Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 50

Der Betrachtung der einzelnen Verse seien einige Bemerkungen zum Inhalt des Psalms vorangestellt. Zum Bekennen des Glaubens gehört die persönliche, praktische Verwirklichung des Glaubens. Der Gläubige gehorcht dem Wort Gottes, und das zeigt sich in seinem Umgang. Der Glaube prägt die Haltung den Mitmenschen gegenüber, und im Besonderen Gott gegenüber. Wer als Anbeter Gott naht, muss wissen, mit wem er es zu tun hat; er sollte die Bedingungen für einen Gottesdienst nach Gottes Gedanken kennen. Wenn der Glaube lebendig ist, lernt man Gott mehr und mehr kennen und vermag beim Loben und Danken Ihm Wohlgefälliges und Angemessenes zu bringen. Der Leichtfertige, der mit falschen Vorstellungen über Gott einen eigenwilligen Gottesdienst verrichtet, wird im vorliegenden Psalm scharf getadelt. Wer aber mit Einsicht in Gottesfurcht „Lob opfert“, ehrt Gott und wird dafür belohnt werden. Gott tritt in diesem Psalm als Richter auf, ähnlich wie in den Psalm 75 und 82, die ebenfalls Asaph zugeschrieben werden. Gott ruft hier sein Volk zu einer verantwortungsbewussten Haltung auf, vor allem im Blick auf den Gottesdienst.

Die Offenbarung Gottes in Herrlichkeit steht schon vom ersten Vers an im Blickfeld. Dort werden drei verschiedene Namen Gottes genannt, die Ihn in Seiner Majestät und Erhabenheit hervortreten lassen. Er ist herrlicher als Zion (das ist Jerusalem), das in Vers 2 als Krone der Schönheit vorgestellt wird. Aus dem Heiligtum an diesem Ort strahlte Seine Herrlichkeit hervor. Den Lesern des Psalms wird als Erstes Seine unübertreffliche Größe und Herrlichkeit vor Augen gestellt. Er ist der Vollkommene und allein Anbetungswürdige. Den Höchsten darf man nicht einem Menschen gleichstellen; dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir zu Ihm reden. Wenn ein Mensch in Seine Nähe kommen will, sollte er bedenken, dass er sich in ein alles durchdringendes Licht begibt und dass ein verzehrendes Feuer vor Gott her frisst (Vers 3). Das Feuer ist das Kennzeichen Seiner Heiligkeit. Die Verletzung und Missachtung Seiner heiligen Person wird mit einem Nachdruck und einer Macht geahndet, die hier mit einem gewaltigen Sturm verglichen wird (2. Mo 20,18). Die Stellen in Heb 12,18.29 sind so gemeint, dass die Bekenner nicht die Heiligkeit Gottes vergessen und sündigen, eben w e i l sie nicht mehr auf dem Boden des Gesetzes stehen, wo Gott Sich im verzehrenden Feuer offenbart hatte. Auf dem Boden der Gnade steht man in Gefahr, die Heiligkeit Gottes zu vergessen.

