Kapitel 5

Anstelle einer Fortführung der Erzählung über den Bau der Mauer wendet Nehemia sich nun der Beschreibung des inneren Zustandes unter dem Volk zu. Dies ist äußerst lehrreich. Wenn wir mit dem Umgang mit Bösem von außen beschäftigt sind, können wir es uns nicht leisten, unsere eigene moralische Verfassung oder den Zustand der Versammlung zu vernachlässigen. Zu oft ist dies der Fall gewesen. So ist es manchmal zu beobachten, dass eifrige Verfechter der Wahrheit das Selbstgericht und die Disziplin im Hause Gottes völlig vernachlässigen. Es gibt kein traurigeres Schauspiel als eine Versammlung, die beispielsweise keine Sorge für ihren eigenen Zustand und ihre eigene Unterordnung unter das Wort Gottes trägt, während sie die Notwendigkeit der Absonderung von Übeltätern oder falschen Lehren lauthals verkündet. Gefäße zur Ehre, geheiligt und nützlich für den Gebrauch des Meisters, werden zu jedem guten Werk vorbereitet, indem sie sich von allem reinigen, wovon sie beschmutzt oder entehrt sein könnten. Dies ist auch die Lektion dieser Kapitel. Kapitel 4 ist durch Kämpfe gekennzeichnet. In Kapitel 5 muss jetzt die Lektion gelernt werden, dass die Bauleute und Krieger den „Brustharnisch der Gerechtigkeit“ (Eph 6,14) tragen müssen, wenn sie den Angriffen des Feindes erfolgreich widerstehen wollen.

„Und es entstand ein großes Geschrei des Volkes und ihrer Frauen gegen ihre Brüder, die Juden. Und es gab solche, die sprachen: Unsere Söhne und unsere Töchter, wir sind viele; und wir müssen Getreide erhalten, damit wir essen und leben! Und es gab solche, die sprachen: Wir mussten unsere Felder und unsere Weinberge und unsere Häuser verpfänden, damit wir Getreide erhielten in der Hungersnot. Und es gab solche, die sprachen: Wir haben Geld geliehen auf unsere Felder und unsere Weinberge für die Steuer des Königs“ (5,1–4).

Im ersten Vers wird die innere Schwierigkeit aufgezeigt: „Und es entstand ein großes Geschrei des Volkes und ihrer Frauen gegen ihre Brüder, die Juden“ (vgl. Apg 6). Das Volk und ihre Frauen sind offensichtlich arm, während „ihre Brüder, die Juden“ zu den Reichen gehören. Durch Unterdrückung seitens Letzterer, die die Gelegenheit nutzten, um sich an der Armut der anderen zu bereichern, war es zu einer Trennung gekommen (vgl. Jak 5 und 1. Kor 11,17–22). Einige hatten ihre Söhne und Töchter den Reichen für Getreide verkauft, damit sie essen und leben konnten. Andere hatten aus demselben Grund unter dem Druck der Hungersnot ihre Felder, Weinberge und Häuser verpfändet. Wieder andere hatten Geld auf die Felder und die Weinberge für die Steuer des Königs geliehen. Die Reichen hatten die Bedürfnisse ihrer ärmeren Brüder ausgenutzt, um selbst reicher zu werden und sie gänzlich unter ihre Macht zu bringen. Die Armen, zur Erde gebeugt unter der schweren Last ihrer Knechtschaft und ihrer Bedürfnisse, erhoben ein „großes Geschrei“ und sagten:

„Und nun, unser Fleisch ist wie das Fleisch unserer Brüder, unsere Kinder sind wie ihre Kinder; und siehe, wir müssen unsere Söhne und unsere Töchter dem Knechtsdienst unterwerfen; und manche von unseren Töchtern sind schon unterworfen, und es steht nicht in der Macht unserer Hände, sie zu lösen; unsere Felder und unsere Weinberge gehören ja anderen“ (5,5).

