Einführende Vorträge zur Offenbarung

Kapitel 3

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir die Trennung zwischen dem 2. und 3. Kapitel an dieser Stelle durchaus glücklich gewählt. Beim Übergang zu den letzten drei Versammlungen findet ein großer Wechsel statt. Die Grundlage für diesen Gedanken besteht darin, dass die Einführung von Sardes anzeigt, dass der Herr etwas Neues beginnt. Die alte kirchliche Phase, d. i. die katholische, endet mit Thyatira. Nichtsdestoweniger zeigt sich in der Versammlung in Thyatira dieser besondere Zug, dass sie den öffentlichen Zustand der Kirche abschließt. Doch gleichzeitig beginnen mit ihr Umstände, in der sich die Kirche bis zum Kommen des Herrn befinden wird. Thyatira enthält, wie ich nicht bezweifle, den mystischen Repräsentanten des Romanismus1. Wenigstens in Hinsicht auf Jesabel kann dieses nicht geleugnet werden. Hingegen weist die Bezeichnung die „übrigen“ (Off 2,24) auf eine Gruppe von Menschen hin, die getrennt vom Papsttum ihr Zeugnis ablegen. Sie sind keine Protestanten, weil sie vor dem Aufstieg des Protestantismus leben. Erst der Anfang des 3. Kapitels führt den protestantischen Zustand ein.

So hatten wir zunächst den allgemeinen Zustand, der geistlich immer mehr abnahm. Wir hatten die frühen Verfolgungen durch die Heiden. Wir hatten die Mächte der Welt, wie sie eine Schutzherrschaft über die Kirche übernahmen; und zuletzt fanden wir den Romanismus, der anscheinend allein [von den bisher geschilderten Zuständen; Übs.], nach der Anspielung auf das Kommen Christi, bis zum Ende anhält.

„Und dem Engel der Versammlung in Sardes schreibe: Dieses sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne“ (V. 1). Wir finden eine offensichtliche Anspielung auf die Art und Weise, wie der Herr sich der Versammlung in Ephesus vorstellte. Ephesus war die erste Darstellung des allgemeinen öffentlichen Zustands. Sardes zeigt das Entstehen eines neuen Stadiums, das nicht mehr gesamtkirchlich ist. Der Herr handelt auf dem Weg eines Zeugnisses und nicht so sehr auf der kirchlichen Linie. Folglich wird nicht gesagt, dass Er in der Mitte der sieben Leuchter wandelt. Das war im strengen Sinn gesamtkirchlich. Hier besitzt Er die sieben Geister Gottes. Er ist Gott. Alle Gewalt, alle regierende Macht, liegt in seinen Händen. Das gilt auch für die sieben Sterne, das sind die gesamten förderlichen Mittel, durch welche Er auf die Kirche einwirkt. „Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebest, und bist tot.“ Solcherart ist der Protestantismus.

„Sei wachsam und stärke das Übrige, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht für vollkommen befunden vor meinem Gott“ (V. 2). Was den Protestantismus richtet, besteht darin, dass die Menschen dort das Zeugnis des Wortes Gottes vollständiger besitzen als jene, welche im kirchlichen Formalismus des Mittelalters versunken waren; denn damals wurde das Wort Gottes ferngehalten, weil die kirchliche Geistlichkeit (Klerus) und das Wort Gottes niemals in allem übereinstimmen können. Es ist eine Wirkung des klerikalen Prinzips (es kann nicht anders sein), dass es die Autorität des Herrn mehr oder weniger durch die Autorität des Menschen ersetzt. Dazu schwächt und behindert es die unmittelbare Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf die Gewissen durch das Wort Gottes. Ich spreche jetzt keinesfalls von einzelnen Kirchenmännern, sondern vom Klerikalismus, wo immer er gefunden wird, sei es im Katholizismus, in den Benennungen (Denominationen), in den National– oder in den Freikirchen.

