Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 29

In diesem Psalm stehen die Auswirkungen der göttlichen Macht im Vordergrund. Um die Allmacht Gottes zu verdeutlichen, werden hier verschiedene Bilder gebraucht, unter anderem Wassermassen, welche die ganze Erde bedecken (Vers 10; 1. Mo 6,17), auch Blitze und Donnerschläge, sodann der Sturm, der Bäume zerbricht, des Weiteren ins Wanken geratene hohe Berge und die von Erdbeben erschütterte Wüste (Verse 3 bis 8). Außerdem werden machtvolle himmlische Wesen, die „Söhne der Starken“, erwähnt (Vers 1). Doch selbst die Summe dieser gewaltigen Kräfte reicht bei Weitem nicht aus, um alle Wirkungen der Macht des HERRN darzustellen. Aber sie vermitteln dem Menschen einen Eindruck von der Macht Gottes und weisen ihn auf die eigene Kleinheit hin. Seit jeher setzt Gott in der Natur in Abständen unvermittelt alles ins Wanken bringende Kräfte frei, wodurch die Menschen und die Tierwelt in größten Schrecken versetzt werden und häufig auch in Lebensgefahr geraten. Obgleich die Wucht solcher entfesselten Gewalten heutzutage schon bei ihrem Entstehen von Fachleuten beobachtet und beziffert wird, so unterliegt ihr Auftreten doch keiner steuernden menschlichen Kontrolle, sie lassen sich nicht im Voraus berechnen und ebenso wenig beeinflussen und beherrschen. Der das Ganze als Schöpfer in der Gewalt hat, ist der HERR, der „auf der Wasserflut thront“. Er wird von der Entfesselung der Kräfte niemals überrascht und in keiner Weise behelligt (Vers 10).

Es geht hier nicht um die Beschreibung irgendeines Unwetters. Einem Gewitter oder Ähnlichem wären Art und Ausmaß der angesprochenen Naturerscheinungen kaum zuzuordnen. Gottes allumfassende, weise Voraussicht kennt jede Entwicklung in der Schöpfung, sie begrenzt deren Stärke und gebietet ihr Auftreten und ihre Eindämmung. „Alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen. Und er ist vor allen, und alle Dinge bestehen durch ihn“ (Kol 1,16f). Nichts davon kann gegen Ihn auftreten, denn das Ganze ist von Ihm abhängig und auf Ihn angewiesen. Der HERR trägt „alle Dinge durch das Wort seiner Macht“ (Heb 1,3). Sein Name wird in den elf Versen des Psalms achtzehn Mal genannt und viermal Seine Herrlichkeit; siebenmal wird auf jeweils andere Weise Seine Stimme vernommen. Offensichtlich geht es hier um die herrliche Größe Seiner Person. „Gar keiner ist dir gleich, HERR; du bist groß, und groß ist dein Name in Macht. Wer sollte dich nicht fürchten, König der Nationen? Denn dir gebührt es“ (Jer 10,6f). „Und die Himmel werden deine Wunder preisen, HERR, und deine Treue in der Versammlung der Heiligen. Denn wer in den Wolken ist mit dem HERRN zu vergleichen? Wer ist dem HERRN gleich unter den Söhnen der Starken?“ (Ps 89,6f).

