Antworten auf Fragen in Römer 11

Ein offenbartes Geheimnis

Wir kommen nun zur siebten und letzten Antwort auf die Frage: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ und damit zum Abschluss der Beweise von der zukünftigen Herrlichkeit Israels: „Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: dass Verhärtung Israel zum Teil widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist; und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: „Aus Zion wird der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde“ (Vers 25–27).

Diese Worte sind nicht an die Nationen gerichtet, und der Apostel schreibt hier nicht: „Ich sage euch, den Nationen“, sondern sie wenden sich an „Brüder“, das heißt, an wahre Gläubige. Das Wort „Brüder“ hat an dieser Stelle die gleiche Bedeutung wie in Römer 12,1. Der Apostel ist im Begriff, ein Geheimnis mitzuteilen, das ihm selbst durch Offenbarung gegeben worden ist, und über das er seine Brüder nicht in Unkenntnis zu lassen wünscht. Es ist jedem Leser des Wortes Gottes bekannt,

dass das Wort „Geheimnis“, ebenso wie die Offenbarung von Geheimnissen, die in früheren Zeitaltern verborgen waren, ausschließlich in den Paulinischen Briefen zu finden ist. In Matthäus 13, diesem wichtigen Kapitel, das die Haushaltungen Gottes behandelt, spricht unser Herr von den Geheimnissen des Reiches der Himmel (Vers 11). Die sieben Gleichnisse enthalten Geheimnisse, die das gegenwärtige, christliche Zeitalter betreffen. In den Briefen, die uns der Heilige Geist durch den Apostel Paulus gegeben hat, finden wir die volle Offenbarung dieser geheimen Dinge, die „in anderen Geschlechtern“ verborgen waren und „jetzt offenbart worden“ sind (Eph 3,5). Was sind das für Geheimnisse in den Briefen des Paulus? Wir können davon sieben zählen. „Und anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist offenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit“ (1.Tim 3,16). Das ist das Geheimnis des herrlichen Evangeliums selbst, in seiner ganzen Fülle. In Kolosser 1,26–27 haben wir ein zweites Geheimnis: „... der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses... unter den Nationen, das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“. Hier wird der Gläubige mit dem Segen bekannt gemacht, der ihm aus seiner Verbindung mit Christus zufließt. Im dritten und fünften Kapitel des Epheserbriefes haben wir ein drittes und viertes Geheimnis. Diese beiden weiteren Geheimnisse betreffen die Kirche: Seinen Leib und seine Braut. Ein fünftes Geheimnis zeigt 1.Kor 15,51: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.“ Das ist das herrliche Geheimnis von dem Kommen des Herrn zur Entrückung seiner Heiligen, von dem uns in 1.Thes 4,16–17 nähere Einzelheiten gesagt werden. Im zweiten Kapitel des zweiten Thessalonicherbriefes wird das Geheimnis der Gottlosigkeit aufgedeckt, in Verbindung mit dem Antichristen und der Endzeit,  und hier in Römer 11 das Geheimnis in Bezug auf Israel.

Alle diese Geheimnisse, die uns in diesen Briefen durch den Apostel Paulus übermittelt werden, sind von der größten Bedeutung. Ihre Unkenntnis kann nur Bedauern erwecken. Die wahre Stellung, die Berufung und die Vorrechte des Christen, sowie die Erkenntnis dessen, was die Kirche, und welches ihre Bestimmung ist: das alles kann ohne Kenntnis dieser Paulinischen Geheimnisse unmöglich erfasst werden.