Es geht in Vers 5 zunächst nicht um den Bund vom Sinai, sondern darum, dass der Überrest in der kommenden Drangsalszeit aus Liebe zum HERRN und wahrer Gottesfurcht wieder einen Bund schließen wird – ähnlich wie in Esra/Nehemia – um Gott freiwillig wieder seine Bereitschaft zu zeigen, Ihm zu dienen und den Opferdienst wieder aufzunehmen; natürlich ist der Bund vom Sinai die Grundlage, aber auch jetzt das „neue“ Versprechen bzw. Gelöbnis. Gott erkennt diesen neuen Bund sogar als „seinen Bund“ an, obwohl er völlig freiwillig geschlossen wurde. Außerdem muss man beachten, dass Gott hier in Ps 50 einen Unterschied macht, ob Er zu „Seinen Frommen“ spricht, an denen Er ja Wohlgefallen hat, oder zu „mein Volk,Israel“ als Ganzes, das Er tadeln muss. Wenn Gott dem Volk Israel gegenüber richtend auftritt (Vers 6), sind die Bewohner des Himmels und der Erde zu Zeugen aufgerufen (Vers 4; 5. Mo 31,28; Jes 1,2), denn in denen, die Ihm nahen, will Er vor den Augen aller geheiligt werden (3. Mo 10,3). Darum setzt bei ihnen Sein Gericht als Erstes an. Die Menge derer, die Seinen „Bund beim Opfer geschlossen haben“ und somit unter eine besondere Verantwortung gestellt worden sind, haben sich Seinem Urteilsspruch zu unterwerfen. Wie steht es in Wirklichkeit mit ihrer Frömmigkeit? Verehren sie Ihn in Wahrheit? Rufen sie Ihn betend an als ihren persönlichen Gott und gehorchen sie Ihm? Haben sie begangene Sünden eingesehen und vor Ihm bekannt und wissen sie noch, dass das Blut von Opfertieren fließen musste wegen ihrer Sünden? Erschöpft sich der fortgesetzte Opferdienst nunmehr in bloßen Zeremonien, während ihr Herz weit entfernt von Ihm ist? (Jes 29,13; Mt 15,6–9). Ihre Stellung als Bundesvolk des HERRN war von Anfang an grundsätzlich unverändert geblieben; sie besaßen den ständigen Opferdienst, den Tempel und die Priesterschaft. Äußerlich schien alles in guter Ordnung zu sein, aber mit ihrem Herzen und Gewissen standen sie nicht vor Gott, sie kannten ihren Gott in Wirklichkeit nicht mehr und trieben nebenbei Götzendienst. Die Himmel müssen Gericht ankündigen, um das Echte vom Unechten, das Heilige vom Unheiligen zu trennen und den wahren Gottesdienst von Heuchelei und bloßen Zeremonien zu befreien.

In den Versen 8 bis 13 nennt Gott die Gründe, die Ihn zum Einschreiten gegen den formellen Opferdienst Israels bewegt haben. Über ihren vielen gottesdienstlichen Vorkehrungen und den Opfergaben, die sie gleich einem Ritual darbrachten, hatten sie Gott selbst außer Acht gelassen (Jes 1,11–17; Jer 7,21f). Deshalb musste Er ihnen ins Gedächtnis rufen: „Ich bin Gott, dein Gott“ (Vers 7). Nicht das Opfern an sich beanstandet Er, sondern ihren Mangel an Gottesfurcht und ihre verkehrte innere Einstellung beim Opfern. Sie meinten, Gott müsse es ihnen als Verdienst anrechnen, dass sie ohne Unterlass Zeit und Kosten aufwendeten, das Angeordnete zu opfern und die Vorschriften zu erfüllen. Sie wollten Ihn zufriedenstellen, indem sie Ihm etwas nach ihrem Dafürhalten Wertvolles abgaben. Dabei bewegte sich ihr Denken in den Bahnen des Irdischen, des Materiellen. Sie unterstellten dem ewigen Gott, dass Er so dächte wie sie und die gleichen Maßstäbe anlegte. Die eigentliche Bedeutung des Opferns war ihnen verlorengegangen. Sie dachten vornehmlich an ihren Aufwand, das Hingeben von wertvollen Tieren und Geldsummen. Sie meinten, wirklich etwas geopfert zu haben, und sahen doch nur das Äußerliche. Das Verständnis für das durch die Opfer abgebildete Geistliche war ihnen abhandengekommen. Außerdem übersahen sie, dass ihnen das Dargebrachte zuvor von Gott, dem als Schöpfer ohnehin alle Dinge gehören, zur Nutzung übergeben worden war (Verse 10 bis 12; 1. Kor 4,7). Weithin hatten sie keine innere Beziehung mehr zu Ihm, wähnten aber doch, Ihn zu kennen und Ihm zu dienen. Im Prinzip ereignet sich das Gleiche heute unter Christen, die zwar an einem Gottesdienst teilnehmen, sich aber nicht in geistlicher Weise und im Glauben vor Gottes Angesicht begeben haben und nicht wirklich mit dem Herzen am heiligen Ort Seiner Gegenwart sind. Das Sichtbare und Greifbare, allenfalls der Gesang und die übrigen Tätigkeiten während eines Gottesdienstes hinterlassen noch einen gewissen Eindruck bei ihnen, da sie dies ja praktisch miterleben. Das Geistliche hingegen, die Gegenwart des Herrn und Seines Geistes und die Wahrheit des Wortes sind für die Teilnehmer kaum noch von Bedeutung, sie sagen ihnen wenig oder gar nichts mehr. Der Glaube ist nicht mehr in ihnen tätig, obwohl sie durch Zugehörigkeit und ihr Herbeikommen und durch Gaben mit den heiligen Dingen noch in einer gewissen Verbindung stehen. Doch dabei kann es leicht zu Scheinheiligkeit und Heuchelei kommen.

