Betrachtung über 2.Thessalonicher (Synopsis)

Kapitel 1

Betrachtung über 2.Thessalonicher (Synopsis)

Die Gläubigen zu Thessalonich hatten gelernt, den „Tag des Herrn“ als einen Tag des Gerichts zu betrachten. Das Alte Testament hatte viel von diesem Tag des Herrn geredet als von einem Tag der Finsternis und eines unvergleichlichen Gerichts, von einem Tag der Heimsuchung für die Menschen (vgl. Jes 13; Joel 2; Am 5,18). Nun standen die Thessalonicher, als der Apostel ihnen schrieb, unter einer schrecklichen Verfolgung. Vielleicht war ihre Hoffnung auf ein irdisches Eingreifen des Herrn während ihrer Lebzeit geschwächt worden. Wenigstens schweigt der Apostel über ihre Hoffnung, während er sich über das Wachsen ihres Glaubens und das Überströmen ihrer Liebe zueinander freut; auch wird die Freude des christlichen Lebens hier nicht so gefunden, wie sie sich in dem ersten Brief offenbarte. Dennoch wandelten die Thessalonicher gut, und der Apostel rühmte sich ihrer in den Versammlungen Gottes1. Aber die falschen Lehrer benutzten ihre Lage, um sie irrezuführen, indem sie sie auf ihre Leiden hinwiesen, deren Druck um so schwerer auf ihren Herzen lastete, weil eben die Freude der Hoffnung ein wenig geschwächt war. Zugleich gaben der noch vorhandene Einfluss jüdischer Gedanken oder die durch ihn hervorgerufenen herkömmlichen Vorstellungen zu den Angriffen des Feindes Gelegenheit. Das Werkzeug seiner listigen Bosheit sagte ihnen, dass der Tag des Herrn, jene schreckliche Zeit, bereits da sei 2, und alles, was die Thessalonicher erduldeten und wodurch ihre Herzen erschüttert wurden, war scheinbar ein Zeugnis dafür und bestätigte die Worte der falschen Lehrer. Stand nicht geschrieben, dass es ein Tag der Heimsuchung und der Angst sein würde?

Diese falschen Lehrer behaupteten überdies, dass ihre Worte mehr seien als menschliche Meinungen. Es sei, so sagten sie, ein Wort des Herrn, es sei der Geist, der da rede, es sei ein Brief, der aus einer inspirierten Quelle herrühre; und so groß war ihre Dreistigkeit und Schlechtigkeit, dass sie sich nicht scheuten, den Namen des Apostels als Autorität für ihre Behauptung anzuführen, dass der Tag schon gekommen sei. Nun, die Herrschaft der Furcht, die Satan über das Herz auszuüben vermag, wenn es nicht von Gott in Friede und Freude bewahrt wird, ist ganz erstaunlich. „Dass ihr in nichts euch erschrecken lasst von den Widersachern“, sagt der Apostel zu den Philippern, „was für sie ein Beweis des Verderbens ist, aber eures Heils, und das von Gott“ (Phil 1,28). In einem Gemütszustand, wie er bei den Thessalonichern vorhanden war, wird alles geglaubt, oder vielmehr alles gefürchtet und nichts geglaubt. Das Herz gibt sich der Furcht hin und ist bereit, alles Mögliche zu glauben; denn es ist in der Finsternis und weiß nicht, was es glauben soll. Daher ermahnt der Apostel die Thessalonicher (2. Thes 2), nicht schnell erschüttert zu werden in der Gesinnung, damit sie nicht ihre Festigkeit betreffs der Wahrheit verlieren und bestürzt werden möchten.

Der Apostel behandelt den Fall in derselben Weise wie in dem ersten Brief. Bevor er auf den Irrtum eingeht, stellt er den Gegenstand, hinsichtlich dessen die Thessalonicher sich im Irrtum befanden, ins wahre Licht, indem er seine Belehrung auf die Erkenntnis gründet, die sie schon besaßen. Indes tut er es so, wie dieser Gegenstand auf die damaligen Umstände Anwendung fand. Auf diese Weise wurden sie von dem Einfluss des Irrtums und von der dadurch verursachten Erschütterung der Gesinnung befreit und fähig gemacht, ihren Blick auf den Irrtum selbst zu richten, indem sie selbst außerhalb desselben standen und ihn im Licht der Unterweisung des Apostels beurteilten.