Der Grundsatz des Protestantismus ist ein anderer. Die Menschen mögen nicht immer zu ihren Grundsätzen stehen; und das ist häufig der Fall. Doch letztendlich besteht eines der großen Prinzipien, für welche die Reformation gekämpft und die sie dem Protestantismus gewonnen hat (was auch immer seine Fehler sein mögen) darin, dass der Mensch jetzt völlig, frei und offen in die Gegenwart der Bibel gestellt wird. Es gab jetzt Gottes Wort, um am menschlichen Gewissen zu wirken. Ich spreche nicht von der Rechtfertigung aus Glauben; denn sogar Luther wurde, wie ich denke, die Tiefe dieser Wahrheit nie wirklich klar. Während die Katholiken jämmerlich in die Irre geführt werden, verstehen die Protestanten bis in unsere Tage die Rechtfertigung nicht. In einem gewissen Maß besitzen sie die Wahrheit, aber nicht so, dass diese die Seelen aus den Banden befreien oder sie eindeutig in die Freiheit, den Frieden und die Kraft des Heiligen Geistes führen würde.

Sogar Luther besaß in seiner Seele niemals den Frieden als eine gegründete Wahrheit, um darin zu wandeln. Die meisten von uns haben von den Kämpfen gehört, die er hatte, und zwar nicht allein am Anfang seines Weges, sondern auch an seinem Ende. Ich meine nicht Kämpfe wegen der Kirche, sondern wegen seiner eigenen Seele. Es ist sinnlos, hier Abschnitte aus seinem ausgedehnten Schrifttum zu zitieren, welche beweisen, wie heftig er durch innere Kämpfe des Unglaubens versucht wurde. Diese beweisen ausführlich, wie weit er von dem friedlichen Genuss des Friedens aus dem Evangelium entfernt war. Es wäre ein Irrtum, diese Gegebenheit in sich selbst irgend einer anderen Ursache zuzuschreiben als einem Mangel an klarer Kenntnis der Gnade. In einem solchen Zustand können alle möglichen Dinge einen Menschen beunruhigen, welcher nicht ohne zweifelnde Frage auf dem Herrn ruhen kann, egal, wie fähig und geehrt er auch sein mag. Ich bin mir sicher, dass Luther ein Mann ist, von dem wir viel lernen können und dessen Mut, Treue, Selbstverleugnung und Ausharren belehrend und lehrreich sind. Auf der anderen Seite wäre es sinnlos, vor den Tatsachen die Augen zu verschließen. So tatkräftig er auch war und so sehr er auch von Gott benutzt wurde, in Hinsicht auf Verständnis von der Kirche und dem Evangelium blieb er weit zurück.

Dennoch – trotz dieser Schattenseiten – wurde eine offene Bibel für die Kinder Gottes im besonderen und die Menschen im allgemeinen zurückgewonnen. Gerade diese Wahrheit verurteilt den Zustand des Protestantismus, der folgte. Obwohl die Bibel jetzt frei gelesen wurde, gab es trotzdem kaum einen Gedanken, alles anhand der Bibel einzurichten und durch dieselbe regeln zu lassen. Nichts ist unter den Protestanten mehr verbreitet, als eine Wahrheit als vollkommen wahr anzuerkennen, weil sie im Wort Gottes steht, ohne die geringste Absicht oder einen Gedanken, entsprechend zu handeln. Ist das nicht ernst? Die Römisch–Katholischen sind im Allgemeinen zu unbelehrt, um zu wissen, was in der Bibel steht und was nicht. Außer Gemeinplätzen (Binsenwahrheiten) aus der Auseinandersetzung mit den Protestanten wissen sie wenig aus der Heiligen Schrift. Sage ihnen, dass dieses oder jenes in der Bibel zu finden ist, und sie blicken erstaunt! Sie kennen sie kaum als ganze und haben sie niemals gelesen außer unter den Augen eines anleitenden Priesters, ihres Beichtvaters.2 Der Protestant liest die Bibel mehr in Freiheit. Das ist ein wirklich guter und kostbarer Segen. Doch gerade aus diesem Grund lädt der Protestant keine geringe Verantwortlichkeit auf sich.