Gott verlangt nicht in erster Linie nach materiellen Gaben, nach Opfern von Tieren, Geldbeträgen und anderen Bemühungen. Er wünscht geistliche Opfer, die nicht einer Pflicht genügen wollen, sondern aus dem Herzen kommen. Echte Dankbarkeit für das, was Er in Seiner Gnade geschenkt hat, liebt und schätzt Er, ebenso das gläubige Vertrauen, das Ihn um Hilfe anruft. Denn so beweist der Gläubige, dass er seinen Gott kennt, Ihn liebt und Ihn über alles erhebt (Verse 13 bis 15). In geistlicher Weise möchte der Gottesfürchtige das vor Gott sein und in die Tat umsetzen, was er seinem Gott mit Bekenntnissen in Liedern und Gebeten gelobt hat (Vers 14). Dabei ist ihm bewusst, dass er auch sich selbst und sein Leben Gott schuldet. Schon dadurch, dass man Ihn als den HERRN anredet, hat man zum Ausdruck gebracht, dass man zum Gehorsam Ihm gegenüber verpflichtet ist. „Was nennt ihr mich aber: Herr, Herr!, und tut nicht, was ich sage?“ (Lk 6,46). Je besser der Gläubige seinen Herrn und Gott kennt, je mehr er über Ihn und Sein Wort nachsinnt und mit Ihm Gemeinschaft pflegt, desto mehr Lob wird er Ihm opfern, und dies wird er von Herzen und aus Liebe zu Ihm tun. Sein Gott wird Sich zu seinem Glauben bekennen und ihm „am Tag der Bedrängnis“ beistehen (Vers 15; Ps 69,31f; 95,1ff; Jer 33,3). Beim aufrichtigen Loben und Danken kommen mehrere geistliche Tugenden zum Vorschein: Gott ist gekannt als der willige Geber alles Guten (Jak 1,5), und man weiß sich abhängig von Ihm. Nur Ihm, nicht aber jemand anderem oder den Umständen, schreibt der Dankende die Hilfe zu, er gibt Gott allein die Ehre. Demütig erkennt er an, dass er selbst nichts hat, um sich zu helfen. Er beantwortet die Liebe Gottes mit Gegenliebe.

