Mit dem Mikroskop und dem Fernrohr

Stellen wir uns einen Wissenschaftler vor, der durch die Linse seines Mikroskops einen einfachen Tropfen Wasser oder Blut betrachtet und sich über diese Welt im Kleinen Gedanken macht, wo es von einer Vielzahl von Teilchen wimmelt, von denen der Laie gar nichts ahnt. Das ist der wunderbare Bereich des unendlich Kleinen.

Denken wir jetzt an einen Astronomen, der mit seinem Fernrohr die Unendlichkeit der Himmelskörper durchforschen kann, „die die Herrlichkeit Gottes erzählen“. Dank seiner Beobachtungen und mithilfe wissenschaftlicher Berechnungen kann er uns zum Beispiel sagen, dass unsere Sonne, die 320.000 Mal so groß ist wie die Erde, 150 Millionen km von uns entfernt ist, so dass das Licht ungefähr 8 Minuten braucht, um von dort zu uns zu gelangen. Oder: Ein Flugzeug, das 500 km in der Stunde zurücklegt, müsste 9 Millionen Jahre lang ununterbrochen fliegen, um den Stern zu erreichen, der uns von allen am nächsten liegt! Angesichts der Entdeckungen der Astronomie versagt unser Vorstellungsvermögen. Wir sind überwältigt von der Größe Gottes und hocherfreut über den Gedanken, dass es unser Vater ist, der diese Wunder geschaffen hat. Wir begreifen, dass unsere Erde in der Unermesslichkeit der Schöpfung nur ein winziges Sandkorn ist, und fühlen uns veranlasst, in die Worte des Psalmdichters einzustimmen: „Wenn ich anschaue deine Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Ps 8,4.5). Was für eine unerforschliche Gnade, dass dieser allmächtige Schöpfer sich mit den Bewohnern unseres Planeten, dieses kaum wahrnehmbaren Punktes im Weltall, befasst hat und dass Er Seinen eingeborenen Sohn dazu gesandt hat, hier zu sterben! „Kenntnis, zu wunderbar für mich, zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen!“ (Ps 139,6). Alles in allem ist der Mensch ein endliches Wesen, das zwischen zwei Unendlichkeiten lebt, die beide gleich wunderbar sind: dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen. Und ganz offensichtlich haben diese beiden Instrumente, das Mikroskop und das Fernrohr, es ihm ermöglicht, sich beachtliche Kenntnisse in diesen beiden Bereichen zu erwerben und sich von diesen Wundern eine Vorstellung zu machen, so unvollkommen sie auch sein mag.

Vor allem junge Leute werden sich sicher für vieles davon begeistern können. Aber meinen wir nicht, dass das, was für den Bereich der Wissenschaft zutrifft, auch auf geistlichem Gebiet nützlich sein kann und dass wir mit großem Gewinn die Methode des Mikroskops und die des Fernrohrs auch auf eine andere Unendlichkeit anwenden können, nämlich auf das Wort Gottes? Wie oft haben wir uns leider mit einem oberflächlichen Lesen begnügt, statt die Schriften zu erforschen, die von Ihm zeugen; aber so droht unsere Kenntnis der Wunder des heiligen Buches immer bruchstückhaft zu bleiben. Das soll sicher nicht heißen, dass das Wort ganz schlicht genommen, wie es dasteht, unter der Wirkung des Heiligen Geistes nicht zum unermesslichen Segen sein kann für alle, die damit in Berührung kommen, weil es göttlich, lebendig, wirksam und durchdringend ist. Aber für die vielen unter uns, die das Vorrecht hatten, von Kind auf die Heilige Schrift zu kennen, wäre es ein unersetzlicher Verlust, wenn wir es versäumen würden, dieses wunderbare Wort mit Muße und Ausdauer zu studieren, und welche ungeahnten Schätze würden uns darin verborgen bleiben! Jeder Mensch, der sich mit Ehrfurcht und in Abhängigkeit über dieses Buch beugt, wird reich belohnt - sei es, dass er wie mit dem Mikroskop die winzigsten Einzelheiten dieses Wortes betrachtet oder dass er die weiten Horizonte ins Auge fasst, die der Glaube entdeckt: die Grundbegriffe göttlicher Offenbarung und den ewigen Ratschluss Gottes. In den großen Linien ebenso wie in den kleinsten Einzelheiten zeigt sich das Unendliche, und das führt zur Anbetung.

