Das Evangelium nach Matthäus

Kapitel 12

Das Evangelium nach Matthäus

Von den Höhen, die uns im letzten Kapitel beschäftigten, steigen wir wieder hinab in die Tiefen menschlicher Torheit und Blindheit, wie sie in dem Pharisäer zutage treten. In diesem Kapitel finden wir, dass die jüdischen Führer Ihn endgültig verworfen haben, nun sind es nicht mehr nur die Städte Galiläas. In den ersten beiden Fällen entflammt der Streit um den Sabbat. Der Herr verteidigte die Handlungsweise Seiner Jünger aus wenigstens vier Gründen (Verse 3‑8).

Als David, der von Gott gesalbte König, verworfen war, hatten seine Bedürfnisse Vorrang vor einer Frage, die die Ordnung des Heiligtums betraf, und seine Begleiter waren ihm darin verbunden. Jetzt verwarf man den großen Sohn Davids, aber musste dem Bedürfnis Seiner Jünger nicht entsprochen werden, selbst wenn das ihre Sabbatvorschriften verletzte? Zweitens hatte der Tempel Vorrang vor dem Sabbat, denn immer hatten die Priester an den Sabbaten ihre Arbeit verrichtet. Jesus nahm nun für sich in Anspruch, größer als der Tempel zu sein. Tatsächlich wohnte Gott in Christus in weit größerem Maß als jemals im Tempel. Drittens stand in Hosea 6 ein Wort über Barmherzigkeit, auf das Er sich schon früher bezogen hatte, und jetzt traf es auf diesen Fall zu. Viertens beanspruchte Jesus, als Sohn des Menschen Herr des Sabbats zu sein; mit anderen Worten, der Sabbat hatte für Ihn keine bindende Kraft. Er war sein Meister und konnte über ihn verfügen, wie Er es für gut hielt.

Im zweiten Fall beantwortet der Herr ihre spitzfindige Frage mit einem Hinweis auf ihre eigene Praxis. Sie hatten keine Gewissensbisse, am Sabbat Hand anzulegen, wenn es darum ging, sich eines Schafs zu erbarmen. Wer waren sie denn, dass sie etwas einzuwenden hatten, wenn Er am Sabbat einem Menschen Barmherzigkeit erwies? Und solche Barmherzigkeit übte Er unverzüglich. Doch dann zeigt sich die maßlose Verstockung ihrer Herzen, indem Sein Mitgefühl in ihnen Mordgedanken hervorrief. Sein Tod war von diesem Augenblick an für sie eine entschiedene Sache.

Weil es so stand, begann Jesus das Zeugnis zurückzuziehen, das sie mit Seinem Tod auszutilgen sich anschickten. Er wies die an, denen Er Sein Erbarmen noch zuwandte, Ihn nicht offenbar zu machen. Matthäus führt die schöne Prophezeiung aus Jesaja 42 an und zeigt, wie sie in Ihm ihre Erfüllung fand. Teilweise wartet sie noch auf ihre Erfüllung bei Seinem zweiten Kommen, denn noch hat Er das Gericht nicht zum Sieg geführt. Dem erbitterten Hass und der Verwertung, denen Er sich bei Seinem ersten Kommen gegenübersah, begegnete Er, ohne dass Er widerstand, Gegenreden erhob oder gar Seine Feinde zerschmetterte. Nichts ist wertloser als ein geknicktes Rohr und nichts unserer Nase widerwärtiger als ein glimmender Docht. Beiden glichen die Pharisäer, aber Er wird sie nicht zerbrechen und sie nicht auslöschen bis zur Zeit des Gerichts. Bis dahin lernen die Heiden, auf Seinen Namen zu vertrauen.

In Jesaja 32 werden die beiden Kommen des Herrn ‑ wie oft in den Schriften des Alten Testaments ‑ nicht unterschieden, aber hier lässt sich deutlich erkennen, wie beide in die Weissagung eingeschlossen sind. Zu dieser Zeit kam Jesus als Gefäß der Barmherzigkeit und nicht, um Gericht zu üben. Nachdem Er von den Obersten des Volkes abgewiesen sein würde, würde Er sich zu den Heiden wenden und ihnen Seine Barmherzigkeit zuströmen lassen. Das wird in dieser Stelle klar angekündigt.