Paulus will nicht nur, dass den Brüdern dieses Geheimnis bekannt sei, damit sie nicht in Unwissenheit seien, sondern er fügt hinzu: „Damit ihr nicht euch selbst für klug haltet.“ Das ist ein Wort, das man auf die Christenheit anwenden kann: sie halten sich selbst für klug. Es kennzeichnet die heutige Verwirrung und Abtrünnigkeit, die wir überall wahrnehmen können. Und warum hält die bekennende Kirche sich selbst für klug? Die Antwort liegt auf der Hand: weil die bekennende Kirche die offenbarten Geheimnisse nicht kennt. Welch eine Veränderung würde es um uns her geben, wenn man das Geheimnis der Kirche kennen würde, wenn es verstanden würde, was die Kirche ist: der eine Leib. Würde es geglaubt werden, das Geheimnis von der Verbindung des Gläubigen mit Christus und von seiner Vollendung in Ihm: wie würde alles so ganz anders sein. Aber leider befindet sich die Christenheit in Unkenntnis über die Geheimnisse Gottes, und der religiöse Mensch zieht es vor, sich an Überlieferungen und an große Männer zu halten. Darum hält die Christenheit sich selbst für klug. Was aber bewahrt uns in der Demut? Was hält uns davon zurück, unseren eigenen Gedanken und Vorstellungen zu folgen und uns selbst für klug zu halten? Sicherlich nichts anderes als unsere völlige Unterwerfung unter das, was Gott offenbart hat.

Welches ist nun das Geheimnis, das uns hier in Bezug auf Israel mitgeteilt ist? Es ist ein zweifaches. Erstens: Israel ist Verstockung widerfahren, aber nur zum Teil, und zweitens: Israels Verstockung ist zeitlich begrenzt. Somit hat Gott sein Volk nicht verstoßen. Es wird eine Zeit kommen, wo die teilweise Verstockung Israels aufhören wird.

Aus dem Geheimnis von dem Ölbaum haben wir gesehen, dass Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist; dass einige der Zweige ausgebrochen worden sind. Wann diese Verstockung aber hinweggenommen werden soll, das haben wir in unserem Kapitel noch nicht entdeckt. Etwas ganz Neues erfahren wir hier. Wohl lesen wir in den Schriften des Alten Testaments oft davon, dass Gerichte Israel als Volk befallen sollen, dass Israel unter das Gericht der Verstockung kommen, danach aber erhöht und gesegnet werden soll. Doch finden wir nirgends eine bestimmte Angabe darüber, wann das wichtige Ereignis der Wiederannahme Israels stattfinden wird.

Als unser Herr vor seiner Himmelfahrt von seinen Jüngern gefragt wurde: „Herr, stellst Du in dieser Zeit dem Israel das Reich wieder her?“, da antwortete Er: „Es ist nicht eure Sache, Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, die der Vater in seine eigene Gewalt gesetzt hat“ (Apg 1,6–7). Hier in Römer 11,25 wird uns das Geheimnis offenbart und die Zeit angegeben, wann die Verstockung Israels endigen wird. „Bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist.“ Die Vollzahl der Nationen muss zuvor eingehen. Das ist das große Werk, das zuerst vollbracht werden muss, das nächste große Ereignis, und sobald diese „Vollzahl der Nationen“ gesammelt ist, dann wird die Stunde der Erlösung und des Segens für Israel schlagen.

Die wichtige Frage, die sich nun ergibt, lautet: was bedeutet der Ausdruck: „Vollzahl der Nationen?“ Man wird zu unterscheiden haben zwischen diesem Ausdruck und der „Zeit der Nationen“, die erfüllt werden muss. So lesen wir in Lukas 21,24: „Jerusalem wird zertreten werden von den Nationen, bis  die Zeiten der Nationen erfüllt sind.“ Auch an dieser Stelle steht ein „bis“, ein Wort der Hoffnung und des Trostes für das arme Volk Israel. Aber die beiden Ausdrücke „Zeiten der Nationen“ und „Vollzahl der Nationen“ bedeuten nicht dasselbe.

