Kapitel 1

Das Buch beginnt mit einem kurzen Bericht über die Umstände, die Gott benutzte, um das Herz Nehemias durch den Zustand des Volkes zu berühren. Gott rief diese Seelenübung in seiner Gegenwart hervor, die nach der Ordnung und Absicht Gottes in seiner Aussendung nach Jerusalem endet. Zunächst nennt Nehemia das Datum und den Ort der Geschehnisse und schreibt:

„Geschichte Nehemias, des Sohnes Hakaljas.

Und es geschah im Monat Kislew des zwanzigsten Jahres, als ich in der Burg Susan war“ (1,1).

Nehemia 2,1 zeigt, dass es das zwanzigste Jahr Artaxerxesʼ war, d. h. dreizehn Jahre nachdem Esra nach Jerusalem hinaufgezogen war. Dieser war von Babylon heraufgezogen (Esra 7), doch Nehemia war am Königshof als ein persönlicher Diener des Königs angestellt – der „Mundschenk des Königs“ – in Susan.1 Während er in seine Pflichten eingebunden ist, sagt er:

„Da kam Hanani, einer von meinen Brüdern, er und einige Männer aus Juda. Und ich fragte sie nach den Juden, den Entronnenen, die von der Gefangenschaft übrig geblieben waren, und nach Jerusalem“ (1,2).

Nehemia selbst lebte also im Exil. Doch obwohl er einem gefangenen Geschlecht angehörte, hatte er Gunst in den Augen des Königs gefunden und eine hohe und einträgliche Stellung. In solchen Umständen könnte manch einer das Land seiner Väter vergessen haben. Nicht jedoch Nehemia! Denn wie wir aus der Tatsache des hier aufgezeichneten Besuches seines Bruders Hanani und einiger Männer aus Juda erkennen, war er offensichtlich bekannt als jemand, der nicht aufhörte, an Zion zu denken. Und aus der Art seines Fragens kann entnommen werden, dass sein Herz alle Menschen des Volkes einschloss. Er erkundigt sich „nach den Juden, den Entronnenen, die noch von der Gefangenschaft übrig geblieben waren“, d. h. denjenigen, die zurückgelassen worden waren, als so viele gefangen nach Babylon weggeführt worden waren, „und nach Jerusalem“ – was sich auf den Überrest bezieht, der mit der Erlaubnis von Kores hinaufgezogen war, um das Haus Gottes auszubauen (Esra 1). Er war also in Übereinstimmung mit dem Herzen Gottes, indem er so mit dessen Volk und Interessen beschäftigt war. Sicherlich können wir Christen so manche Lektion von diesen gottesfürchtigen Juden lernen. Sie dachten nie daran, sich vom Volk als Gesamtheit zu isolieren, noch beispielsweise nach dem Wohlergehen eines einzigen Stammes zu trachten. Stattdessen bewegten sich ihre Zuneigungen, in Übereinstimmung mit ihrem Handeln, im gesamten Kreis der Interessen Gottes auf der Erde. Sie verloren sich selbst – sozusagen -in dem Wohlergehen und der Segnung des gesamten Volkes. Wenn diese Bänder, die sie zusammenhielten, so vertraut und widerstandsfähig waren, wie viel mehr sollte dies bei solchen der Fall sein, die alle durch einen Geist zu einem Leib getauft worden sind!

Als Antwort auf seine Frage entgegnet sein Besucher:

„Und sie sprachen zu mir: Die Übriggebliebenen, die von der Gefangenschaft dort in der Landschaft übrig geblieben sind, sind in großem Unglück und in Schmach; und die Mauer Jerusalems ist niedergerissen, und seine Tore sind mit Feuer verbrannt“ (1,3).