„... ich habe deine Werke nicht für vollkommen befunden vor meinem Gott. Gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und tu Buße. Wenn du nun nicht wachst, so werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde“ V. 2.3). Das ist ein herzerforschender Wink auf die Art und Weise, wie der Herr sein Kommen über die Welt androht. Wenn etwas an der Stellung des Protestantismus mehr auffällt als anderes, so ist es die Tatsache, dass er stets bei der Welt seine Zuflucht sucht, um sich vor der Gewalt der Priester und der Kirche [des Katholizismus; Übs.] zu retten. Das war schon immer, genauso wie heute, sein Hauptfallstrick. Sogar wenn Dinge, die zur Welt gehören, berührt werden, geraten Protestanten in nicht wenig Aufregung. Ich bin weit davon entfernt, dieses zu sagen, weil ich nicht viel für sie empfinde. Doch ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es eine große Sünde ist, jede öffentliche Anerkennung Gottes in der Welt einfach beiseite zu wischen. Unmöglich kann ich glauben, dass z. B. die schamlose Weltlichkeit, die wir in der Verbindung der „Dissenter“3 mit Papisten und Ungläubigen sehen, aus gerechten, reinen, heiligen und selbstlosen Beweggründen entspringt. Wir müssen es vielmehr auf einen Eingriff seitens des Geistes des Unglaubens zurückführen, falls nicht sogar auf eine Beugung vor dem Aberglauben. Zweifellos hoffen die Ungläubigen dabei Einfluss zu gewinnen, während es von der Selbstsicherheit der Abergläubischen zeugt. In Wirklichkeit will indessen der Teufel die Oberhand bekommen, um beide Gruppen zu zerrütten. Doch dann muss er erfahren, dass der Herr an seinem Tag zu seinem Gericht über alle Widersacher erscheinen wird.

Danach warnt der Herr den Engel von Sardes, dass Er selbst, wenn dieser nicht wacht, über ihn wie ein Dieb kommen will; und er soll nicht wissen, zu welcher Stunde Christus über ihn kommt. Das ist keinesfalls die Weise, in der von seinem Kommen für die Seinen gesprochen wird. Sie warten auf Ihn, und zwar indem sie nach Ihm ausschauen, ohne den geringsten Gedanken an eine diebes–ähnliche Überraschung. Wie könnten jene überrascht werden, die Ihn ständig erwarten? Sein Kommen ist ihre Freude; und darauf warten sie mehr als ein Nachtwächter auf die Morgendämmerung. Das Bild eines Diebes kann nur auf die Welt und Weltlichgesinnte bezogen werden. So ernst setzt diese Sprache also voraus, dass die Versammlung in Sardes in ihrer praktischen Einstellung das Kommen des Herrn als eine geliebte Erwartung verlassen hat. Alles weist darauf hin, dass diese Christen in großer und zweifellos gerechter Gefahr stehen, Ihm als Richter begegnen zu müssen. Sie sind in die Welt abgeglitten und müssen ihre Befürchtungen und Ängste teilen. Sie haben das Bewusstsein verloren, dass Christus ihnen seinen Frieden gelassen hat (vgl. Joh 14,27; Übs). Sie besitzen nicht die Freude an seinem Kommen für sie in vollkommener Liebe, um solche zu sich zu nehmen, die Er liebt. Sein unwillkommener Besuch wie ein Dieb ist keineswegs in Übereinstimmung mit dem Genuss der lieblichen Hoffnung nach seinem eigenen Wort, dass Er bald für sie kommt.