Es wird gut sein, wenn wir uns einen Augenblick dabei aufhalten, den Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken zu betrachten. Die „Zeiten der Nationen“ werden mit einem Schlag endigen. Sie begannen mit Nebukadnezar, dessen Traum (Dan. 2), den Daniel, göttlich erleuchtet, deutete, eine Weissagung über die Nationen ist. In diesem Traum sehen wir, in welcher Weise die „Zeiten der Nationen“ zum Abschluss kommen werden. Der Stein trifft das große Bild an seinen Füßen, an den zehn Zehen – jener noch zukünftigen Teilung des Römischen Reiches in zehn Königreiche. Der Stein, der das Bild zu Staub zermalmt, ist das zweite, sichtbare Kommen des Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit. Dann wird Jerusalem befreit und nicht mehr von den Nationen zertreten, sondern es wird die Stadt eines großen Königs weiden.

Die „Vollzahl der Nationen“ aber ist etwas hiervon Grundverschiedenes. Sie betrifft ein Ereignis, das stattfinden wird, bevor die „Zeiten der Nationen“ erfüllt sind. Nachdem die „Vollzahl der Nationen“ herzugebracht sein wird, werden die „Zeiten der Nationen“ noch eine Zeitlang fortdauern, bis zu ihrem plötzlichen Ende, der großen Katastrophe, die uns in der Prophezeiung Daniels geschildert wird.

Hinter der „Vollzahl der Nationen“ haben wir eine bestimmte, Gott allein bekannte Zahl zu verstehen, die aus den Nationen berufen wird, um die Kirche zu bilden, mit anderen Worten: die „Vollzahl der Nationen“ ist die Vollendung der wahren Kirche. Sobald die Kirche zahlenmäßig vollendet ist, wird diese Vollzahl gesammelt, d. h. in seine Gegenwart gebracht werden. Es kommt ein Tag – und wie bald mag er kommen! –, da die Kirche vollendet sein wird; das letzte Glied wird zu dem Leib hinzugetan, und dann wird die Vollzahl gesammelt werden. In Epheser 1,23 wird die Kirche sein Leib genannt, „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“. Eine abtrünnige „Kirche“ wird inmitten der so genannten „christlichen Völker“ zurückgelassen werden, und das Zeitalter der Nationen wird in der prophetisch angekündigten Drangsal, unter dem Ausbruch des göttlichen Zornes, seinen Abschluss finden.

Sobald nun die „Vollzahl der Nationen“ gesammelt, die Kirche – der Leib des Herrn Jesus Christus – vollendet ist, wird in Israel eine Veränderung vor sich gehen. Gott wird seine Beziehungen mit seinem Volk in Gnade und auf einer nationalen Grundlage wiederaufnehmen. In der Offenbarung lesen wir, dass  nach der Entrückung der Kirche ein Überrest aus Israel, 12,000 aus jedem Stamm, berufen und versiegelt wird (Off 7). Dieser Überrest besteht aus Gläubigen, und die Verstockung ist von ihnen genommen. Die großen und wichtigen Weissagungen über die Endzeit, bei denen Israel im Vordergrund steht und eine besondere Rolle spielt, werden sich Schlag auf Schlag erfüllen, und dann endlich wird der herrliche Augenblick kommen, wo ganz Israel errettet werden wird, „Und so wird ganz Israel errettet werden“. Dieses „so“, das sich auf die Art und Weise dieser Errettung bezieht, wird im nächsten Vers wie folgt angegeben: „wie geschrieben steht: Aus Zion wird der Erretter kommen, Er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden.“