Ist das für uns nicht von unermesslichem Wert, wenn wir sehen dürfen, dass wir unter jenen Heiden sind, die auf Seinen Namen gehofft haben?

Bei den Pharisäern haben wir einen Hass gesehen, der zu morden bereit war. Doch bei Jesus haben wir eine Sanftmut und Demut des Herzens gefunden, die Ihn dahin leitete, jede Gerichtshandlung aufzuschieben und ihre Bosheit ohne Widerspruch und Streit hinzunehmen. Matthäus berichtet jetzt den Fall eines Menschen, der von einem Dämon besessen und dadurch blind und stumm geworden war. Jesus gab ihm das Augenlicht und die Sprache wieder, indem Er den Dämon austrieb. Darüber erstaunten die Volksmengen sehr und fingen an, Ihn für den wahren Sohn Davids zu halten. Als die Pharisäer das sahen, gerieten sie in eine verzweifelte Erregung und wiederholten noch ausdrücklicher die lästerliche Behauptung, dass Er in der Kraft Satans wirke. Zu ihrer früheren Lästerung (9,34) hatte der Herr geschwiegen, aber diesmal trat Er ihrer Herausforderung entgegen.

Zuerst widerlegt Er sie von der Vernunft her. Ihre Beschuldigung war insofern widersinnig, als der Satan, durch Satan ausgetrieben, sein eigenes Reich zerstören würde. Zugleich verleumdeten sie ihre eigenen Söhne, die sich zur Austreibung von Dämonen bekannten. Zweitens gab Er Ihnen die wahre Erklärung: Er war hier in Seiner Menschheit und handelte durch den Geist Gottes, und so hatte Er Satan, den Starken, gebunden und war nun dabei, seiner Macht die zu entreißen, die nichts als sein „Hausrat“ waren. Darin lag ein weiterer klarer Beweis, dass das Reich Gottes in ihrer Mitte war.

Damit klärte sich auch unzweifelhaft, dass, wer nicht entschieden für Christus war und mit Ihm sammelte, gegen Ihn war und zerstreute. Das brachte den Herrn dazu, den wahren Charakter ihrer Sünde zu entlarven, die sie außerhalb des Bereichs der Vergebung brachte ‑ trotz der Tatsache, dass jede Art von Sünde vergeben werden kann. Im Sohn des Menschen stellte Gott sich ihnen sichtbar dar: Sie mochten Ihm widersprechen und trotzdem durch ein Werk des Geistes zur Buße gebracht werden und dadurch Vergebung erlangen. Aber den Heiligen Geist zu lästern, durch den allein Buße und Glauben in der Seele gewirkt werden kann, das bedeutet, sich in eine hoffnungslose Lage zu bringen. Es heißt, Buße und Glauben von sich zu weisen und damit die einzige Tür zur Errettung zu verriegeln und zu schließen.

Es war eine traurige Tatsache, dass diese Pharisäer völlig verdorbenen Bäumen glichen, ja, einer Schlangenbrut, und ihre bösen Worte waren gerade der Ausdruck der Bosheit ihrer Herzen. In den Versen 33‑37 reißt der Herr durch einen solchen Vergleich die Maske von ihren Herzen und erklärt, dass sie nach ihren Worten gerichtet werden würden. Wenn die Menschen einmal am Tag des Gerichts sogar von jedem unnützen Wort Rechenschaft geben müssen, was verdienen dann ihre soeben gesprochenen bösen Worte? An jenem Tag werden sie aus ihren Worten verdammt werden.