Auch die „Söhne der Starken“ sind als Engel geschaffene Wesen (Vers 1). Sie sind für Menschen unsichtbar, da sie dem Himmel angehören. Hier werden sie aufgefordert, dem HERRN Herrlichkeit und Stärke preisend zuzuerkennen, denn das ist ihre ständige Aufgabe (Ps 103,20; Off 4,8). In Vers 2 werden die, die den HERRN kennen, ermuntert, Ihm das anbetend darzubringen, was sie über „die Herrlichkeit seines Namens“ zu sagen wissen. Ähnlich lautende Aufforderungen finden sich in Ps 96,7–9 und 105,1–3; 1. Chr 16,27–29). Weil das Hervortreten der Herrlichkeit des HERRN im vorliegenden Psalm alle Menschen angeht, wird in diesem Psalm der Name Israels nicht genannt. Gottes irdisches Volk tritt hier ganz zurück, obwohl es in zukünftiger Zeit an erster Stelle unter den irdischen Anbetern stehen wird. In den Versen 3 bis 9 ist von der Stimme des HERRN die Rede. Mit dem Ausdruck ‚Stimme‘ ist nicht das Getöse des Sturms und das Brausen von Wassermassen oder der Donner eines Gewitters gemeint, sondern jedes Mal meint das Wort ‚Stimme' eine der vielen Erscheinungsformen, in denen sich die Macht des HERRN zu erkennen gibt. Mit ‚Stimme' ist hier das bezeichnet, wodurch Sein Nahen bemerkt wird, und das, was Sein mächtiges Wirken wahrnehmbar macht. Alle Geschöpfe sind seit jeher gehalten, auf Seine Stimme zu achten, zu hören und sich in Anbetracht Seiner Ansprüche und Seiner Regierungsgewalt richtig zu verhalten, vor allem aber sich Ihm zu unterwerfen. An Seine majestätische Gewalt kann niemals ein menschlicher Maßstab angelegt werden. In den hier beschriebenen Erscheinungen beabsichtigt Gott offenbar nicht die Vernichtung des von Ihm Geschaffenen durch Gerichtsschläge; es bedürfte dazu ohnehin nicht mehr als nur eines einzigen Wortes Seinerseits. Der gerechte Gott erwartet oder verlangt von Menschen nicht mehr als das, was sie zu leisten imstande sind, vor allem aber, dass sie Ihn anerkennen, Ihn vermehrt kennenlernen und ehren.

Die Auswirkungen dessen, was der HERR in Ausübung Seiner Macht auf der ganzen Erde unternimmt, sind unübersehbar und unüberhörbar, und das wird durch jedes einzelne der hier als Bild gebrauchten Ereignisse klargestellt. Diejenigen, die auf diese gewaltige „Stimme“ bewusst nicht hören wollen (Vers 4; Ps 18,14), haben in Seinem Reich keinen Platz (Ps 68,33–36; 99,1ff; 101,8; Jes 2,12–22 und 65,12). Sein Name muss von allen heilig gehalten werden, alle müssen den gebotenen Abstand wahren, denn „in seinem Tempel spricht alles: Herrlichkeit!“ (Vers 9; Ps 93,1–5; 2. Mo 20,18; Jes 6,1; Hab 2,20). An der geforderten Hochachtung darf es niemand fehlen lassen. „Seine Augen aber sind eine Feuerflamme“ (Off 19,12); sie entdecken auch das sorgfältig Verborgene, sie übersehen nichts und verzeichnen jedes Vergehen. Auch Sein Wort ist wie eine Feuerflamme (Jer 23,29). Vers 10 macht deutlich, dass der Schluss des Psalms erst in dem zukünftigen Reich Christi auf der Erde völlige Erfüllung finden wird.

Das Volk Israel kannte so überaus beeindruckende Erweisungen der Macht des HERRN wie die in den Versen 3 bis 8 erwähnten schon aus der Vergangenheit. Beispiele sind die Ereignisse am Berg Sinai und am Roten Meer, als die Wüste erschüttert wurde, als das Meer floh und die Berge hüpften (Ps 114,1–8). Wer diese Geschehnisse mit eigenen Augen gesehen hatte, dem musste unmissverständlich klarwerden, mit wem er es zu tun hatte. Wenn der HERR Seine Herrlichkeit in zukünftiger Zeit auf dieser Erde sichtbar werden lassen wird, wird es niemals mehr einen Zweifel geben, dass Er der Schöpfer ist, der Höchste und der Gebieter über alles im Himmel und auf der Erde. Die Israeliten, die Ihm vorher in schwieriger Zeit die Ihm gebührende Ehre geben werden, werden zum Abschluss „sein Volk“ genannt. Ihnen wird Er dann Stärke geben und sie „segnen mit Frieden“ (Vers 11; Ps 72,3.7f). Alle aus Israel, die Ihn in der Zukunft als ihren Messias erwarten, die an Ihn glauben werden und deren Stärke Er ist (Ps 24,6ff und 28,7–9), werden die unvergleichliche Vorzugsstellung als Sein Volk und Sein Geschlecht auf der Erde einnehmen; sie stehen Ihm besonders nahe und haben Aufgaben in Seinem Dienst zu erfüllen. Er ist vor allen anderen ihr König und HERR und sie sind Seine Auserwählten, die Ihn dann umgeben und die Belohnung für ihren Glauben empfangen. Es sei daran erinnert, dass dieser Psalm nicht prophetische Ereignisse in den Vordergrund stellt, sondern das Hervortreten der Herrlichkeit Gottes in vergangener und in zukünftiger Zeit.

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