Wie sollen wir das aber verstehen, dass „ganz Israel errettet werden wird“? Manche, darunter Calvin, glauben, dass mit „ganz Israel“ alle Erretteten von Anfang an, Juden wie Nationen, gemeint sind. Das ist irrig, denn es handelt sich hier nicht um die Errettung der Nationen, sondern um diejenige Israels. Andere lehren wieder, mit „ganz Israel“ seien buchstäblich alle Israeliten gemeint, die je gelebt haben, Gerechte wie Ungerechte, Gläubige wie Ungläubige, mit anderen Worten: alle Juden, die je gelebt haben – vielleicht mit ganz wenigen Ausnahmen –, würden zu der Zeit, von der die obige Schriftstelle redet, auferweckt und dann errettet werden. Diese Lehre könnte man „jüdische Allerlösung“ nennen; denn das ist sie, und sie muss dahin führen, dass man an die Errettung auch der Nationen glaubt. Wirklich behaupten diejenigen, die für diese Lehre einer allgemeinen Erlösung der Juden eintreten, dass auch die Nationen wiederhergestellt werden, indem alle nicht Erretteten, mit Ausnahme einiger weniger, besonders bösartiger Menschen, die eine besondere Klasse bilden, zu Beginn des tausendjährigen Reiches aus den Toten auferweckt und in ihre vormalige Stellung zurückgebracht werden. Diese böse Lehre hat sich unter dem Namen „Tagesanbruch“ weit verbreitet und – leider! – bei tausenden von Christen Aufnahme gefunden.* Wie man derartige Lehren in das Wort Gottes hineinlesen kann, haben wir kürzlich aus einem Buch über die Judenfrage ersehen. Darin wird Matthäus 23, 37–39 herangezogen zum Beweis dafür, dass „ganz Israel“ auch diejenigen einschließt, die den Herrn Jesus Christus in Jerusalem verworfen haben; sie alle werden aus den Toten auferweckt werden, Ihn sehen, wenn Er wiederkommt, und dann werden sie errettet werden. Man führt den folgenden Vers an: „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt die, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde  gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ – Zunächst wird darauf hingewiesen, dass der Herr mit den Worten: „Euer Haus wird euch öde gelassen“ selbstverständlich diejenigen gemeint habe, die Ihn in jenem Augenblick umstanden: das Geschlecht, das Ihn gesehen und Ihn, den Herrn der Herrlichkeit, verworfen hat. Wenn der Herr sagt: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht“ usw., so wird auch das hier buchstäblich aufgefasst, der Herr habe damit alle bezeichnet, die zugegen waren und Ihn damals zum letzten Mal im Tempel sahen; jeder einzelne von ihnen werde Ihn wiederkommen sehen und Ihn dann mit den Worten begrüßen: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Nie haben wir eine starrere Buchstaben-Auslegung gelesen. Danach sollten also jene gottlosen Pharisäer und Hohepriester, die den Herrn wissentlich verwarfen, die Ihn beschuldigten, die Dämonen durch Beelzebub auszutreiben, ebenso wie die Volksmenge, die rief: „Kreuzige, kreuzige Ihn!“ – sie alle sollten von den Toten auferweckt werden, den Herrn kommen sehen, an Ihn glauben und erlöst werden. Dass eine solche Lehre weder nach dem Wort, noch in der obigen aus dem Matthäusevangelium angeführten Schriftstelle enthalten ist, das ist leicht zu beweisen. Die letztere kommt nur in diesem Evangelium vor, das heißt also, in dem Evangelium des Reiches, dem Evangelium der Haushaltungen. Alles darin zeigt einen nationaljüdischen Anstrich. Die Worte des Herrn in Mt 23,37–39 sind an „Jerusalem“ und an das Volk gerichtet, und Jerusalem und das Volk werden bestehen, bis Er wiederkommt. Zur Zeit seiner Ankunft wird Ihn ein gläubiger Überrest mit den von Ihm angeführten Worten, die dem 118. Psalm entnommen sind, begrüßen. Das Volk hatte Ihn verworfen, doch Er denkt an die Zeit seines Wiederkommens. An jenem Tag werden andere aus dem Volk leben, und diese werden darauf warten, dass die Himmel sich öffnen und die Wolke der Herrlichkeit Ihn wiederbringt. Jene ungläubigen Juden aber, jene Ältesten und Pharisäer, soweit sie nicht etwa die ihnen nach dem Kreuz angebotene Gnade im Glauben ergriffen haben (was vielleicht bei vielen von ihnen der Fall gewesen ist), sind gestorben und erwarten die Auferstehung der Gottlosen und nicht die Auferstehung der Gerechten.

