vor. Es ist der hohe Wert, den Jakobus und seine Leser mit diesem Namen verbinden. Da der Name den Träger des Namens repräsentiert, finden wir sehr früh, dass Christus mit „seinem Namen“ verbunden wird (Mt 18,20; Apg 5,41; 3. Joh 7). Gut heißt schön, ehrbar, ausgezeichnet, sowohl was das Wesen der Person betrifft als auch ihr Eindruck auf andere.

Der reiche Jude lästerte also diesen Namen, den Gott einen guten Namen nennt. Die gläubigen Christen hatten diesen Namen angerufen. Das scheint anzudeuten, dass um die Zeit, als Jakobus schrieb, der Name Christ von Antiochien, wo er zuerst benutzt wurde (Apg 11,26), nach Jerusalem gelangt war. Dadurch erkennen wir das Motiv der Reichen, das hinter den Verfolgungen stand: Die Armen wurden nicht verfolgt, weil sie arm waren, sondern weil sie mit Christus identifiziert wurden. Letztlich war Er die Zielscheibe des Hasses der Welt.

Der Ausdruck, „der über euch angerufen worden ist“, ist ein Hebraismus. Er bedeutet, dass die Christen zu dem Einen gehörten, dessen Namen sie trugen (5. Mo 28,10; 2. Chr 7,14; Jes 4,1; Jer 14,9; Amos 9,12). Christen gehören zu Christus. Es geht um ihre persönliche Beziehung zum Namen, zu dieser herrlichen Person. Jakobus verwendet hier die Zeitform (Aorist), die zurücksieht auf eine tatsächliche, auch für andere hör- und sichtbare Anrufung des Namens Jesus über den Gläubigen. War das vielleicht durch ihre Taufe geschehen, als man den Namen Jesu über ihnen angerufen hatte? Dann würden sie durch diesen Ausdruck und Vers in liebevoller Weise daran erinnert, dass sie zu Christus gehörten und daher auch in Übereinstimmung mit diesem ehrwürdigen Namen reden und leben sollten.

Für uns ist dieser Name herrlich, weil wir durch ihn errettet werden (Apg 4,12; vgl. auch Apg 15,26). Es ist ein guter und würdiger Name. Für die Reichen bedeutet er nichts. Für die Gläubigen aber ist er alles, so dass sie bereit sind, sich für Ihn einzusetzen und hinzugeben.

Die reichen Lästerer

Diesen hochmütigen Lästerern und Verfolgern wurde also sogar in den Zusammenkünften große Ehre erwiesen, weil sie reich waren. Zugleich begegnete man den Nachfolgern Christi verächtlich, weil sie arm waren. Damit bewiesen die Christen ihre geistliche Blindheit und Torheit. Könnte das womöglich auch eine Beschreibung der heutigen Situation sein?

Zusammenfassend muss man wohl sagen, dass Jakobus die damalige Realität beschrieb, ohne selbst innerlich mit Hass im Blick auf die Reichen erfüllt zu sein. Er hielt diese Realität auch für korrigierbar; sonst würde er den Empfängern nicht diesen Brief geschrieben haben. Er rechnete mit einer Mehrheit von armen Gläubigen, denn dreimal lesen wir von „euch“.

Für Reiche war ein Verzicht auf Forderungen immer wieder eine große Herausforderung. Man denke nur an die reichen Sadduzäer (Apg 4,1), an die Oberschicht von Antiochien in Pisidien (Apg 13,50), an die reichen Besitzer der Magd in Philippi (Apg 16,19) oder an die reichen Goldschmiede von Ephesus (Apg 19,24). Aber ihr Liebe zu diesem Besitz bewies, auf welcher Seite sie standen. Durch ihr Bevorzugen der Reichen wählten die Gläubigen letztlich sogar deren Seite, ohne dass sie das wollten. Jakobus gab ihnen mit diesen Hinweisen die Chance, sich zu korrigieren.

Fußnoten

  • 1 Der Talmud ist eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums. Er besteht aus zwei Teilen, der älteren „Mischna“ und der jüngeren „Gemara“. Der Talmud enthält selbst keine biblischen Gesetzestexte (Tanach), sondern zeigt, wie Gottes Wort in der Praxis und im Alltag von den Rabbinern verstanden und ausgelegt wurde.
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