Dies ist in der Tat eine traurige Darstellung des auserwählten Volkes in dem Land ihrer Verheißung! „Ein Land“, wie es Mose beschrieb, „mit Bergen und Tälern; vom Regen des Himmels trinkt es Wasser; ein Land, auf das der HERR, dein Gott, achthat: Beständig sind die Augen des HERRN, deines Gottes, darauf gerichtet, vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres“ (5. Mo 11,11.12). Ach! Welche Geschichte entfaltet sich durch die aktuellen Umstände der Kinder der Gefangenschaft – eine Geschichte der Sünde, der Rebellion und des Abfalls. Und wie waren die Umstände? Sie waren in großer Bedrängnis, die aus ihrer eigenen moralischen Verfassung und der Aktivität und Feindseligkeit ihrer Widersacher resultierte, die sie umringten (vgl Neh 4,1.2). Auch standen sie unter Verfolgung. Glückselig ist es, wenn Gottes Volk geschmäht wird, weil es sein Volk ist oder um des Namens seines Gottes willen (vgl 1. Pet 4,14). Doch nichts ist schlimmer, als wenn das Volk Gottes wegen seiner widersprüchlichen Lebensweise und seinen Wegen von der Welt verfolgt oder ihr zum Anstoß wird. Und es scheint am Ende des Buches Esra so, als ob die Verfolgung in diesem Fall von letzterer Art war. Während sie bekannten, was sie wirklich waren – Gottes Volk –, verleugneten sie das gleichzeitig durch ihre Verbindungen mit den Heiden und durch ihre Achtlosigkeit bezüglich der Ansprüche Gottes.

Dass dies der Grund ihrer Bedrängnis und ihres leidvollen Zustandes ist, scheint durch die Aussage über Jerusalem getragen zu werden: „Die Mauer Jerusalems ist niedergerissen, und seine Tore sind mit Feuer verbrannt.“ Dies war der aktuelle Zustand und Nebukadnezar war durch seine Armee das Instrument gewesen, um diesen Zustand zu erreichen (vgl 2. Chr 36). Es gibt jedoch noch eine weitere Bedeutung. Die Mauer ist ein Bild von Absonderung. Wie wir gesehen haben, war die Mauer der Absonderung zwischen Israel und den Heiden niedergerissen worden. Das Tor war der Ort (und somit das Sinnbild) des Gerichts, wodurch uns mitgeteilt wird, dass Recht und Gerechtigkeit nicht mehr geübt wurden.2

Was könnte dann bedauerlicher sein als dieser Bericht, der Nehemia bezüglich des Überrestes in Juda und Jerusalem überbracht wird? Die Wirkung auf diesen aufrichtigen Israeliten war groß. Er sagt:

„Und es geschah, als ich diese Worte hörte, setzte ich mich hin und weinte und trug Leid tagelang; und ich fastete und betete vor dem Gott des Himmels“ (1,4).

Er machte den leidvollen Zustand des Volkes zu seinem eigenen. Seine Gefühle waren in Übereinstimmung mit Gott. Er war bedrängt in ihrer Bedrängnis. Doch er wusste, an wen er sich wenden musste. Er weinte, trauerte, fastete und betete. „Leidet jemand unter euch Trübsal?“, schreibt Jakobus, „Er bete“ (Jak 5,13). Und die Sorge und Bedrängnis Nehemias, die sich in seinen Tränen, seinem Trauern und Fasten zeigt, findet einen Ausdruck in seinem Gebet. Dies war ein wahres Kennzeichen eines machtvollen Wirkens des Geistes Gottes an seiner Seele.

Lasst uns die Art seiner Bitten genauer betrachten. Er betete:

„Und sprach: Ach, HERR, Gott des Himmels, du großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten: Lass doch dein Ohr aufmerksam und deine Augen offen sein, dass du hörest auf das Gebet deines Knechtes, das ich heute, Tag und Nacht, für die Kinder Israel, deine Knechte, vor dir bete, und wie ich die Sünden der Kinder Israel bekenne, die wir gegen dich begangen haben! auch wir, ich und meines Vaters Haus, haben gesündigt. Wir haben sehr böse gegen dich gehandelt und haben die Gebote und die Satzungen und die Rechte nicht gehalten, die du deinem Knecht Mose geboten hast“ (1,5–7).