Dies war der traurige Zustand des zurückgekehrten Überrestes, obwohl sie am Bau der Mauer ihrer heiligen Stadt Jerusalem arbeiteten. Lasst uns nach der Wurzel dieser faulen Stelle suchen. Sie liegt in einem Ausdruck, der zweimal verwendet wird: „ihre Brüder“, „unserer Brüder“. Sie waren insofern Brüder, als dass sie gemeinsame Nachfahren Abrahams waren, doch sogar in noch tieferer Weise. Als Gottes auserwähltes Volk befanden sie sich alle auf dem Boden der Erlösung und standen daher vor Ihm auf dem gleichen Fundament – dem gemeinsamen Gegenstand seiner Gnade – und als solche gemeinsame Erben der Verheißungen, die ihren Vätern gegeben worden waren. In dieser Hinsicht forderte Maleachi sie mit der Frage heraus: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat nicht ein Gott uns geschaffen? Warum handeln wir treulos einer gegen den anderen, indem wir den Bund unserer Väter entweihen?“ (Mal 2,10). So behandelten auch „die Juden“ die aus dem Volk, als wären sie nicht ihre Brüder, wobei sie ihre gemeinsame Beziehung, in der sie vor Gott standen, gänzlich vergaßen und sie dadurchwie Fremdlinge und Heiden behandelten. Die gleichen Sünden tauchen in unterschiedlichen Formen in jeder Zeitepoche auf und werden im Jakobusbrief in besonderer Weise erwähnt (siehe Jak 1,9.10; 2 und 5).

Doch in diesem Bericht findet sich bei den Juden mehr als nur das Vergessen der gemeinsamen Beziehung. Es gab auch offenen Ungehorsam (siehe 2. Mo 22,25, 5. Mo 15). Ein Vers sollte zitiert werden: „Wenn ein Armer unter dir sein wird, irgendeiner deiner Brüder in einem deiner Tore in deinem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand vor deinem Bruder, dem Armen, nicht verschließen; sondern du sollst ihm deine Hand weit öffnen und ihm willig auf Pfand leihen, was erforderlich ist für den Mangel, den er hat“ (5. Mo 15,7.8; lies das gesamte Kapitel). Da sie selbst Empfänger der Gnade waren, waren sie verpflichtet, die Gnade auch ihren Brüdern zu erweisen (siehe 2. Kor 8,9). Doch stattdessen verleugneten sie, wie bereits betont, die Wahrheit ihrer erlösten Stellung und zeigten einen Geist der Härte und Unterdrückung zugunsten ihres eigenen Gewinns, indem sie die einfachsten Grundsätze des Wortes Gottes verletzten. Es gibt wenige, die beim Lesen dieses Berichtes solch großen Ungehorsam nicht verurteilen würden. Dennoch sei die Frage erlaubt, wozu dies führte? Es war schlicht die Übernahme von menschlichen Gedanken anstelle der Gedanken Gottes, von weltlichen Gebräuchen und Praktiken anstelle der in den Schriften vorgegebenen. Kurzgesagt: Diese Juden wandelten als Menschen, und zwar als solche, die danach trachteten, auf Kosten ihrer Brüder reich zu werden! Ist diese Sünde in der Versammlung Gottes nicht bekannt? Drängen sich die Gebräuche der Gesellschaft und der Grundsätze der Welt nicht oft auch unter Christen auf und bestimmen deren gegenseitige Beziehungen? Lasst unsere eigenen Gewissen diese Frage in der Gegenwart Gottes beantworten, und wir werden schnell entdecken, ob die Sünde dieser Juden auch heute unter dem Volk des Herrn vorhanden ist.

„Und als ich ihr Geschrei und diese Worte hörte, wurde ich sehr zornig“ (5,6).

