Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 91

Der Gläubige braucht einen Ruheort für seine Seele. Wenn die Nöte des Lebens ihn bedrängen, hat er eine Zuflucht nötig, wohin er sich vor allen Gefahren zurückziehen kann. Wenn erschreckende Ereignisse hereinbrechen und die Furcht vor den zu erwartenden Folgen wächst, dann hält die Liebe Gottes einen Platz bester Geborgenheit für den Gläubigen bereit. Im „Schutz des Höchsten“ ist er unangreifbar, dorthin können ihm keine Krankheit, keine Gewaltmaßnahme, keine Lüge, kein Pfeil und keine Schlinge folgen (Verse 3 und 5). Selbst ein Schicksal, das die Menschen als Gesamtheit bedroht, kann ihm die Geborgenheit nicht wegnehmen. Gottes Strafgericht hat er als Glaubender nicht mehr zu fürchten. Denn davor hat ihn der bergende „Schatten des Allmächtigen“ bereits sichergestellt (Vers 1). Gott ist sein Schutz und Schild (Vers 4f). Selbst eine Gefahr, die nach menschlichem Ermessen unabwendbar vernichtend ist, kann keinen Schaden verursachen, wenn die Machtmittel des Höchsten zur Anwendung kommen. Gottes Liebe sieht die bedrohte Lage, sie weiß um jede Schwachstelle, durch die Seine Schutzbefohlenen angreifbar werden. Der Allmächtige, der alles in Seiner Hand hat, bewahrt Seine Kinder auf allen Wegen. Es ist die Antwort Gottes auf die Liebe und den Glauben dessen, der Ihn kennt und ihn um Hilfe anruft. Jederzeit gilt ihm die Zusage: „Ich werde ihm antworten, ich werde bei ihm sein in der Bedrängnis; ich werde ihn befreien“ (Vers 15). Menschliche Not ist für Gott die Gelegenheit, Sich zu dem zu bekennen, der Ihn durch Vertrauen ehrt. Denen, die Er beschützt und schon hier Seine Nähe genießen lässt, hat Er auch einen ewigen Ruheort im,Land der Lebendigen' bereitet (Verse 1 und 15; Ps 23,6; 27,13; 49,16). Wem Er hier bereits eine ‚Wohnung' war, dem wird Er es auch in Ewigkeit sein (Ps 90,1).

Wer im Schutz des Höchsten sitzt, befindet sich dabei sozusagen im „Verborgenen“ (Vers 1 mit Anmerkung der Übersetzer); dort ist er nicht auffindbar für die gefährlichen Anschläge der Übelwollenden. Im Schutzbereich des Allmächtigen ist er der Macht des Übels entzogen und völlig sichergestellt, dies macht ihn froh und glücklich (Vers 2; Ps 27,5f; 31,21f; 32,6f; 40,5). Er wird gerne bezeugen, was sein HERR für ihn bedeutet und auf welche Weise er durch Ihn bewahrt wurde. Sein ganzes Vertrauen gilt seinem Helfer, und das bewirkt Zuversicht. Er zweifelt nicht daran, dass der HERR zu seinen Gunsten eingreifen wird, wenn seine Lage es erfordert (Verse 3 und 4; Ps 17,7f). Im Schatten des Höchsten beschirmt zu sein, verteidigt in Seiner Burg und unter Seinen Flügeln geborgen, hat allerdings zur Voraussetzung, dass man sich in Seiner Nähe aufhält und mit Ihm in enger Gemeinschaft lebt. Diese Stätten wird man dann aus Gewohnheit gut kennen. Man wird dort nicht nur während einer vorübergehenden Notlage zu finden sein. Gemeinschaft bedeutet weit mehr, als nur hin und wieder eine Erfahrung von Gottes Nähe zu machen. Verlässt der Gläubige die Geborgenheit dieser Festung, dann setzt er sich einer Fülle von Gefahren aus. Jesus Christus hat als Mensch auf der Erde diesen Platz im Schatten des Allmächtigen ohne Unterbrechung eingenommen. Als abhängiger Mensch, der auf Gott angewiesen ist, besaß Er Sein Wohlgefallen und wurde ein unübertreffliches Vorbild der Christen. Der Gottesfürchtige, der Gott wohlgefällig ist, wird immer eine Ähnlichkeit mit seinem Herrn haben. Solche Gleichartigkeit beschränkt sich nicht auf das Bekenntnis zu Christus und darauf, dass man Gott und Sein Wort kennt. Die Ähnlichkeit zeigt sich vielmehr in einer Lebenshaltung, die den Glauben in die Wirklichkeit umsetzt. Das höchste Ziel des Christen ist, hinzugelangen „zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,13). Bei den geistlichen Fortschritten sind die Gemeinschaft mit Gott und der tägliche Umgang mit der göttlichen Wahrheit zum Schutz und Schild geworden. Der Glaube und die Wahrheit beschirmen vor Schäden aller Art. Wer darin lebt, entgeht den vielfältigen Schlingen des Irrtums und der Verfälschung (Vers 4b). Der Herr Jesus verhielt Sich stets „der Wahrheit gemäß“ und immer entsprechend dem Willen dessen, der Ihn gesandt hatte (Jes 42,3; Joh 6,38; 8,26); Er lebte in völligem Vertrauen auf Gott (Ps 16,1.8).