Wir brauchen nur einen Vers anzuführen, der genügt, um derartige Gedankengänge, von denen wir soeben gesprochen haben, glatt abzutun, nämlich Matthäus 21,43: „Deswegen sage ich euch: das Reich Gottes wird von euch weggenommen und einer Nation gegeben werden, die dessen Früchte bringen wird.“ Es fragt sich nun, welche Nation der Herr hier meint? Die Nation, unter der Er lebte, hatte Ihn verworfen, und das Reich soll nun von der Nation weggenommen werden – eine andere Nation soll das Reich empfangen. Wenn diejenigen recht haben, die behaupten, dass „ganz Israel“ errettet werden soll, dass alle Juden, sogar jene Pharisäer, die den Herrn reden hörten, die Ihn mit einem satanischen Hass gehasst haben, aus den Toten auferweckt werden und dann das Reich empfangen sollen: warum hat dann der Herr das nicht unmissverständlich gesagt und ihnen eine solche Verheißung gegeben? Stattdessen sagt Er hier aufs Bestimmteste: „Das Reich Gottes wird von euch weggenommen werden“ – womit Er nur die Generation gemeint haben kann, die damals lebte – ohne mit einem Wort anzudeuten, dass sie es jemals zurückerhalten werde. Eine andere Nation wird es empfangen. Diese andere Nation ist nicht die Kirche, denn die Kirche erbt nicht Israels irdisches Reich. Das Reich gehört Israel; die andere Nation ist das Israel der Zukunft, jener Überrest seines Volkes, der leben wird an dem Tag seiner Offenbarwerdung in Herrlichkeit.

Wir versagen es uns, auf andere Beweisgründe einzugehen, die vorgebracht werden, um diese schriftwidrige Lehre zu stützen. Sie stehen wirklich auf sehr schwachen Füßen. „Also wird ganz Israel errettet werden“, betrifft das Israel, das an jenem Tag, wenn der Herr in Macht und Herrlichkeit offenbar wird, leben wird. In der großen Trübsal, der „Zeit der Drangsal für Jakob“ (Jer 30, 7) wird die ganze Nation gerichtet werden wie nie zuvor.

„Und es wird geschehen im ganzen Land, spricht der HERR: Zwei Teile davon werden ausgerottet werden und verscheiden, aber der dritte Teil davon wird übrigbleiben“ (Sach 13,8).

„Und ich werde die Empörer und die von mir Abgefallenen von euch absondern; ich werde sie herausführen aus dem Land ihrer Fremdlingschaft, aber in das Land Israel soll keiner von ihnen kommen. Und ihr werdet wissen, dass ich der HERR bin“ (Hes 20,38). Was können die Verfechter der Lehre von der Wiederherstellung aller aus Israel, auch der Toten, wohl mit einer solchen Stelle anfangen?

Ähnliches lesen wir in Matthäus 24, in der Ankündigung der großen Trübsal durch unseren Herrn, wie es in den Tagen Noahs war, so wird es wieder sein. Das Gericht brach herein und ereilte die Gottlosen, Noah und sein Haus aber wurden gerettet. Ebenso wird es kommen: „Einer wird genommen (im Gericht) und einer gelassen“ (Matth. 24,37–41). Gericht und Feuer werden die Nation richten in jener Zeit der Drangsal (Jes 4,4). Ein Überrest des Volkes wird dies alles durchmachen müssen, während die Gottlosen, die dem falschen Messias gehuldigt haben, hinweggefegt werden. Dieser Überrest stellt das „Ganze Israel“ dar, das errettet werden wird. Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen diesem Teil des Volkes, der an jenem Tag errettet werden wird, und dem frommen, gläubigen Überrest, der während der großen Trübsal den Nationen das Evangelium des Reiches verkündigt, jenem Überrest, der versiegelt wird, der leidet und überwindet. Von diesem Überrest redet das ganze prophetische Wort klar und deutlich. In Offenbarung 12 haben wir die Frau, die in die Wüste flieht, „wo sie ernährt wird eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“ (3 Jahre), d.h. während der großen Trübsal. Hier handelt es sich um jenen Teil des Volkes Israel, der bewahrt wird. Aber am Ende des Kapitels lesen wir: „Und der Drache wurde zornig über die Frau und ging hin, Krieg zu führen mit den Übrigen (oder: dem Überrest) ihres Samens, die die Gebote Gottes halten und das Zeugnis Jesu haben“ (Off 12,17). Dieser Überrest ist der gläubige, von Jesu zeugende Überrest.