Die Thessalonicher wurden verfolgt, gingen durch Drangsal und Leiden, und der Feind zog Nutzen daraus. Indem der Apostel diese Tatsache an den ihr gebührenden Platz stellt, ermuntert er sie durch den Gedanken, dass diese Trübsale für sie eine Art Siegel dafür waren, dass sie würdig geachtet wurden des Reiches Gottes, um dessentwillen sie litten. Aber mehr noch, der „Tag des Herrn“ war auch das Kommen des Herrn zum Gericht; indes würde Er nicht kommen, um den Seinigen Leiden zu bereiten, sondern um die Gottlosen zu bestrafen. Verfolgung konnte daher nicht der Tag des Herrn sein; denn in der Verfolgung hatten die Bösen die Oberhand, taten ihren eigenen Willen und fügten denen Leiden zu, die der Herr liebte. Konnte das Sein Tag sein? Der Apostel wendet diesen Schluss nicht gerade auf die vorliegende Frage an, aber er stellt die Tatsachen an ihren Platz, so dass der ganze Gebrauch, den der Feind von ihnen machte, von selbst zusammenfiel. Die Wahrheit der Tatsachen stand da in ihrer Einfachheit und gab ihnen ihren wirklichen und natürlichen Charakter. Wenn Gott die Sache in die Hand nehmen wird, so wird Er denen Drangsal vergelten, die seine Kinder bedrängen, und diese werden Ruhe haben und in Frieden sein. Um den Augenblick ihres Eingehens in diese Ruhe handelt es sich hier keineswegs, sondern um den Gegensatz zwischen ihrer gegenwärtigen Lage und dem Zustand, in dem sie sich befinden würden, wenn Jesus gekommen wäre. Er wird nicht kommen, um die Seinigen zu verfolgen und zu quälen. An Seinem Tag werden sie in Ruhe sein, und die Gottlosen in Bedrängnis; denn Er wird kommen, um diese zu strafen, indem Er sie für immer aus der Herrlichkeit seiner Gegenwart entfernt. Sobald wir verstehen, dass die Thessalonicher verleitet worden waren zu glauben, der Tag des Herrn sei bereits da, ist der Sinn dieses ersten Kapitels sehr klar.

Zwei Grundsätze werden hier aufgestellt. Erstens das gerechte Urteil Gottes: es ist in seinen Augen gerecht, einerseits die um seines Reiches willen Leidenden zu belohnen, und andererseits denen, die seine Kinder verfolgen, Vergeltung zu geben. Zweitens die herrliche Offenbarung des Herrn Jesus: die Seinigen sollen mit Ihm in Ruhe und Glückseligkeit sein, wenn seine Macht in Ausübung kommen wird.

Auch gibt der Apostel hier zwei Gründe für das Gericht an: Gott nicht kennen und dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen. Alle waren ohne Entschuldigung hinsichtlich des Zeugnisses, das Gott von jeher von Sich selbst gegeben hatte; aber einige unter ihnen hatten dem Missbrauch, den sie mit ihrer natürlichen Beziehung zu Gott trieben, und ihrer Nichtbeachtung seiner Majestät noch die Verwerfung der bestimmten Offenbarung seiner Gnade im Evangelium Christi hinzugefügt. Aber mit dieser Ankündigung des Gerichts, das die Bösen erwartet, verbindet der Apostel das gesegnete Ergebnis der Offenbarung Jesu in Herrlichkeit. Er wird kommen, um verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und bewundert in allen denen, die an Ihn geglaubt haben, folglich auch in den Thessalonichern: zum wenigsten ein deutlicher Beweis dafür, dass sie ihre gegenwärtige Verfolgung nicht zu betrachten hatten als ein Zeichen, dass der Tag gekommen sei. Was sie selbst betraf, so wurden sie auf diese Weise gänzlich von der Begriffsverwirrung befreit, durch die der Feind sie zu beunruhigen suchte; und der Apostel konnte jetzt die Frage des Irrtums selbst mit Herzen behandeln, die hinsichtlich ihres eigenen Zustandes davon befreit und in Ruhe gebracht waren.

Diese Erwägungen kennzeichnen die Gebete des Apostels für die Gläubigen zu Thessalonich. Er begehrt von Gott, dass sie dieser Berufung stets würdig seien, und dass der Herr in ihnen verherrlicht werde durch die Kraft des Glaubens, der durch ihre Verfolgungen nur um so herrlicher erglänzen werde; auch bittet er, dass sie hernach in Ihm verherrlicht werden möchten bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit gemäß der Gnade Gottes und des Herrn Jesus Christus.

Fußnoten

  • 1 In dem ersten Brief sagt er, dass er nicht nötig habe, etwas von ihnen zu sagen, weil die Welt selbst allenthalben die Grundsätze, durch die sie geleitet wurden, verkündige. Wir werden einen ähnlichen Unterschied überall in diesem Brief bemerken. Es ist nicht mehr dieselbe frische Kraft des Lebens vorhanden.
  • 2 Oder „gekommen“, „gegenwärtig“ sei; siehe Röm 8,38 und 1. Kor 3,22, wo derselbe Ausdruck durch „Gegenwärtiges“ übersetzt ist, im Gegensatz zu „Zukünftiges“.
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