In den Versen 16 bis 21 spricht Gott Selbst die Gottlosen an und tadelt sie scharf. Seine Vorhaltungen in Vers 16 lassen erkennen, dass es sich bei ihnen um solche handelt, die in scheinheiliger Weise die Gebote Gottes und die Bundesbeziehung zu Ihm im Munde führen, Ihn aber in Wirklichkeit nicht kennen und nicht an Ihn glauben. Folglich gehorchen sie Ihm auch nicht, sie hassen die Zurechtweisungen Gottes und verachten Sein Wort (Spr 1,29f). Indessen halten sie sich an gewisse Formen und nehmen dann und wann an einem religiösen Ritual teil, um sich durch Wort und Tat als zu den Gläubigen gehörig auszuweisen. Es handelt sich um solche, „die eine Form der Gottseligkeit (oder: Frömmigkeit) haben, deren Kraft aber verleugnen“ (2. Tim 3,5; Jes 29,13). In ihnen ist die Wahrheit nicht; sie gehen auf Täuschung aus und erregen Gottes Zorn. Sie halten Seine Gebote nicht, obwohl sie formell an einem Bekenntnis zu Ihm festhalten. Doch „der faule Baum bringt schlechte Früchte“ (Mt 7,17; 1. Joh 2,4). Wahre, geistliche Frucht bleibt immer ein untrügliches Kennzeichen eines echten Glaubenslebens, so täuschend und angepasst sich auch jemand geben mag. Die Verse 17 bis 20 nennen Beispiele für versteckte Sünden wie Missachtung der Heiligen Schrift, Schmähreden, Ehebruch, Lüge, Verleumdung und Ablehnung von Zurechtweisung (Spr 1,24; Jer 7,28; Röm 1,32). Satans List gelingt es, dass sich solche unter die Anbeter Gottes mischen, ohne dass sie sofort erkannt werden. Dadurch will der Feind den Gottesdienst verderben und vor Gott unannehmbar machen (Spr 15,8 und 21,27).

Wenn Gott zunächst bei derartiger Vermischung mit Gottlosen schweigt, so heißt dies nicht, dass Er ihre zur Schau getragene Gemeinschaft mit den wahren Anbetern duldet und darüber hinwegsieht (Vers 21). Der Versammlung der ersten Christen wagte sich niemand von den Ungläubigen anzuschließen, weil er sogleich als nicht hinzugehörend aufgefallen wäre. Zu einer so klaren Trennung kommt es nicht mehr, wenn eine Schar von Anbetern schwach im Glauben, verweltlicht und ungeistlich geworden ist, wie die Verse 7 bis 13 es in Bezug auf Israel beschreiben. Die verweltlichten Gläubigen und die religiös angepassten Ungläubigen sind einander so ähnlich geworden, dass sie ein äußerlich gleichförmiges Bild abgeben. Durch ihr Miteinandergehen wird der Anschein erweckt, dass sie in religiöser Einheit verbunden seien. Die verweltlichten Gläubigen und die angepassten Ungläubigen ähneln sich darin, dass sie Gottes Wort nicht wirklich ernst nehmen; das aber ist Sünde. An Gottes Gegenwart denken sie nicht mehr. Sie haben vergessen, was es bedeutet, sich dem heiligen Gott zu nahen. Da sie den Herrn sogar für ihresgleichen halten, gehen sie entsprechend mit Ihm um (Vers 21; Heb 12,28.29). Dabei wird die Geduld des Herrn über Gebühr in Anspruch genommen. Verweltlichte Gläubige neigen in der Regel zur Toleranz und zur Nachsichtigkeit. Doch Gott ist jede Heuchelei zuwider. Er wird eingreifen und das Ihm Missfällige ans Licht bringen und bestrafen (Vers 22). Ihm gefällt ein reines Lob aus heiligem Mund und aus redlichem, mit Dank erfülltem Herzen. Dazu gehört ein Wandel in Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit, den Vorschriften des Wortes entsprechend (Ps 15,1.2; 119,5.168). Die Gottesfürchtigen, die sich dem Herrn weihen möchten und ihren Weg nach Seinem Wort einrichten, erfüllen aus Liebe zu Ihm die Voraussetzungen dafür, Ihm Lob zu opfern und Ihn zu verherrlichen. In Vollkommenheit werden sie dies fortsetzen, wenn sie in der Zukunft Ihn und Sein Heil in ewiger Freude schauen (Ps 91,16).

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