Dies war der Zustand unter den zurückgekehrten Gefangenen – dem bewahrten Überrest. Eine moralische Verfassung, die die Bemühungen Nehemias, dem fortschreitenden Strom des Bösen von außen entgegenzutreten, zwangsläufig lähmte. Er beschreibt uns, dass er „sehr zornig“ wurde. Sein treues Herz versetzte sich in die leidvolle Lage seiner armen Brüder, und er war zu Recht empört über ihre Unterdrücker. Ähnlich Paulus, der später ausrief: „Wer ist schwach, und ich bin nicht schwach? Wem wird Anstoß gegeben, und ich brenne nicht?“ (2. Kor 11,29). In beiden Fällen, dem Zorn Nehemias und dem Mitleid des Paulus, handelte es sich um Identifizierungen mit dem Leid des Volkes Gottes und somit, wenn auch sehr schwach, um Widerspiegelungen des Herzens Gottes selbst (vgl. 2. Mo 3,7.8).

„Und mein Herz hielt Rat in mir, und ich stritt mit den Edlen und mit den Vorstehern und sprach zu ihnen: Auf Wucher leiht ihr, jeder seinem Bruder! Und ich veranstaltete eine große Versammlung gegen sie“ (5,7).

Doch für Nehemia war die Frage: Wie konnte dieser Zustand behoben werden? Die Antwort finden wir in den Versen 7–12. Man beachte den bemerkenswerten Ausdruck: „Und mein Herz hielt Rat in mir“, denn er beinhaltet einen Grundsatz von äußerster Wichtigkeit. Die Edlen und Vorsteher, mit denen er unter normalen Umständen Rat gehalten hätte, waren die Hauptschuldigen, weshalb von ihnen keine Erkenntnis oder Hilfe erwartet werden konnte. So kam es, dass Nehemia auf sich allein gestellt war, oder besser gesagt, dass er für Leitung in dieser Sache auf Gott angewiesen war. Wenn alle den Weg verlassen haben und in der Folge die Autorität des Wortes Gottes verfinstert worden ist, kann der Mann Gottes – dessen Wunsch es ist, mit Gott zu leben – es sich nicht leisten, andere in seine Beratungen einzubeziehen, sonst wird er von ihren Ratschlägen behindert. Er muss allein und für sich selbst in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes handeln, was immer der Preis dafür ist. In dieser Notwendigkeit findet Nehemia Kraft und Mut, denn dies erzeugt das Vertrauen auf den Herrn und versichert ihm Seine Gegenwart. So stritt Nehemia „mit den Edlen und Vorstehern und sprach zu ihnen: Auf Wucher leiht ihr, jeder seinem Bruder! Und ich veranstaltete eine große Versammlung gegen sie.“ Er überführte sie von ihrer Sünde (siehe 2. Mo 22,25) und wies sie in Übereinstimmung mit der apostolischen Anordnung vor allen zurecht:

„Und ich sprach zu ihnen: Wir haben unsere Brüder, die Juden, die den Nationen verkauft waren, soweit es uns möglich war, losgekauft; und ihr wollt etwa eure Brüder verkaufen, und sie sollen sich uns verkaufen? Da schwiegen sie und fanden keine Antwort. Und ich sprach: Nicht gut ist die Sache, die ihr tut! Solltet ihr nicht in der Furcht unseres Gottes wandeln, dass wir nicht den Nationen, unseren Feinden, zum Hohn seien? Aber auch ich, meine Brüder und meine Diener, wir haben ihnen Geld und Getreide auf Wucher geliehen. Lasst uns doch diese Forderung erlassen! Gebt ihnen doch gleich heute ihre Felder, ihre Weinberge, ihre Olivengärten und ihre Häuser zurück und erlasst ihnen den Zins von dem Geld und dem Getreide, dem Most und dem Öl, das ihr ihnen auf Wucher geliehen habt“ (5, 8–11).