Es sei erlaubt, durch das eine oder andere Beispiel diese beiden Methoden des Schriftstudiums etwas zu erläutern. Vielleicht hat jemand sich schon einmal die Mühe gemacht, zu ermitteln, wie oft ein bestimmtes Wort oder ein besonderer Ausdruck in gewissen Büchern der Bibel vorkommt. Diese auf den ersten Blick recht trockene, abschreckende Aufgabe, die man mit den unermüdlichen Beobachtungen des Wissenschaftlers am Mikroskop vergleichen könnte, bringt oftmals einen reichen Lohn. Was man selbst herausfindet, hat nämlich einen ganz anderen Reiz als das, was man von anderen lernt. Das gilt übrigens auch für den Gebrauch der neuzeitlichen Hilfsmittel, die an ihrem Platz zwar sehr nützlich sind, aber den engen Kontakt mit dem Wort selbst nicht unbedingt fördern.

Vor einer Reihe von Jahren fiel einem gläubigen Studenten die Bemerkung eines (ungläubigen) Professors auf, der bei der Behandlung des griechischen Textes des Markus-Evangeliums lächelnd sagte: „Bei Markus muss immer alles sogleich geschehen“, und das häufige Vorkommen des Ausdrucks „sogleich“ bei diesem Evangelisten für eine stilistische Absonderlichkeit hielt. Bei einer Überprüfung konnte der Student sich überzeugen: Man muss nur das erste Kapitel noch einmal lesen, um den Ausdruck elfmal zu finden. Aber was ist der tiefere Grund dafür? Markus schildert uns den Herrn als den vollkommenen Knecht Gottes in Seiner unermüdlichen Tätigkeit. Zudem war Markus ein untreuer Diener, der dem Ruf des Meisters nicht sogleich gefolgt war. Er hatte mit dem Dienst aufgehört, so dass Paulus ihn nicht mehr mitnehmen wollte. Erst später, als er wiederhergestellt war, wählte der Heilige Geist aus Gnaden diesen untreuen Diener, um uns den vollkommenen Diener vorzustellen, und dabei zu betonen, dass der Herr in vollkommener Abhängigkeit vom Vater immer „sogleich“ handelte (Apg 15,37.38; Kol 4,10; 2. Tim 4,11).

Ein anderes Beispiel ist der charakteristische Name, unter dem Gott sich in den verschiedenen Büchern offenbart. Das ist der Name „HERR“ (Jehova) in den Sprüchen, denn da geht es um Gott, wie Er in Beziehung zum Menschen getreten ist. Aber im „Prediger“, wo der Mensch nicht in ausdrücklicher Beziehung zu Gott gesehen wird und einzig das beobachtet, was „unter der Sonne“ geschieht, da ist es die Bezeichnung „Elohim“, der Schöpfer-Gott. Im Buch Daniel (wie auch in Esra und Nehemia) ist der charakteristische Name „der Gott des Himmels“, weil Er Seinen Thron auf der Erde, im Tempel von Jerusalem, verlassen hatte (Hes 10+11), und das Volk ist „Lo-Ammi“ (nicht mein Volk; Hos 1,9).

Im Propheten Jesaja trifft man an die dreißig Mal auf den Namen „der Heilige Israels“, der sonst nur noch an sechs anderen Stellen im Alten Testament vorkommt. Finden wir den Grund dafür nicht in der großen Vision von Kapitel 6 seines Buches, die entscheidend war für seine Berufung und einen unauslöschlichen Eindruck in seinem Geist hinterließ? Als Jesaja die Herrlichkeit des Herrn sah, die den Tempel erfüllte, rief er aus: „Wehe mir! Denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich.“ Zudem legt er Wert darauf, uns zu sagen, dass er diese Vision im Todesjahr des Königs Ussija hatte (V. 1), der bis zum Tage seines Todes aussätzig, also unrein, war (2. Chr 26,21; 3. Mo 13,45). So war also das Volk unrein, der König war unrein, und der Prophet war es auch. Aber im Gegensatz zu dieser dreifachen Unreinheit riefen die Seraphim aus: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen.“ Diese Szene hat Jesaja derart beeindruckt, dass er die Heiligkeit Gottes nie vergessen hat, und durch den Geist geleitet nennt er Ihn gern den Heiligen Israels.