Bis hierhin gibt es hauptsächlich zwei Dinge: Eine Rechtfertigung Gottes und das Bekenntnis von Sünden. Nehemia erkennt auf eindeutige Weise die Treue Gottes an und dass von Gottes Seite kein Versagen vorhanden ist, während er zur gleichen Zeit den Charakter der Beziehung Gottes zu Israel völlig erkennt – dass, kurzgesagt, seine Haltung gegenüber seinem Volk von dessen Verhalten abhing: „Der den Bund und die Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten.“ Dies bringt, zusammen mit seiner Rede zu Gott, auf deutlichste Weise den Kontrast zwischen Gesetz und Gnade zum Ausdruck. Hingebungsvoll und gottesfürchtig wie Nehemia war, kommt man doch nicht umhin, sich der Distanz in den von ihm verwendeten Worten bewusst zu werden – „Ach, HERR, Gott des Himmels, du großer und furchtbarer Gott“ – eine Distanz, die das Zeitalter, in dem er lebte, erforderte. Wie sehr unterschiedet sich dies von der Stellung, in die der Herr seine Jünger auf der Grundlage seiner Auferstehung brachte, wenn er sagt: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17b).

Doch Nehemia hatte in seiner Stellung gelernt, was in dieser Art selbst unter Christen selten gelernt wird, nämlich ein Fürsprecher für sein Volk zu sein. „Tag und Nacht“ betete er für es; und daher hatte er die Kraft, die Sünden des Volkes zu bekennen. Kein höheres Privileg könnte einem Diener gewährt werden als das, welches Nehemia erteilt wurde. Er hatte die Kraft, sich so mit Israel zu identifizieren, dass es ihn befähigte, ihre Sünden aufzugreifen und sie als seine eigenen zu bekennen. „Ich“, sagt er, „und meines Vaters Haus haben gesündigt.“ Dies ist ein wahres Zeichen geistlicher Stärke. Viele beklagen den Zustand des Volkes Gottes, doch es gibt wenige, die sich selbst damit identifizieren können. Nur solche können wirklich in der Gegenwart Gottes für es eintreten. Und lasst uns erkennen, dass er zunächst nur Gottes berechtigten Standpunkt ihm selbst und seinem Volk gegenüber vertritt. Gott ist immer treu denen gegenüber, die Ihn lieben und seine Gebote befolgen. Doch – ach! – sie hatten seine Gebote nicht eingehalten, noch seine Gesetze, noch seine Gerichte. All dies wird vollständig bekannt; doch jetzt bezieht er sich auf eine Verheißung, auf die er sein Gebet aufbauen und mit der er auf das Eingreifen Gottes für ihn zählen kann. Er fährt fort:

„Gedenke doch des Wortes, das du deinem Knecht Mose geboten hast, indem du sprachst: Werdet ihr treulos handeln, so werde ich euch unter die Völker zerstreuen. Wenn ihr aber zu mir umkehrt und meine Gebote haltet und sie tut: Sollten eure Vertriebenen am Ende des Himmels sein, so würde ich sie von dort sammeln und sie an den Ort bringen, den ich erwählt habe, um meinen Namen dort wohnen zu lassen!“ (1,8–9).

Dies bezieht sich eindeutig auf 3. Mose 26 und blickt voraus auf die endgültige Wiederherstellung Israels. Und hierin lag die geistliche Einsicht Nehemias, die vom Geist geleitet war. Denn diese Wiederherstellung wird, wie der Leser diesem Kapitel entnehmen kann, ein Werk reiner Gnade sein,, gegründet auf Gottes vollkommenem und bedingungslosem Bund mit Abraham, Isaak und Jakob (siehe 3. Mo 26,42). Nehemia stützt sich daher wahrhaft auf die Barmherzigkeit und die bedingungslosen Verheißungen Gottes, als er die Sünden seines Volkes bekennt. Er erhebt sich auf diese Weise über das Gesetz und erreicht in seinem Glauben die Quelle aller Segnung – das Herz Gottes selbst. Folglich fügt er hinzu, wobei er Kraft gewinnt, indem er auf Gott harrt:

„Sie sind ja deine Knechte und dein Volk, das du erlöst hast durch deine große Kraft und deine starke Hand“ (1,10).

Er stellt so auf berührende Weise Israel – Sünder und Übertreter wie sie waren – vor Gott auf den Boden der Erlösung, indem er Gott an seine Absichten der Gnade gegenüber ihnen erinnert, was Er seinem Volk gnädigerweise zu tun erlaubt.