Durch ihr Verlangen, wie es Vers 38 berichtet, zeigten die Pharisäer an, dass sie in moralischer Hinsicht ebenso blind und gefühllos wie verdorben und böse waren. Indem sie alle Zeichen, die geschehen waren, nicht beachteten, ob in Unwissenheit oder aus Absicht, forderten sie ein neues Zeichen. Wir haben fünf Zeichen in Kapitel 8 und fünf in Kapitel 9 außer denen, die in unserem Kapitel berichtet werden. In ihrem boshaften und ehebrecherischen Sinn konnten sie das klarste Zeichen nicht wahrnehmen; so würde ihnen auch kein Zeichen mehr gegeben werden außer dem größten aller Zeichen ‑ Seinem eigenen Tod und Seiner Auferstehung, wofür in der bemerkenswerten Geschichte Jonas bereits ein Vorbild gegeben worden war. Das Geschlecht, das den Herrn verwarf, war von Wundern umgeben gewesen, mehr als alle, die vor ihm waren. Jona und seine Predigt waren den Niniviten ein Zeichen gewesen, und zu einer früheren Zeit war Salomo mit seiner Weisheit ein Zeichen für die Königin des Südens gewesen, und wie eindrucksvoll waren die Auswirkungen. Doch Jesus wurde verworfen.

Dennoch steht Jesus unendlich über ihnen allen. In unserem Kapitel nennt Er sich selbst „größer als der Tempel“, „mehr als Jonas“, „mehr als Salomon“. Der Hinweis ist beachtenswert, dass sowohl Jona als Salomo Zeichen für die Nationen waren. Obwohl sie Diener Gottes in Israel waren, drang ihr Ruhm bis zu dem nördlichen Ninive bzw. dem südlichen Scheba. Diese Heiden hatten Ohren zu hören und Herzen, die der Anerkennung Raum gaben, aber diese pharisäischen Juden, die unseren Herrn umgaben, waren verblendete und erbitterte Widersacher bis zu dem Punkt, wo sie diese unvergebbare Sünde begingen.

Was würde das Ende dieses ungläubigen Geschlechts sein? Der Herr sagt es uns in den Versen 43‑45. Der böse Geist des Götzendienstes, der sie in ihrer früheren Geschichte beherrscht hatte, war in der Tat von ihnen ausgefahren. Christus, der ihnen den wahren Gott offenbart hatte, hätte das Haus in Besitz nehmen sollen; aber Ihn verwarfen sie. Die Folge davon würde die Rückkehr jenes bösen Geistes sein, und zwar mit noch sieben anderen Geistern, böser als er selbst. Dieses Wort unseres Herrn wird in den letzten Tagen unter dem Antichristen in Erfüllung gehen. Das ungläubige Geschlecht der Juden wird das Bild des Tieres anbeten und von der furchtbaren Gewalt satanischer Mächte unterjocht werden. Wenn das Gericht hereinbricht, werden diese abtrünnigen Juden, auf die es fallen wird, schlimmer sein als alle, die ihnen vorangingen. Gleiches wird, so glauben wir, auch auf die heidnischen Nationen zutreffen.

Das Kapitel schließt mit der bezeichnenden Begebenheit, die die Mutter Jesu und Seine Brüder angeht. Tatsächlich kamen sie in einer verkehrten Gesinnung, wie wir aus Markus 3,21.31 sehen können. Doch darum geht es hier nicht. Vielmehr nimmt der Herr ihr Kommen zum Anlass, um eine rein natürliche Beziehung nicht mehr anzuerkennen und zu zeigen, dass künftig nur noch eine Beziehung geistlicher Art zählen wird. In dieser bildlichen Weise setzte Er für den Augenblick die alte Verbindung, die dadurch bestand, dass Er als Sohn Abrahams und als Sohn Davids gekommen war, beiseite und zeigte, dass die jetzt anzuerkennende Verbindung nur im gehorsamen Tun des Willens Gottes besteht. Als Volk hatten die Juden Ihn verworfen, und jetzt verleugnet Er sie. Er anerkennt Seine Jünger als solche, die in einer wahren Beziehung zu Ihm stehen; denn, obwohl sie schwach waren, hatten sie doch angefangen, den Willen Seines Vaters in den Himmeln zu tun.

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