Betrachtung über den Propheten Micha (Synopsis)

Kapitel 7

Betrachtung über den Propheten Micha (Synopsis)

In diesem Kapitel nimmt der Prophet den Platz eines Mannes ein, der im Namen des Volkes Fürbitte vor Gott tut, indem er Ihm sowohl das tiefe Elend als auch die Sünden desselben vor Augen stellt 1. Er spricht im Namen des Volkes und macht sich mit demselben eins, oder genauer noch. er nimmt die Schmach der Stadt auf sich (Mich 6, 9), indem er mit dem Kummer beginnt, den sie über ihren gegenwärtigen Zustand empfindet, dann aber, wie wir dies oft bei Jeremia sehen, zu seinem eigenen besonderen Amt als Prophet übergeht und so die Stellung des Überrestes bezeichnet. Er redet als einer, der sich in der Mitte des Volkes befindet, jedoch tut er es im Sinn Gottes; er nimmt den Platz des Volkes ein, verurteilt aber von diesem Platz aus das Verhalten desselben; jedoch geschieht dies mit all der Teilnahme, die mit der Liebe verbunden ist, die Gott dem Volk gegenüber hegte. Er sucht unter dem Volk aufs eifrigste nach etwas, was seinem Titel als Volk Gottes entsprechen könnte, findet aber nichts als Falschheit und Betrug und wie sie auf Blut lauern, um das Böse mit beiden Händen wohl auszuführen. Indessen wird alles so geredet, dass es ein Bekenntnis der Stadt selbst darstellt; sie kann daher, indem sie sich unter die Hand Gottes beugt, aus all den Dingen heraus auf Den blicken, der ihren Rechtsstreit führen und ihr Recht verschaffen wird.

Wir begegnen hier einem auffallenden Umstand. Der Herr Jesus erklärt im Evangelium, dass das, was der Prophet als Höhepunkt der Bosheit beschreibt (V. 6), durch die Predigt des Evangeliums bewirkt werden würde. So groß ist die Bosheit des menschlichen Herzens. Wenn dasselbe durch das Licht in Tätigkeit gesetzt wird, dann wird in ihm ein Hass entzündet, der um so erbitterter ist, je näher der Gegenstand sich befindet, auf welchen er sich richtet. Das, was der Prophet rings um sich her sah, hatte bei ihm die Wirkung, dass er nach dem HERRN ausschaute und auf den Gott seines Heils harrte. Diese Wirkung ruft der Geist Christi stets da hervor, wo Er sich im Blick auf das Böse, welches überall eingedrungen ist, wirksam erweisen kann. Der Prophet nimmt die Stellung ein, welche als diejenige bezeichnet war, die von dem HERRN anerkannt werden konnte. Er unterwirft sich dem Grimm des HERRN, bis Dieser selbst den Rechtsstreit seines Knechtes führen würde. Der HERR würde ihn tatsächlich an das Licht herausführen, würde ihm seine Gerechtigkeit zeigen. Dann würde die Befreiung vollständig sein, und sie, die zu Jerusalem sprach: „Wo ist dein Gott?“ (der beständige Ruf des Ungläubigen, der ebensowohl über die Züchtigung des Volkes Christi wie über die Leiden Christi selbst frohlockt, indem er diese gerechten Handlungen eines Gottes, den er nicht kennt, falsch versteht) – sie, die an der Erniedrigung derer, die der HERR liebte, ihre Freude hatte, würde wie Straßenkot zertreten werden (V. 7 – 10).

Von der Zeit an wird man von Ägypten, von Assyrien, von den Meeren und von den Gebirgen her zu der wiederaufgebauten Stadt kommen; vorher aber soll das Land zur Wüste werden. Dessenungeachtet wird Jehova sein Volk wie ein Hirte leiten und es wiederum, wie im Anfang, in seinem Land wohnen lassen. Gott wird seine Wunderwerke sehen lassen wie damals, als Er das Volk aus Ägypten heraufführte, und die Nationen werden über all die Macht Israels beschämt werden und sich bebend zu dem HERRN, dem Gott Israels, wenden.

Die letzten drei Verse der Weissagung dienen dazu, dem Glauben und den Gefühlen der Anbetung Ausdruck zu geben, von welchen das Herz des Propheten erfüllt war, wenn er der Güte Gottes gedachte, der die Ungerechtigkeiten des Volkes vergab und seine Sünden in die Tiefen des Meeres versenkte; dessen Freude es war, sich gütig zu erweisen, und der die dem Abraham gegebenen Verheißungen sowie das, was Er den Vätern in den Tagen der Vorzeit geschworen hatte, erfüllen würde.

Wer war ein Gott wie Er, der sich in seinen gnadenvollen Wegen seinem geliebten Volk, dem schwachen Überrest gegenüber offenbarte, welcher zwar von allen verachtet war, den aber der HERR trotz all ihrer Empörung in seiner Liebe nie vergaß und in seiner Treue nie verließ?

Fußnoten

  • 1 Dies ist einer der rührendsten Charakterzüge des Prophetenamtes. „Wenn er ein Prophet ist, so mag er doch bei dem HERRN Fürbitte tun, damit das, was übriggeblieben ist, nicht nach Babel komme“, so sprach Jeremia. „Er ist ein Prophet und wird für dich bitten“, sagte Gott einst zu Abimelech, indem Er von Abraham redete. In den Psalmen heißt es auch: „Kein Prophet ist übriggeblieben, keiner, der sagen kann: Bis wann?“ d. h. keiner, der auf die Treue des HERRN, ihres Gottes, zu rechnen wusste, der es verstand, dass es sich nur um eine Züchtigung handelte und, darauf gestützt, vor Gott für sein Volk eintrat (vgl. Jes 6). Zwar muss der Geist Gottes von Gottes Seite aus das Gericht ankündigen; weil aber Gott das Volk liebt, wird derselbe Geist in dem Propheten zu einem Geist der Fürbitte für das Volk. Was uns betrifft, so kommt bei uns dieselbe Sache zum Ausdruck, nur in etwas anderer, aber noch gesegneterer und vollkommenerer Weise. Es verbindet sich damit mehr Einsicht in den Willen Gottes. „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen.“ In dieser Beziehung sind wir alle Propheten (vgl. 1. Joh 5,16).
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