Auch über die Art, wie Israel errettet wird, gibt uns das Wort Aufschluss. „Wie geschrieben steht: Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden.“ Hier ist von der Wiederkunft des Herrn als Erretter seines irdischen Volkes die Rede. Er kommt wieder nach Zion, und danach strahlt Er aus Jerusalem hervor in seiner großen Macht als Erretter. Die Stelle, mit der wir uns jetzt beschäftigen, ist überaus kostbar. Sie weist hin auf das zweite Kommen Christi in seiner Majestät, zur Errettung, Befreiung und Wiederherstellung seines Volkes Israel, das an jenem Tag leben wird, so wie dies alles durch das ganze Alte Testament hindurch offenbart worden ist. Es ist unmöglich, auf alle Stellen einzugehen, die davon handeln, und alle Vorbilder zu erwähnen, die dieses wichtige Ereignis zum voraus darstellen.

Von den letzteren möchten wir nur die Geschichte Josephs hervorheben. In ihm sehen wir einen Menschen in Macht und Herrlichkeit, den Mann, vor dem jedermann seine Knie zu beugen hatte, der Retter der Welt („Zaphnath-Pahneach“, 1. Mose 41,45). Und als seine Brüder zum zweiten Mal nach Ägypten kamen, da gab er sich ihnen zu erkennen. Da stand er vor ihnen, angetan mit seinem königlichen Gewand und mit königlicher Gewalt.

Überwältigend ist der Augenblick, in dem Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gibt. In einer weiten Säulenhalle, deren Wände mit geheimnisvollen Schriftzeichen bedeckt sind, sitzt auf goldenem Thron der zweite Pharao, seine hohe, bartlose, einer Bildsäule gleichende Gestalt in weißen Byssus gehüllt, seine nackten Arme mit goldenen Armspangen geschmückt, auf seiner Stirn die geweihte goldene Schlange; mit Hilfe eines Dolmetschers redet er kalte, drohende Worte zu geängstigten, wettergebräunten Hirten aus der Fremde. Diesen schlägt das Gewissen, und erbleichend flüstern sie miteinander: „Wahrhaftig, wir sind schuldig wegen unseres Bruders.“ Da steht der Fürst auf, steigt herab von seinem Thron, breitet seine Arme nach ihnen aus und ruft in wohl bekannten, hebräischen Lauten: „Ich bin Joseph, euer  Bruder.“ Vor ihm stehen elf Männer, zitternd, hungernd, in Lumpen, schreckerfüllt. Und nun bricht er, in der Sanftmut seines Herzens, in Tränen aus und sagt zu ihnen: „Tretet doch zu mir her!... Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt... Und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihnen.“ Welch ein herrliches Vorbild dessen, was sich ereignen wird, wenn Er zum zweiten Mal kommen und „ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken“ wird!