Der Schutz des Höchsten beschirmt auch vor Gefährdungen, die dem Gläubigen gar nicht bewusst werden oder die er nicht rechtzeitig wahrnehmen kann wie den fliegenden Pfeil. Und solcher Heimtücke steht man so machtlos gegenüber wie einer ansteckenden Krankheit (Verse 5 und 6; Ps 11,2; 23,4; 121,6.7; Spr 3,23–26). Darum stellt der Gläubige sein Ergehen der göttlichen Schutzmacht anheim, die ihn über das gegenwärtige Leben hinaus sicher bis ins ewige Leben und zur ewigen Gemeinschaft mit Gott geleitet. Unter den Tausend und Zehntausend blickt der Herr auf den Einzelnen, der an Ihn glaubt und Ihm dient. Er rettet ihn als Einzigen unter Vielen aus der aussichtslos erscheinenden Lage. Als Überlebender wird er zum Zuschauer des Gerichts der Gottlosen (Vers 8; Ps 37,34; Jer 39,17.18; 45,5). Ein Beispiel hierfür ist die Rettung des Lot vor dem Schicksal Sodoms. Eine ähnliche Rettungsmaßnahme wiederholt sich dann, wenn die gläubigen Christen vor dem Hereinbrechen des endzeitlichen Gerichts entrückt werden. Vergleichbares wird auch bei der Rettung der Gläubigen aus Israel in der noch zukünftigen Drangsalszeit geschehen. „So weiß der Herr die Gottseligen aus der Versuchung zu retten, die Ungerechten aber aufzubewahren auf den Tag des Gerichts“ (2. Pet 2,9). Dem Gericht entrinnen nur die Gottesfürchtigen, weil sie den HERRN, den Höchsten, zu ihrer Zuflucht und Burg gemacht haben (Vers 9; Ps 71,3). Wer Ihn zu seiner Wohnung gemacht hat, braucht sich nicht zu fürchten, selbst wenn er sein irdisches Zelt, seine Bleibe auf der Erde, verlöre (Vers 10; Ps 34,20; Spr 12,21; Jes 3,10; 54,14). Die Wahl der Gemeinschaft mit Gott als Wohnort hat das denkbar Beste zur Folge: die Verheißung reichsten Segens und der Treue Gottes.