Es gibt einige Punkte in der Ansprache Nehemias, die besonders beachtet werden sollten. Zunächst sehen wir, dass er fähig ist, die Übeltäter zurechtzuweisen, indem er ihr Verhalten seinem eigenen gegenüberstellt. Er hatte seine Brüder von den Nationen losgekauft, wohingegen sie diese (ihre Brüder) in ihre Gefangenschaft gebracht hatten indem sie über das Erbe Gottes Regiment führten. Wie gesegnet ist es, wenn ein Hirte unter dem Volk Gottes auf sein eigenes Verhalten als ein Vorbild hinweisen kann. Ebenso war es auch beim Apostel Paulus. Wieder und wieder wurde er vom Heiligen Geist dahin geleitet, sich selbst als Beispiel vorzustellen (siehe Apg 20,34.35; Phil 3,17; 1. Thes 1,5.6). So war es in diesem Fall auch bei Nehemia. Und in welches Licht stellte er dadurch das Verhalten der Edlen und Vorsteher! Nehemia hatte, aus Liebe zu seinen Brüdern und aus Betrübnis über die Unehre, die ihr Zustand über den Namen des Herrn brachte, seinen Besitz in ihre Befreiung investiert. Sie hingegen nutzten aus Liebe zu sich selbst und aus dem Wunsch, ihren Reichtum zu vermehren, die Bedürfnisse ihrer Brüder aus, um das Joch der Knechtschaft auf ihre Nacken zu legen. Nehemia offenbarte den Geist Christi (vgl. 2. Kor 8,9) und sie den Geist Satans.

Nachdem er nun die Natur ihres Verhaltens bloßgestellt hat, spricht er noch eine weitere Sache an: „Nicht gut ist die Sache, die ihr tut! Solltet ihr nicht in der Furcht unseres Gottes wandeln, dass wir nicht den Nationen, unseren Feinden, zum Hohn seien?“ Dieser Aufruf zeigt, wie wichtig Nehemia die Ehre seines Gottes war, und dass ihm der Gedanke, dass das Verhalten Israels dem Feind eine berechtigte Gelegenheit zum Vorwurf lieferte, im Herzen wehtat. Sie behaupteten – und dies zu Recht –, Gottes auserwähltes Volk zu sein und als solches heilig und abgesondert vom Rest der Nationen zu seinem Dienst zur Verfügung zu stehen. Doch wenn sie in ihrem Wandel den Nationen glichen, was wurde aus ihrer Verheißung? Sie hörten nicht auf, Gottes Volk zu sein, doch durch ihr Verhalten verleugneten sie, dass sie dies waren, und entweihten öffentlich den heiligen Namen, durch den sie berufen worden waren. Kein größerer Schaden kann durch das Volk Gottes angerichtet werden, als dem Feind einen gerechtfertigten Grund zu geben, es bezüglich ihres Verhaltens zu verspotten (vgl. 1. Pet 2,11; 3,15; 4,15–17). Auf diese Ansprache gründet er seine Ermahnung: erstens, die Übeltat zu unterlassen, und zweitens, Gutes tun zu lernen. Er erinnert sie daran, dass er und seine Brüder und Diener auf gleiche Weise hätten handeln können, wenn sie sich dafür entschieden hätten. Er sagt: „Lasst uns doch diese Forderung erlassen.“ Man beachte, dass er sagt: „Lasst uns“. Hierbei stellt er sich voller Gnade in ihren Sünden auf ihre Seite und erkennt an, dass er vor Gott eins mit ihnen war. Somit sucht er in einem Geist der Sanftmut ihre Wiederherstellung zu bewirken. Darüber hinaus ermahnt er sie zur Rückerstattung, indem sie „gleich heute ihre Felder, ihre Weinberge, ihre Olivengärten und ihre Häuser“, die sie jenen auf Zins verliehen hatten, zurückgeben.

„Da sprachen sie: Wir wollen es zurückgeben und nichts von ihnen fordern; wir wollen so tun, wie du sagst. Und ich rief die Priester und ließ sie schwören, nach diesem Wort zu tun“ (5,12).