Oder denken wir an Mose. Als er das erste Mal zu seinen Brüdern kam, um sie zu befreien, da verwarfen sie ihn, und erst beim zweiten Mal, vierzig Jahre später, als die Trübsal ihren Höhepunkt erreicht hatte, nahmen sie ihn an, und er führte sie aus. Im Neuen Testament haben wir ein Vorbild in dem ungläubigen Thomas. Als der Herr den Jüngern, die sich eingeschlossen hatten, zum ersten Mal nach seiner Auferstehung erschien, wobei Thomas nicht zugegen war, da erklärte dieser: „Wenn ich nicht in seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, so werde ich nicht glauben“ (Joh 20,25). Sieben Tage vergehen. Armer Thomas, wie unglücklich muss er gewesen sein, voller Zweifel und Ungewissheit! „Und nach acht Tagen waren seine Jünger wiederum drinnen und Thomas bei ihnen. Da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und stand in der Mitte und sprach:,Friede euch!'“ Was wird Er jetzt tun, Er, der die Herzen prüft? Wird Er Thomas nun wegen seines Unglaubens verurteilen? Wird Er ihm Vorwürfe machen, weil er so trägen Herzens ist? Nicht ein Wort davon. „Dann spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu Ihm: Mein Herr und mein Gott!“ So wird es sicherlich wiederum sein, wenn sie, die Ihn nicht erkannt hatten, Ihn anschauen werden, den sie durchstochen haben. Es leben heute Tausende von orthodoxen Juden, die fest an das Kommen des Messias glauben. Tausende, bei denen man eine veränderte Stellungnahme gegenüber der Person des Herrn Jesus Christus wahrnehmen kann, war Er vielleicht doch der Messias, oder war Er nicht der, der verheißen ist? An jenem Tag werden sie die Antwort auf diese Frage bekommen. „Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am  Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme des Landes wehklagen, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit“ (Matth 24,29–30). „Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch die, die ihn durchstochen haben, und wehklagen werden seinetwegen alle Stämme des Landes. Ja, Amen“ (Off 1,7). „Und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen wie die Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt“ (Sach 12,10). Was für ein Tag wird das sein! Die Trübsal hat ihren Gipfel erreicht. Ihr zu entrinnen, scheint eine Unmöglichkeit. – Ganz plötzlich tritt Ruhe ein: die Stille vor dem Sturm. Die Sonne verdunkelt sich mehr und mehr, der Mond erblasst, während Sterne herabfallen und Himmel und Erde erschüttert werden. Da – was bedeutet jene leuchtende Wolke dort oben? Inmitten der furchterregenden, schauerlichen Naturerscheinungen wird die Wolke sichtbar, in Feuer und Herrlichkeit! Der gläubige Überrest hat ein göttliches Eingreifen, eine Offenbarung von oben erfleht: „O, dass du die Himmel zerrissest, herniederführest!“ (Jes 63,19). Sie erkennen sofort, aus ihren eigenen Schriften, dass jene Wolke die Scheschina ist, das Gewand des HERRN. Die ganze Geschichte ihrer Vergangenheit steigt vor ihnen auf. Wohnte der HERR nicht  bei unseren Vätern, zog Er nicht vor ihnen her? Zerstreute Er nicht unsere Feinde? Sicherlich, Er ist es, der HERR strahlt hervor! Und so hören wir sie rufen, in jener dunklen, dunklen Nacht: „Siehe da, unser Gott, auf den wir harrten, dass er uns retten würde; da ist der HERR, auf den wir harrten! Lasst uns frohlocken und uns freuen in seiner Rettung!“ (Jes 25,9). Aber die Wolke kommt näher, Herrlichkeitsstrahlen erleuchten die Himmel (Hab 3,3); ein Licht, so gewaltig wie jenes, das auf Saulus von Tarsus fiel, den Pharisäer aus den Pharisäern, das stärker war als die Mittagssonne, umglänzt und erleuchtet alles. Wieder werden sie aufwärts blicken. „ Und siehe,mit den Wolken des Himmels kam einer wie eines Menschen Sohn! (Dan. 7,13). Und wie sie immer wieder aufschauen auf jene unendlich wunderbare Erscheinung, da sehen sie, dass jener Menschensohn durchstochen ist. Und wie den Brüdern Josephs auf einmal ein Licht aufging, dass der Mann im königlichen Gewand ihr Bruder war, so wird es Israel plötzlich klarwerden: Der da kommt in Macht und großer Herrlichkeit, das ist der HERR – Jesus, ihr König-Messias, den sie verworfen hatten. Dann werden sie sagen: „Er war wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt. Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet. Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt; doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden“ (Jes 53,3–5). „Und seine Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen“ (Sach 14,4). So, wie Er weggegangen ist, so ist Er wiedergekommen. Und dann wird Er die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden und ihre Sünden wegnehmen. Die Ungerechtigkeit des Landes und des Volkes wird an einem Tag weggenommen (Sach 3,9). „Wer hat so etwas gehört, wer hat dergleichen gesehen? Kann ein Land an einem Tag zur Welt gebracht werden oder eine Nation mit einem Mal geboren werden? Denn Zion hat Wehen bekommen und zugleich ihre Kinder geboren ... Freut euch mit Jerusalem und frohlockt über sie, alle, die ihr sie liebt! Seid hocherfreut mit ihr, alle, die ihr über sie trauert“ (Jes 66,8.10). „Und danach wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgießen werde über alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, eure Greise werden Träume haben, eure Jünglinge werden Gesichte sehen“ (Joel 3,1). „Und ich werde mein Angesicht nicht mehr vor ihnen verbergen, wenn ich meinen Geist über das Haus Israel ausgegossen habe, spricht der Herr, HERR“ (Hes 39,29). Doch wir müssen es nun mit der Anführung der Verheißungen für Israel und der Israel gegebenen Herrlichkeiten hierbei bewenden lassen. Nicht ein Wort von all den Segnungen und Gnadenerweisungen, die der Herr Israel durch den Mund seiner heiligen Propheten verheißen hat, wird an jenem Tag unerfüllt bleiben.