Wer überwindet, soll mit weißen Kleidern bekleidet werden; denn es gab einige wenige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt hatten und daher mit Christus in weißen Gewändern wandeln sollen, weil sie es würdig sind. Das ist immer der Fall. Es gibt dort kostbare Seelen; und unser glücklicher Dienst besteht darin, wenn wir es können, ihnen zu einem besseren Verständnis von der Gnade des Herrn zu verhelfen. Natürlich dürfen wir nicht leichtfertig darüber hinweggehen, wo sie sich befinden oder was sie tun. Wir sollten jedoch in vollster Liebe Gefühle für sie haben, wie auch unser Herr sie hat. „Wer überwindet, der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden, und ich werde seinen Namen nicht auslöschen aus dem Buche des Lebens und werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln“ (V. 5).

An nächster Stelle folgt Philadelphia. „Und dem Engel der Versammlung in Philadelphia schreibe: Dieses sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel des David hat, der da öffnet, und niemand wird schließen, und schließt und niemand wird öffnen“ (V. 7). Jedes Wort bei der Vorstellung Christi von sich selbst unterscheidet sich hier von dem Anblick, der von Ihm im 1. Kapitel gegeben wird. Das kennzeichnet eingehend den Wechsel in diesem Kapitel und insbesondere in dem Abschnitt vor uns. Das Sendschreiben an Sardes, auch wenn es in manchem auf jenes an Ephesus anspielt, soll keineswegs weniger in einem Gegensatz zu letzterem stehen. Es spricht von einem Neuanfang und gleicht soweit dem Brief an Ephesus. Dennoch ist die Art, in welcher der Herr sich vorstellt, neu. Den Besitz der sieben Geister Gottes finden wir nicht in dem Bild von Ephesus, noch finden wir irgendeine Ähnlichkeit der Beschreibung des Herrn Jesus zu dem, was vorher gezeigt wurde. Es handelt sich um einen neuen Zustand. Aber wenn wir uns zu Philadelphia wenden, gibt es noch weit mehr Hinweise, dass alles neu ist. „Dieses sagt der Heilige, der Wahrhaftige.“ Als der Herr in der Vision von Kapitel 1 gesehen wurde, erblicken wir in der Beschreibung von Ihm nichts dieser Art – „der den Schlüssel des David hat.“

In den Darstellungen des 2. Kapitels ist das, was über den Herrn gesagt wird, eine Wiederholung dessen, was Johannes in dem früheren Gesicht gesehen hatte. Die einzige Ausnahme finden wir im Brief an Thyatira, wo Er als Sohn Gottes gezeigt wird; und wie wir schon bemerkt haben, stellt Thyatira auch einen Übergangszustand dar. Dort sehen wir den Anfang der veränderten Lage. Es handelt sich um einen kirchlichen Zustand in Verantwortlichkeit, aber nicht in wirklicher Kraft. Die Versammlung in Thyatira ist eine kirchliche Körperschaft, welche Abscheulichkeiten vor den Augen des Herrn enthält, allerdings nicht ohne einen Überrest, der Ihm lieb ist. Sie wird außerdem bis zum Ende bleiben; denn der Brief führt das Kommen des Herrn an. Wir können bemerken, dass in den ersten drei Briefen nicht vom Kommen des Herrn gesprochen wird.4 Bei Thyatira hingegen wird es erwähnt, weil der dort beschriebene Zustand bis zum Kommen des Herrn bleiben wird. Das ist bei Ephesus nicht der Fall, noch bei Smyrna oder Pergamus. Anstelle von seinem Kommen wird von damals stattfindenden Gerichten gesprochen. Anders ist es also bei Thyatira, Sardes und auch Philadelphia.