Der Herr war mit seinem Diener, und sie stimmten zu, nach Nehemias Ermahnung zu handeln. Doch Nehemia wollte an diesem Entschluss keinen Zweifel lassen noch befürchten zu müssen, dass sie in Versuchung kämen, ihr Versprechen zu vergessen, wenn sie in ihre Häuser zurückkehrten. So „rief [er] die Priester und ließ sie schwören, nach diesem Wort zu tun“. Doch noch mehr, um der Angelegenheit eine noch größere Ernsthaftigkeit zu verleihen, sagt er:

„Auch schüttelte ich meinen Gewandbausch aus und sprach: So möge Gott jedermann, der dieses Wort nicht aufrechterhalten wird, aus seinem Haus und aus seinem Erwerb schütteln; und so sei er ausgeschüttelt und ausgeleert! Und die ganze Versammlung sprach: Amen! Und sie lobten den HERRN. Und das Volk tat nach diesem Wort“ (5,13).

In dieser Weise arbeitete Nehemia für das Wohl des Volkes und korrigierte die Missstände, die in ihrer Mitte zur Zerstörung der Ordnung, Heiligkeit und Gemeinschaft+ aufgekommen waren.

„Auch von dem Tag an, als er mich bestellt hatte, um ihr Statthalter im Land Juda zu sein, vom zwanzigsten Jahr bis zum zweiunddreißigsten Jahr des Königs Artasasta, zwölf Jahre lang, habe ich mit meinen Brüdern die Speise des Statthalters nicht gegessen. Aber die früheren Statthalter, die vor mir gewesen waren, hatten das Volk beschwert und Brot und Wein von ihnen genommen, dazu vierzig Sekel Silber; auch ihre Diener herrschten willkürlich über das Volk. Ich aber tat nicht so, aus Furcht vor Gott“ (5,14–15).

Von Vers 14 bis zum Ende des Kapitels wird Nehemia dahin geführt, eine Beschreibung seines eigenen Verhaltens als Statthalter zu geben. Wenn wir diesen Abschnitt betrachten, können wir menschlich gesehen den Eindruck eines Eigenlobs oder der Selbsterhöhung erlangen. Doch es sollte nie vergessen werden, dass wir das Wort Gottes lesen und es daher vom Heiligen Geist geleitet ist, dass diese Beschreibung zu unserer Belehrung aufgezeichnet wurde. Die Lektion ist, wie bereits erwähnt, dass die Hirten, die Gott für sein Volk erweckt, immer „Vorbilder der Herde“ sein sollen (siehe 1. Pet 5,1–3). Wenn wir dies im Gedächtnis behalten, sollten wir in der Lage sein, von der Darstellung des Verhaltens Nehemias einen Nutzen zu ziehen. Zunächst beschreibt er uns, dass in den zwölf Jahren, in denen er Statthalter war, weder er noch seine Brüder die Speise des Statthalters gegessen hatten, wie es seine Vorgänger getan hatten. Das heißt, er hatte das Volk nicht „beschwert“, wie er erläutert. Sein Amt hätte ihm das Recht gegeben, dies zu tun, doch in dieser Hinsicht nutzte er seine Autorität nicht. Wieder werden wir an den Apostel Paulus erinnert, der den Korinthern schrieb: „Wenn wir euch das Geistliche gesät haben, ist es etwas Großes, wenn wir euer Fleischliches ernten? Wenn andere dieses Rechtes an euch teilhaftig sind, nicht viel mehr wir? Aber wir haben von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht, sondern wir ertragen alles, um dem Evangelium des Christus kein Hindernis zu bereiten“ (1. Kor 9,11–13, siehe auch Apg 20,33; 1. Thes 2,9). Auch erlaubte er, anders als die früheren Statthalter, seinen Dienern nicht,  über das Volk zu herrschen. Selbst in der Versammlung Gottes gibt es keinen häufigeren Missbrauch als den hier angedeuteten. Zum Leidwesen der Heiligen und in Umkehrung der göttlichen Ordnung kann beispielsweise oft beobachtet werden, dass die Verwandten derer, die zurecht den Platz als Vorsteher einnehmen, deren Rang und Autorität für sich in Anspruch nehmen und erwarten, aufgrund ihrer Verwandtschaft anerkannt zu werden. Wie im Fall Nehemias ist es auch in der Versammlung so, dass ein Amt an eine Person gebunden ist, denn Fähigkeiten oder Gaben sind von Gott geschenkt und können nicht auf andere übertragen werden. Sogar Samuel versagte in dieser Hinsicht, als er seine Söhne zu Richtern machte – und schließlich war es ihr Verhalten, welches das Volk Israel dazu verleitete, einen König zu wünschen (siehe 1. Sam 8,15).