Das Wort, das wir hier haben: „Es wird aus Zion der Erretter kommen“, ist die Anführung zweier Stellen aus dem Alten Testament. Jesaja 59,20: „Und ein Erlöser wird kommen für Zion und für die, die in Jakob von der Übertretung umkehren, spricht der HERR“, und die zweite Stelle, Psalm 14,7: „O, dass aus Zion die Rettung Israels da wäre! Wenn der HERR die Gefangenschaft seines Volkes wendet, soll Jakob frohlocken, Israel sich freuen.“

Möge die Ankunft jenes Tages beschleunigt werden! Mögen wir ernstlich beten: „Amen, komm, Herr Jesus!“ Möge Er bald erscheinen, um uns zu sich zu nehmen; danach wird es nur eine kleine Zeit dauern, und diese herrlichen Ereignisse werden sich auf dieser Erde abspielen. Jerusalem wird befreit und ein Lobgesang werden auf Erden, und die zerstreute Nation wird von dem Herrn Jesus Christus, dem großen Hirten Israels, gesammelt werden.

Dann werden Gerechtigkeit und Friede sich küssen, und die Erkenntnis der Herrlichkeit des Herrn wird die Erde bedecken, so wie die Wasser den Meeresgrund. Dann wird ein Singen im Himmel und auf der Erde sein: „Friede auf Erden, und Herrlichkeit Gott in der Höhe“.

Jerusalem und ein erlöstes Volk werden der Mittelpunkt des Frohlockens sein: „Juble und freue dich, Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und werde in deiner Mitte wohnen, spricht der HERR. Und an jenem Tag werden viele Nationen sich dem HERRN anschließen, und sie werden mir zum Volk sein; und ich werde in deiner Mitte wohnen, und du wirst erkennen, dass der HERR der Heerscharen mich zu dir gesandt hat“ (Sach 2,14–15).

So hat nun die wichtige Frage: „Hat Gott sein Volk verstoßen?“ ihre völlige Beantwortung gefunden. Wir haben diese wunderbaren Antworten betrachtet und daraus gesehen, warum der Heilige Geist sie in so eindrucksvoller Weise hervorhebt. Fern sei der Gedanke, Gott habe sein Volk verstoßen! Wo blieben dann die Wahrheit seines Wortes, Seine Treue und seine Gerechtigkeit? Hätte Er wirklich sein Volk verstoßen, wäre keine Zukunft für Israel, keine Erfüllung der Verheißungen des Alten Testamentes zu erwarten, dann könnten wir unsere Bibeln schließen und verzweifeln.

Alles Lob, alle Herrlichkeit Gott, denn Er hat sein Volk nicht verstoßen.

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