Philadelphia stellt vor allem den Herrn als Person sowie seine sittliche Herrlichkeit heraus. Es geht jetzt um Christus selbst und zwar als Solcher, den der Glaube in neuer Schönheit entdeckt. Das beruht nicht nur auf Visionen von der Herrlichkeit, welche vorher gesehen wurden, sondern auch darauf, wie Er wirklich ist – „der Heilige, der Wahrhaftige.“ Doch darüber hinaus geht es um Christus entsprechend der Größe seiner Herrlichkeit. Der Glaube erkennt, dass der Gesegnete, Heilige und Wahrhaftige derselbe ist, Der auch den Schlüssel des David hat. Die Prophetie des Alten Testaments – die Wahrheit hinsichtlich der Haushaltungen – wird jetzt eingeführt. Er ist es, „der da öffnet, und niemand wird schließen.“ Das ist vollkommene Freiheit – Freiheit zum Dienst, Freiheit für jeden, der dem Herrn gehört. „Ich habe eine geöffnete Tür vor dir gegeben, die niemand zu schließen vermag; denn du hast eine kleine Kraft“ (V. 8). Es wird vorausgesetzt, dass diese Gläubigen nicht durch solche mächtigen Taten gekennzeichnet sind, wie es Sardes war. Sardes vollbrachte Heldentaten, Philadelphia nichts dieser Art. Sind wir damit zufrieden, klein zu sein, meine Freunde? In der Welt wenig Ansehen zu haben? Niemals etwas an uns zu haben, über das sich die Menschen wundern oder das sie schätzen? Ich spreche jetzt von einem Maßstab, der in der Welt Beachtung findet.

Genau dieses gilt für Philadelphia nicht. Diese Gläubigen sind mehr nach dem Vorbild eines verworfenen Christus gestaltet. Wir alle wissen, wie wenig Er auf der Erde geschätzt wurde; und so ist es auch mit Philadelphia. Hat sie indessen keinen Wert in seinen Augen? „Du … hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ Jesus war dadurch gekennzeichnet, dass Er das Wort Gottes schätzte und liebte, sodass Er als der Einzige wirklich zu Satan als für sich gültig sagen konnte: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht“ (Mt 4,4). Hier wird Philadelphia durch dasselbe Leben im Glauben ausgezeichnet. Für manche mag es etwas Geringes sein, Christi Namen nicht zu verleugnen. Aber für Christus ist nichts kostbarer. Einst ging es darum, seinen Glauben nicht zu verleugnen, wie wir es in Pergamus fanden. Hier geht es um Ihn persönlich. Der Hauptgegenstand ist das, was Er ist. Reine Rechtgläubigkeit genügt nicht, sondern ausschließlich seine Person, obwohl sie abwesend ist, und die Ihm zustehende Herrlichkeit.

„Siehe, ich gebe aus der Synagoge des Satans von denen, welche sagen, sie seien Juden, und sind es nicht“ (V. 9). Ist das nicht eine Wiederbelebung jener schrecklichen Geißel, welche die frühe Kirche (nämlich Smyrna) heimsuchte? Haben wir davon nicht gehört? Haben wir es nicht selbst gesehen? Wie kommt es, dass für so viele Hunderte von Jahren nur ein Teil von dem, wofür die Kirchenväter gestritten hatten, in den Herzen der Menschen gewirkt hat? Ein gewisser Teil davon wurde sogar, wie wir wissen, vom Protestantismus abgelehnt. Aber jetzt, da Gott dieses neue Zeugnis herausgestellt hat, erhebt sich ein Gegenzeugnis. Satan lässt den alten judaisierenden Geist wieder aufleben, jetzt, da Gott den wahren Grundsatz christlicher Bruderschaft erneut zur Geltung bringt und vor allem Christus zum einzigen Gegenstand für sein Volk macht. An dieser Stelle erhalten wir zu unserer Belehrung den Hinweis, dass die Synagoge Satans – jene, welche sagen, sie seien Juden und sind es nicht – sich wiederbelebt. Wie sehen die Tatsachen aus? Wie ist es in unserem Land [England; Übs]? Was gewöhnlich Puseyismus genannt wird, geht in diese Richtung5; und dieses System ist nicht auf unser Land beschränkt. Denke nicht, dass es sich ausschließlich um ein Problem in England handelt! Dieses System wirkt ebenfalls im Ausland, wie Deutschland und anderswo – tatsächlich überall, wo Protestantismus zu finden ist. Vor allem finden wir diese Lehre dort, wo sie besonders aufgereizt wird, sei es durch Skeptizismus [Zweifelsucht an der Wahrheit der Bibel; Übs.] auf der einen Seite, sei es durch die [biblische] Wahrheit, welche beide Lehrsysteme mit der Helligkeit des himmlischen Lichts verurteilt. Um sich selbst auf einer religiösen Grundlage zu verteidigen, fallen die Menschen zurück auf ein Gedankengebäude, das aus religiösen Riten und dem Gesetz besteht. Das ist, wie ich denke, mit der Synagoge Satans hier gemeint.