Hiervor wurde Nehemia bewahrt, indem er vor Gott wandelte und handelte. „Ich aber tat nicht so“, schreibt er, „aus Furcht vor Gott“. Dies enthüllt uns einen Mann, dessen Gewissen empfindlich und in ständiger Übung war. Ein Mann, der über seine eigenen Wege und sein Verhalten wachte, damit er nicht durch Eigenwillen oder seinen eigenen Vorteil anstatt dem Wort Gottes gesteuert werden würde. Er pflegte eine gewohnheitsmäßige Ehrfurcht sowohl gegenüber Seiner Gegenwart als auch Seiner Autorität und trachtete immer danach, sich selbst Gott zu empfehlen, wobei er sich eine heilige Furcht in seiner Seele bewahrte. Dies war sowohl das Geheimnis seiner Aufrichtigkeit als auch seiner Hingabe, denn er kann sagen, dass er gewillt war, sich für den Dienst des Herrn einzusetzen und eingesetzt zu werden.

„Und auch am Werk dieser Mauer fasste ich mit an; und wir kauften kein Feld; und alle meine Diener waren dort zum Werk versammelt. Und die Juden, sowohl die Vorsteher, 150 Mann, als auch die, die aus den Nationen, die ringsumher wohnten, zu uns kamen, waren an meinem Tisch“ (5,16–17).

Er gab sich selbst dem Werk hin, er suchte keine irdischen Besitztümer für sich selbst, und seine Diener genauso wie er selbst widmeten sich dem Bau der Mauer. Dies ist sicherlich ein gesegnetes und gutes Beispiel von Selbstverleugnung und Weihung, als Frucht der Gnade Gottes die Gottesfürchtigen zu ermutigen, seinen Fußstapfen zu folgen und die Habsucht und Begierde derer zu tadeln, die mit den Bedürfnissen ihrer Brüder Handel trieben. Doch dies war noch nicht alles. „Und die Juden“, fügt er hinzu, „sowohl die Vorsteher, 150 Mann, als auch die, die aus den Nationen, die ringsumher wohnten, zu uns kamen, waren an meinem Tisch“. Hiermit sind Juden gemeint, die unter die anderen Völker zerstreut waren, die zu jener Zeit Palästina bewohnten.

„Und was für einen Tag zubereitet wurde: Ein Rind, sechs ausgewählte Schafe und Geflügel wurden mir zubereitet; und alle zehn Tage allerlei Wein in Menge; und trotzdem forderte ich nicht die Speise des Statthalters, denn der Dienst lastete schwer auf diesem Volk“ (5,18).