Vers 11 sagt, dass Engel beauftragt sind, den Gottesfürchtigen zu bewahren, der sein Vertrauen auf Gott gesetzt hat (Heb 1,14). In bezeichnender Weise gilt diese Zusage auch dem Herrn Jesus und Seinem Wandel als Mensch auf dieser Erde. Er besaß ein vollkommenes Vertrauen auf Gott und hatte in ununterbrochener Gemeinschaft Seine Wohnung in Ihm (Ps 40,2). Doch daraus leitete Er nie einen persönlichen Anspruch auf Gottes Hilfe ab, obwohl sie Ihm zur Verfügung gestanden hätte (Mt 26,52–54). Freiwillig unterzog Er sich den größten Leiden und bot Seinen Rücken den Schlagenden (Jes 50,5.6). Bei zwei Gelegenheiten kamen Ihm Engel zu Hilfe und dienten Ihm (Mt 4,11; Lk 22,43). Er würde einen Anspruch geltend gemacht haben, wenn Er der Aufforderung Satans nachgekommen wäre, Sich von der Zinne des Tempels hinabzuwerfen (Mt 4,6f). Aber Er lehnte es ab, weil es einer Versuchung Gottes gleichgekommen wäre (5. Mo 6,16). Es ging Ihm immerfort darum, dem Wort und Willen Gottes in Demut zu gehorchen. Nie trat Er um Seiner Selbst willen hervor, denn Er suchte die Ehre dessen, der Ihn gesandt hatte (Joh 7,18; 8,50). Jedes Werk und jeden Ortswechsel nahm Er Sich nur nach dem Willen Gottes vor. Er kannte keinen davon abweichenden Gedanken (Joh 6,38). Den Schutz Seines Gottes genoss Er ohnehin. Niemand hätte die Hände an Ihn legen können, wenn Gott es nicht vorher so bestimmt hatte (Joh 7,30.44). Offensichtlich hatte Gott den Engeln über Ihm befohlen, Ihn auf allen Seinen Wegen zu bewahren. Satan missbrauchte die Verheißung der Verse 11 und 12 in der Absicht, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Jesus und Gott, Seinem Vater, aufzulösen. Doch Jesus blieb treu an dem Platz der Abhängigkeit, den Er als Mensch Gott gegenüber eingenommen hatte, und offenbarte vollkommenen Gehorsam. Seine Gegner meinten, Ihn für immer beseitigt zu haben. Doch entgegen ihren Plänen haben sich die Prophezeiungen der Verse 9 bis 16 bei der Rettung Jesu, des treuen Gottesfürchtigen, zu dem von Gott vorausbestimmten Zeitpunkt erfüllt. Dies vollzog sich sehr bald nach Seinem Tod am Kreuz, als Jesus auferweckt wurde. Nachdem Jesus Christus auf dem Kreuz Seinen Geist aufgegeben hatte und Sein Tod festgestellt war, ließ Gott es nicht mehr zu, dass einer Seiner Feinde Ihn berührte. Durch Seine Erniedrigung und Unterwerfung unter den Willen Gottes hat der Herr Jesus die verheißenen wunderbaren Gnadengeschenke Gottes möglich gemacht für alle, die im Vertrauen auf Gott und das Werk am Kreuz ihren Weg gehen. Eins mit ihnen und für sie eintretend, nimmt Jesus die göttlichen Zusagen für Sich und die Seinen in Anspruch. Denn um Seiner Erlösten willen ist Er Mensch geworden und hat das Kreuz erduldet.

Vers 14 gilt dem, der Gott liebt und Ihm in jeder Hinsicht den Vorrang einräumt, indem er Seinen Namen über alles hochschätzt und ihn in allem Verhalten ehrt. In erster Linie trifft dieser Vers auf Jesus zu, den Sohn des Menschen, der in der Liebe des Vaters blieb und immer so handelte, wie der Vater Ihm geboten hatte. „Größere Liebe hat niemand“ (Joh 14,31; 15,10.13). Christus Jesus kennt den Namen und das Wesen des Vaters vollkommen, wie kein anderer ihn jemals kennen kann (Joh 8,55; 10,15; 17,24.25). Er ist von Gott, dem Vater, an den höchsten Platz zu Seiner Rechten gesetzt worden (Ps 110,1f; Jes 52,13; Joh 12,16). In Seiner Erniedrigung hat Er zu Gott gerufen und ist auf herrliche Weise erhört worden (Vers 15; Ps 22,22; 69,2.14; 102,2). Gott hat Ihn „auferweckt, nachdem er die Wehen des Todes aufgelöst hatte“ (Apg 2,24). Er hat Ihn befreit und zu Seiner Rechten gesetzt (Joh 13,31.32; 17,1.24; Eph 1,20f). Als Folge der Verherrlichung Jesu werden auch die befreit und verherrlicht werden, die Ihn lieben und an Ihn geglaubt haben. Weil Christus mit Länge des Lebens gesättigt ist (Vers 16; Ps 21,5; 102,27.28), haben auch sie ein ewiges Teil. Auf Seine Rettung aus dem Tod und auf Seine Verherrlichung gründet sich das ewige Heil aller Erlösten. Sie nehmen teil an Seiner Herrlichkeit und loben Gott in Ewigkeit für Seine Liebe.

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