Der Herr wird indessen die Anerkennung seines Zeugnisses erzwingen. Ich sage nicht, wann, wo und wie das geschehen wird. Doch so wahr Er lebt, wird der Herr die Wahrheit, die Er gegeben, und das Zeugnis, das Er für seinen Namen aufgerichtet hat, verteidigen. „Ich werde sie zwingen, dass sie kommen und sich niederwerfen vor deinen Füßen und erkennen, dass ich dich geliebt habe.“

Das ist noch nicht alles. Nicht nur, dass der Herr auf diese Weise das verteidigen will, was von Ihm selbst stammt, sondern es soll auch, wie wir wissen, eine schreckliche Zeit über diese Welt kommen – eine Stunde, wie hier gesagt wird, nicht einfach der Drangsal, sondern vor allem der Versuchung oder Prüfung. Ich neige zu der Denkweise, dass die Stunde der Versuchung die ganze Zeit der Apokalypse umfasst. Das ist nicht nur die schreckliche Zeit, in der Satan voller Wut aus dem Himmel vertrieben ist und das Tier, welches von ihm seine Kraft empfängt, sich zur vollen Höhe seiner Macht erhoben hat, sondern auch der vorherige Zeitabschnitt der Schwierigkeiten, Verführungen und des Gerichts. Kurz gesagt, die „Stunde der Versuchung“ enthält, wie ich es verstehe, viel mehr als die „große Drangsal“ von Offenbarung 7 und auch mehr als die unvergleichbare Drangsal, die über das Land Israel hereinbrechen soll (Dan 12, Mt 24, Mk 13). Falls es so ist – wie reichhaltig und vollständig ist die Verheißung! „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, werde auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen“ (V. 10). Die Menschen versuchen vergeblich zu entfliehen. Die Stunde der Versuchung muss über alle hereinbrechen. Manche von uns erinnern sich daran, als Menschen nach Kanada flohen, um der „großen Versuchung“ zu entgehen, welche sie über das Reich des Tieres hereinbrechen sahen. Diese Vorstellung der Menschen war ein Irrtum, ihre Flucht töricht. Die Stunde der Versuchung wird alle erreichen, egal, wo sie sich verstecken. Die Stunde der Versuchung wird über die ganze bewohnte Welt kommen, „um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen“, wo sie auch sein mögen.

Wer kann ihr demnach entgehen? – Jene, die aufgrund des Rufes Christi in den Himmel hinaufgetragen werden! Sie kommen nicht in jene Stunde. Wie wir bemerken, werden sie sich nicht nur nicht an dem Ort der zukünftigen Versuchung befinden, sondern sogar aus der Stunde herausgehalten werden. Welch eine vollständige Befreiung! Darin liegt die Kraft der Verheißung und die Segnung, dass der Herr den Seinen verspricht, sie vor dieser Zeit zu bewahren. Der einzige mögliche Weg, den ich für eine solche Befreiung von dieser Zeit erkenne, besteht darin, jene Menschen vorher von dem Schauplatz wegzunehmen. Die Irvingianer6 sprachen gewöhnlich davon, dass der Herr ein kleines Zoar (1. Mo 19) bereithält. Es geht indessen keineswegs um einen Ort des Schutzes, sondern um eine vollständige Herausnahme aus der Zeitperiode, welche von der großen Drangsal oder Prüfung, welche über die ganze bewohnte Welt hereinbrechen wird, erfüllt ist. Wie könnte dieser Schutz erfolgen, es sei denn, dass die Gläubigen aus dieser Szene herausgenommen werden, bevor jene Zeiten eintreffen? Das scheint mir die Verheißung hier zu beinhalten. Der gottesfürchtige Überrest der Juden hingegen, der es mit einer besonderen und äußerst heftigen, aber begrenzten Drangsal zu tun haben wird, soll zum Entkommen einfach auf die Berge fliehen, bevor Jesus in Herrlichkeit zur Bestürzung seiner (des Überrests; Übs.) Feinde erscheint. Für die Christen ist alles ganz anders.