Nachdem er den einzigen Grund erreicht hat, auf dem er ruhen konnte, stellt er das besondere Anliegen vor, das ihm auf dem Herzen lag:

„Ach, Herr, lass doch dein Ohr aufmerksam sein auf das Gebet deines Knechtes und auf das Gebet deiner Knechte, die Gefallen daran finden, deinen Namen zu fürchten; und lass es doch deinem Knecht heute gelingen und gewähre ihm Barmherzigkeit vor diesem Mann! – Ich war nämlich Mundschenk des Königs“ (1,11).

Es sollte bemerkt werden, dass Nehemia sich mit anderen in seinem Gebet verbindet. Dies war auch stets beim Apostel Paulus der Fall. Wenn wir vom Geist Gottes geleitet werden, dann identifizieren wir uns zwangsläufig mit allen, in deren Herzen Er auch am Wirken ist, ob im Dienst oder in Danksagungen oder im Gebet. Das Volk Gottes ist derart eins, dass Isolation im Geist unmöglich ist. Und folglich ist Nehemia, als er sich in seiner Trauer über den Zustand Israels und in seinem Verlangen nach ihrer Befreiung und Segnung vor Gott niederbeugt, sicher, dass jeder gottesfürchtige Israelit in seinem Flehen mit ihm vereint ist. Sein Gebet ist sehr einfach. Er betet um „Barmherzigkeit vor diesem Mann“. Denn er wusste, dass sein Verlangen nur durch die Erlaubnis des Königs erfüllt werden konnte. Nachdem das Zepter der Erde infolge der Sünde und Rebellion seines auserwählten Volkes von Gott selbst an die Nationen weitergegeben worden war, würde Gott nun in Bestätigung der Autorität, die Er selbst bestimmt hatte, nur mittels des heidnischen Königs wirken. Nehemia war also in seinem Gebet in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Während er die Stellung der Untergebenheit unter die heidnische Autorität verstand, in die er und sein Volk gebracht worden waren, fällt doch ebenso auf, dass der König in der Gegenwart Gottes nichts war als „diese[r] Mann“. Ein Monarch eines fast erdumfassenden Königreiches verlor sich in Nichtigkeit vor den Augen des Glaubens und war nichts als ein Mann, ausgestattet mit einer kurzzeitigen Autorität zur Durchsetzung der Absichten Gottes. Während der König der eingesetzte Kanal war, durch den die erforderliche Erlaubnis an Jerusalem erlangt werden musste, erkennt der Glaube doch, dass dies alles nicht vom König abhing, sondern vom Handeln Gottes an dessen Gesinnung, um Nehemias Wunsch zu gewähren.

Dann fügt Nehemia die Erklärung hinzu – „Ich war nämlich Mundschenk des Königs“ –, um zu zeigen, wie er menschlich gesprochen dem König sowohl völlig untergeben als auch völlig von ihm abhängig war. Damit schließt das Kapitel. Nehemia hat sein Herz vor Gott ausgeschüttet, sein Anliegen kundgetan. Jetzt muss er viele Tage warten in Erwartung der Antwort auf sein Flehen. Ein Gebet kann in völliger Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und die Frucht der Vereinigung mit seinen Gedanken sein und dennoch nicht sofort beantwortet werden. Dies sollte gut verstanden werden, sonst kann die Seele ohne Grund in Verzweiflung und Unglauben fallen. Ein Gebet wird oft gehört und gewährt, doch Gott wartet in seiner unendlichen Weisheit auf den passenden Moment, um die Antwort zu geben. So war es auch bei Nehemia.

Fußnoten

  • 1 Susan war ursprünglich die Hauptstadt von Elam. Später wurde es in das Königreich Babel integriert und fiel schließlich, bei der Eroberung Babels durch Kores, in den Besitz des Königreiches Persien. Deren Hauptstadt scheint es zur Zeit Nehemias gewesen zu sein (siehe Smith`s Bible Dictionary).
  • 2 Der Leser sollte dies mit der Beschreibung des himmlischen Jerusalem in Offenbarung 21 vergleichen, mit seiner „große[n] und hohe[n] Mauer“, die alles Böse ausschließt, und seinen zwölf Toren, die Vollkommenheit in der Ausführung von Herrschaft in Gerechtigkeit symbolisieren.
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