Man könnte die Zahl der Beispiele leicht noch vermehren, aber es sei dem Leser empfohlen, selbst nachzuforschen und sich das eine oder andere Thema selbst zu stellen. So könnte man zum Beispiel im Matthäus-Evangelium die sieben Verse suchen, wo der Herr der Sohn Davids genannt wird, im Lukas-Evangelium die sieben Verse, wo man den Herrn im Gebet findet, oder die sieben Lobpreise, mit denen die Geburt des Heilands gewürdigt wird. Im Johannes-Evangelium werden sieben Zeichen des Herrn erwähnt. In der Offenbarung heißt es siebenmal „glückselig“, und es gibt sieben Gelegenheiten, wo der Herr sich dem Apostel Paulus offenbart. Mindestens achtmal findet man aus verschiedenen Gründen jemand zu den Füßen des Herrn. Mehrfach ist von Menschen die Rede, die gesagt haben: „Ich habe gesündigt“ - einige aufrichtig und andere ohne tiefe Überzeugung von Sünde. Im Buch der Richter findet man fünf treue Frauen des Glaubens und fünf, deren Einfluss verhängnisvoll war. Es wäre auch lohnend, einmal über die Unterschiede nachzudenken, die sich in den Einzelheiten der Berichte in den Büchern der Könige und der Chronika finden, oder die vier Evangelien miteinander zu vergleichen. Schließlich kann man auch bei einzelnen markanten Versen stehen bleiben und sich in ihre Aussage vertiefen.

Vielleicht fühlt sich aber jemand besonders angezogen durch die großes Themen des Wortes, die Entfaltung des Ratschlusses Gottes oder den Plan eines Buches und die Verknüpfung der Hauptgedanken darin. Dann muss man gleichsam das Fernrohr nehmen und, indem man zunächst manche Einzelheiten außer Acht lässt, die großen Linien der Wege Gottes mit den Seinen betrachten und die Blicke in allen Richtungen durch dieses weite Land schweifen lassen, um seine unermesslichen Horizonte zu entdecken. Und wieder wird man zur Anbetung geführt werden.

Zum Beispiel kann man Kapitel für Kapitel den Plan eines Evangeliums aufstellen oder der Apostelgeschichte oder des Römerbriefs. (Wenn es zu schwierig wird, kann man sich durchaus an bewährte Betrachtungen anlehnen- solange man die Gedanken wirklich selbst nachvollziehen kann.) Vielleicht möchte jemand eines der zahlreichen Themen studieren, die sich durch die ganze Schrift hindurchziehen. Das könnte der Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade sein oder zwischen Israel und der Versammlung. Die Person und das Wirken des Heiligen Geistes im Alten und Neuen Testament wäre ein anderes Beispiel, ebenso die verschiedenen Haushaltungen und das, was sie kennzeichnet. Auch die verschiedenen Bündnisse kämen in Betracht, ebenso die Titel des Herrn Jesus und die vielen Vorbilder des Alten Testaments, die Ihn betreffen.

Vieles können wir nur noch aufzählen: Die hauptsächlichen Geheimnisse, die verschiedenen Kronen, die verschiedenen Gerichte, die beiden Auferstehungen mit den Etappen der ersten, das Kommen des Herrn und Seine Erscheinung, die Charaktere des Evangeliums (des Reiches, der Gnade, „mein Evangelium“ - wie Paulus es nennt - und das ewige Evangelium), die beiden Naturen des Gläubigen, Vorrechte und Verantwortung, den Unterschied zwischen Sabbat und Tag des Herrn (dem ersten Tag der Woche). Und dann ist da das weite Gebiet der Prophetie, eng verknüpft mit dem Begriff des Überrests.

Kommen wir zum Schluss. Es gibt also reichlich Stoff zum Nachdenken für unsere Herzen. Nie werden wir die Zeit bereuen, die wir dem Bemühen gewidmet haben, dieses kostbare Buch zu erforschen, wenn wir das demütig, unter Gebet und in Abhängigkeit vom Herrn tun. Wir werden erkennen, dass es unendlich ist in seinen Einzelheiten wie auch in seinen großen Linienzügen. Vor allem, wenn man in jungen Jahren damit begonnen hat, solange man gesund ist, ein gutes Gedächtnis und die nötige Zeit dazu hat, wird sich der Segen später erweisen, wenn „die Tage des Übels kommen und die Jahre herannahen, von denen du sagen wirst: Ich habe kein Gefallen an ihnen“ (Pred 12,1).

Vor allem aber sollten wir niemals Wissen um seiner selbst willen begehren. Es ist unerlässlich, dass die Zuneigungen des Herzens erwachen und erwärmt werden. Reine Kenntnis bläht auf, aber die Erkenntnis des Herrn zeigt uns unsere eigene Nichtigkeit, führt uns demütig zu Seinen Füßen und trennt uns von der Welt, indem sie uns einen Lebensinhalt von unendlichem Wert schenkt.