Der nächste Vers beschreibt uns die tägliche Versorgung für seinen Tisch sowie den Vorrat aller Sorten von Wein, der alle zehn Tage aufgetischt wurde. Hiervon lernen wir, dass Nehemia sich um Gastfreundschaft bemühte und es nicht vergaß, Fremde zu beherbergen. Somit zeigte er eine der Voraussetzungen, die der Apostel als unerlässlich für einen Aufseher in der Versammlung Gottes angibt (1. Tim 3,2) – eine Eigenschaft, die heute vielleicht nicht so sehr geschätzt wird wie in früheren Tagen. Doch es sollte die Frage gestellt werden, ob irgendetwas mehr dazu dient, die Herzen der Heiligen zu verbinden und somit die Jüngerschaft anzufachen als die Ausübung von Gastfreundschaft nach den Gedanken Gottes. Das Wort Gottes bietet uns hierfür zahlreiche Beispiele als auch Aufforderungen dazu. Es war der besondere Dienst eines geliebten Heiligen, wie in der Beschreibung des Apostels gesehen werden kann, als er schreibt: „Gajus, mein und der ganzen Versammlung Wirt“ (Röm 16,23; siehe auch 3. Joh). Die Quelle seines Dienstes ist das Wirken der Gnade in seinem Herzen – sich im Geben zu erfreuen und im Glück anderer selbst Glück zu finden. Es ist daher ein deutlicher Ausdruck desHerzens Gottes. „Und trotzdem“, fügt Nehemia hinzu, „forderte ich nicht die Speise des Statthalters, denn der Dienst lastete schwer auf diesem Volk“. Sein Herz war von dem Zustand des Volkes berührt und er hatte die Lektion gelernt, dass Geben seliger ist als Nehmen (Apg 20,35b). Daher teilte er reichlich denen mit, die zu ihm kamen und scheint alle willkommen geheißen zu haben.

Auch trachtete Nehemia nicht nach irgendeiner menschlichen Gegenleistung, sondern wendet sich an Gott, in dessen Gegenwart er wandelte und arbeitete, und sagte:

„Gedenke mir, mein Gott, zum Guten alles, was ich für dieses Volk getan habe!“ (5,19).

Es ist oft gesagt worden, dass dieses Gebet, wie auch andere von ihm aufgezeichnete, darauf hindeuten, dass Nehemia sich auf einem niedrigen geistlichen Niveau bewegte, da es weit besser gewesen wäre, überhaupt nicht an eine Vergeltung zu denken. Dies mag sein; und wie wir gesehen haben, hatte Nehemia sicherlich nicht den schlichten Glauben Esras. Andererseits kommen wir nicht umhin, in dem hier gegebenen Bericht zu sehen, dass er in Tagen der Verwirrung und des Verfalls ein deutlich anderes Bild abgab durch eine außergewöhnliche Hingabe an den Dienst seines Gottes, durch ein reines Gewissen und durch die völlige Selbstverleugnung in seinem innigen Wunsch nach der Verherrlichung Gottes und dem Wohlergehen des Volkes. Alles, was er war und hatte, legte er auf den Altar und gab es Gott für Seinen Gebrauch und Dienst. Zugegeben, es mag erhabenere Gebete geben als das hier aufgezeichnete, jedoch ziehen wir es vor, darin den Ausdruck eines ernsten Wunsches nach dem Segen Gottes in Verbindung mit seinem Arbeiten für Sein Volk zu sehen. Der Herr selbst sagte: „Und wer irgend einem dieser Kleinen nur einen Becher kaltes Wasser zu trinken gibt in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch: Er wird eines Gerechten Lohn empfangen“ (Mt 10,42). In diesem Geist wandte Nehemia sich von allen nach eigenem Gewinn strebenden Gedanken weg und hin zu Gott, indem er den treuen HERRN kannte, mit dem er es zu tun hatte. Zudem hatte er die Zuversicht, dass Er, der in seinem Herzen diese Liebe zu Seinem Volk bewirkt hatte, nicht zulassen würde, dass er seinen Lohn nicht erhielt. Wie Mose „schaute [er] auf die Belohnung“ (Heb 11,26), doch nicht die von Menschen, sondern die von Gott.

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