„Ich komme bald“ (V. 11). Wir finden nun kein Wort über sein Kommen als Dieb, sondern Freude. Der Herr hat die wahre Hoffnung von seinem Kommen wiederbelebt.7 Es gibt Gläubige, die in dieser Weise Christus erwarten; und dieses Sendschreiben scheint sich nachdrücklich auf solche zu beziehen. „Ich komme bald.“ Dem Grundsatz nach gilt diese Wahrheit für alle, die wirklich gläubig sind. Doch gibt es, wie wir wissen, viele Christen, die in den einen oder anderen der verschiedenen Zustände [der Kirche; Übs.], die bisher beschriebenen wurden und offensichtlich bis zum Schluss anhalten werden, verwickelt sind. Darum ist es vergeblich, eine förmliche Aufhebung dieser gleichzeitigen Zustände, die bis zum Kommen des Herrn anhalten werden, zu erwarten. „Halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den werde ich zu einer Säule machen in dem Tempel meines Gottes, und er wird nie mehr hinausgehen; und ich werde auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen neuen Namen.“ Der Überwinder wird am Tag der Herrlichkeit genauso sehr durch Kraft gekennzeichnet sein wie auf dem heutigen Schauplatz der Gnade durch seine Zufriedenheit mit seiner Schwachheit.

Uns bleibt noch als letztes Sendschreiben das an den Engel der Versammlung in Laodicäa. Dazu möchte ich unter Berücksichtigung der späten Stunde nur wenige Worte sagen. Das Bild, das Laodicäa liefert, ist nach meinem Urteil ein Ergebnis der Ablehnung und Verachtung des Zeugnisses, welches der Herr unmittelbar zuvor aufgerichtet hatte. Wenn die Menschen die Wahrheit verschmähen, welche jene besitzen, die auf den Herrn warten, stehen sie in Gefahr, in den schrecklichen Zustand zu verfallen, der hier vorgestellt wird. Christus ist nicht mehr der geliebte und einzige Gegenstand für das Herz. Auch gibt es kein Empfinden mehr für die Glückseligkeit seines Kommens, welches dazu führt, Ihn zu erwarten. Noch weniger sehen wir ein Frohlocken in der Schwachheit, damit die Kraft Christi auf ihnen ruhen kann. Wir finden ein Verlangen nach Größe und Wertschätzung durch Menschen – „ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts“ (V. 17).

Das ist demnach ein Gesichtskreis, der dem Menschen viel Spielraum lässt. Folglich stellt der Herr sich ihnen als der „Amen“ vor – das Ende von allen Dingen des Menschen, sodass alle Sicherheit nur in der Treue Gottes besteht. Christus allein ist „der treue und wahrhaftige Zeuge“ (V. 14). Genau das hätte die Kirche sein sollen, war es aber nicht. Darum musste Er selbst diese Aufgabe übernehmen. So war es früher, als Er in Gnade auf der Erde lebte; und auch jetzt muss Er diesen Platz als Zeuge in Kraft, Herrlichkeit und Gericht einnehmen. Wir können uns kaum einen größeren und ernsteren Tadel vorstellen bezüglich des Zustands jener, die seine Zeugen hätten sein sollen.

Außerdem ist Er „der Anfang der Schöpfung Gottes.“ Der Mensch wird ganz und gar beiseite gesetzt. Der Grund dafür ist, dass Laodicäa die Verherrlichung des Menschen und menschlicher Hilfsquellen in der Kirche darstellt. „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Also, weil du lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“ (V. 15–16). Die Laodicäer sind dem Grundsatz nach und in der Praxis unentschieden und halbherzig in Bezug auf Christus; und ich bin überzeugt, dass es keinen Platz gibt, der mehr Neutralität hervorruft als eine an sich gesunde und richtige Stellung, in der weder Selbstgericht noch göttliche Aufrichtigkeit gepflegt werden. Je mehr jemand an vorderster Front für das verantwortliche Zeugnis Gottes im Kampf steht, desto mehr werden Gnade und Wahrheit Gottes vor ihm und durch ihn herausgestellt. Falls dabei aber Herz und Gewissen nicht durch die Kraft des Geistes Gottes geleitet und belebt werden durch jene Wahrheit und Gnade, die in Christus sind, wird früher oder später, jenseits jedes Zweifels, ein Zurückgleiten in eine Stellung der Neutralität, wenn nicht sogar praktische Feindschaft folgen. Gegen alles, was gut ist, wird man gleichgültig; und die einzige Art Eifer, falls überhaupt Eifer vorhanden ist, wirkt für das Schlechte.

Genau das ist Laodicäatum. „Also, weil du lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Weil du sagst: Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts, und weißt nicht, dass du der Elende und der Jämmerliche und arm und blind und bloß bist. Ich rate dir, Gold von mir zu kaufen, geläutert im Feuer.“ Ihnen fehlte alles, was kostbar ist: „Gold“ oder göttliche Gerechtigkeit in Christus und „weiße Kleider“, das ist die Gerechtigkeit der Heiligen (vgl. Off 19,8; Übs.), „auf dass … die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde; und Augensalbe, deine Augen zu salben, auf dass du sehen mögest.“ Sie hatten sogar das Wahrnehmungsvermögen für das, was von Gott ist, verloren. In Hinsicht auf die Wahrheit war alles finster und bezüglich eines sittlichen Urteils alles unsicher. Heilige Abgesondertheit und göttlicher Geschmack waren vergangen. „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir“ (V. 19–20). Der Herr stellt sich sogar hier in der gnädigsten Weise vor, um ihrem Mangel zu begegnen. Doch die Verheißung in dem Wort, welches das Sendschreiben schließt, geht nicht weiter als bis zum Herrschen mit Ihm. Das ist nichts Besonderes; denn jeder, der an der ersten Auferstehung teil hat, ist dazu bestimmt, mit Christus zu herrschen. Das gilt sogar für die frühen oder späten jüdischen Dulder unter dem Antichristen. Es ist folglich ein Irrtum anzunehmen, dass dieses eine einzigartige Besonderheit sei. Alles läuft darauf hinaus, dass der Herr trotz aller Untreue letzten Endes an seiner Wahrheit festhalten wird. Es mag sogar da in Einzelnen echtes Christenleben geben, wo die äußeren Verbindungen traurig ungeziemend sind.

Fußnoten

  • 1 Romanismus ist hier der Grundsatz der Römisch-Katholischen Kirche (Übs).
  • 2 jedenfalls zu der Zeit, als Kelly seine Vorträge hielt (1869) (Übs.).
  • 3 Dissenter = christliche Gruppierungen, die nicht zur englischen Staatskirche gehören. Kelly bezieht sich hier auf Vorgänge zu seiner Zeit (im 19. Jahrhundert) (Übs).
  • 4 vgl. indessen Kapitel 2,16 (Übs).
  • 5 Puseyismus: Nach Edward Bouverie Pusey (1800–1882), einem englischen Theologen, benannte Bewegung in der Anglikanischen Hochkirche („Oxford-Bewegung“), die für eine Angleichung an die Tradition der Röm.-Kath. Kirche plädierte (Übs).
  • 6 Nach dem schottischen Prediger Edward Irving (1792–1834) benannte christliche Gruppe in England (Übs).
  • 7 Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts (Übs.).
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