Botschafter des Heils in Christo 1861

Der Weg Kains

 „Wehe ihnen! Denn sie sind den Weg Kains gegangen und haben sich für Lohn dem Irrtum Bileams hingegeben, und in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen.“ (Judas 11)

Das vierte Kapitel des ersten Buches Moses teilt uns ein wichtiges, aber Zugleich betrübendes Ereignis mit. Dass die Geschichte uns nichts über die Kindheit und die Erziehung der beiden Brüder Kain und Abel enthüllt, ist an und für sich schon bezeichnend genug. Nachdem mit kurzen Worten ihre Geburt, sowie ihr äußerer Beruf angedeutet worden ist, werden sie uns als Opferer oder Gottesverehrer vorgeführt. Auf diese Tatsache richtet der Geist Gottes unseren Blick. Hier zeigt sich der erste Teil des „Weges Kains.“

„Es begab sich aber nach der Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes.“ Kain war ein Ackermann; im Schweiß seines Angesichts hatte er der Erde seine Speise und sein Opfer abgerungen. Allein durch die Darbringung dieses Opfers verriet er nur zu deutlich, dass er die Ursache nicht kannte, um welcher willen er im Schweiß seines Angesichtes sein Brot essen musste; und die Art und Weise, in welcher er Gott nahte, lieferte einen traurigen Beweis seines gänzlichen Mangels an Sündenerkenntnis. Er handelte, wie es schien, in der Meinung, als ob Gott verpflichtet sei, das Beste, was er zu geben vermochte, annehmen zu müssen. Die Begriffe, die er von seiner Stellung zu Gott hatte, waren falsch. Die Sünde war in die Welt gekommen, und Gott konnte kein Opfer von dem Menschen, als einem Sünder, annehmen, bevor der Sünder persönlich mit Gott versöhnt war. Gott handelt stets in der Weise, dass er zuvor die Person des Sünders begnadigt (Eph 1,6); und nachdem Er ihn selbst angenommen, nimmt Er auch dessen Werke an. Der Weg aber, den Kain einschlug, zeigte hingegen, dass er sein Werk als Mittel zur Begnadigung seiner Person wählte. Er opferte das Beste, was er besaß; er tat, was er vermochte; und daher entsetzte er sich nicht wenig, als Gott seinem Opfer keine Beachtung schenkte.
Der „Weg Kains“ tritt indessen deutlicher in der traurigen Geschichte Abels ins Licht. „Durch den Glauben brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar, als Kain.“ So erklärt der Geist Gottes jenes Ereignis, welches Er uns in 1. Mose 4,4 mit den Worten berichtet:

„Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR blickte auf Abel und auf seine Opfergabe“ (1. Mo 4,4).

Durch den Glauben hatte Abel geopfert. das Wort Gottes war ausgegangen, das Urteil des Todes über den Menschen ausgesprochen und das Erdreich um des Menschen willen verflucht. Abel erkannte dieses als Wahrheit durch sein Schlachtopfer an, bevor noch der Tod dieselbe tatsächlich bestätigt hatte. Sein im Glauben dargebrachtes Opfer war ein Beweis seiner Anerkennung des Todesurteils, sowie der Notwendigkeit eines Mittleramtes:

„Aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht. Und Kain ergrimmte sehr, und sein Angesicht senkte sich“ (1. Mo 4,5).

Der „Weg Kains“ offenbart sich also in der gänzlichen Unwissenheit über den Umstand, dass die Sünde eine schreckliche und unüberwindbare Scheidewand zwischen Gott und dem Menschen aufgerichtet hat, sowie in der Meinung, dass der Mensch zu Gott nahen und Begnadigung finden könne ohne Mittleramt. Und somit ist der „Weg Kains“ Zorn wider Gott, der den Sünder auf dem ihm vorgezeichneten Wege annimmt, und Neid gegen den Sünder, welcher auf diesem Weg Gnade findet. Das Auge Kains ist böse, weil Gott voll Güte ist.

Ermahnung, gnädige Ermahnung von Seiten des Herrn selbst vermag nicht den düsteren Blick Kains zu erhellen; und obschon ihm der Herr den Weg zur Begnadigung öffnet, so will sich Kain doch nicht unterwerfen. „Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel und ermordete ihn.“ – Dies ist das erste Blatt in der Geschichte, welches uns von Verfolgung der Kinder Gottes und vom Hass des Menschen gegen die Gnade kundgibt; – was hier in die Erscheinung tritt, das hat sich fortgepflanzt bis auf unsere Zeiten, so dass der „Weg Kains“ einem dunklen Faden gleicht, der, in der Geschichte der Menschheit das älteste Jahrhundert mit der Gegenwart verknüpft.

Sehr treffend offenbart uns der Herr in dem Gleichnis vom verlorenen Sohne den „Weg Kains“, indem Er uns den ältesten Sohn vorführt. Sein Vater hatte den verlorenen Sohn in Gnaden wieder angenommen, das gemästete Kalb war geschlachtet und ein jeder im väterlichen Haus war fröhlich. „Es war aber sein ältester Sohn auf dem Feld; und als Er kam und sich dem Haus nahte, hörte er die Musik und den Reigen. Und er rief einen der Knechte zu sich und erkundigte sich, was das wäre. Der aber sprach zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiedererhalten hat. – Er aber ward zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater nun ging hinaus und bat ihn.“ Da sehen wir den „Weg Kains“, den Weg jenes Mannes, der sich so sehr ergrimmte, der sein Antlitz zu Boden senkte und zu welchem Jehova sagte: „Warum ergrimmst du, und senkt sich dein Antlitz?“

Und war nicht der Herr Jesus selbst der Abel seiner Zeit? Und wer hätte in den Hohepriestern und Ältesten nicht den Kain jener Tage entdeckt? Pilatus hatte Einsicht genug, um zu merken, dass man Jesus nur aus Neid überliefert habe (Mt 27,18). Das Wohlgefallen Gottes, welches auf Jesu ruhte (Apg 2,22), hatte den Zorn der Juden wachgerufen und ihr Antlitz gesenkt; denn dieses Wohlgefallen drückte den Stempel der Eitelkeit auf ihre gottesdienstlichen Anmaßungen. Über die Schriftgelehrten und Pharisäer, die den Weg Kains wandelten, rief der Herr Jesus ein Wehe aus, indem Er mit den Worten schloss: „Und ihr, erfüllt das Maß eurer Väter! … dass alles gerechte Blut, vergossen auf der Erde, auf euch komme, von dem Blut Abels, des Gerechten, an, bis zum Blut des Zacharias, des Sohnes Barachias, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt“ (Mt 23,35).

Denselben „Weg“ finden wir bei der Verfolgung Stephanus; und Saulus, der Pharisäer, der solange auf diesem Weg gewandelt, aber durch die Gnade davon entrückt war, sagt von seinen Brüdern nach dem Fleisch: „Welche sowohl den Herrn Jesus, als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben, und welche Gott nicht gefallen, und welche allen Menschen entgegen sind, und uns wehren zu den Nationen zu reden, auf dass sie gerettet werden, damit sie ihre Sünden allenthalben erfüllen; – aber der Zorn Gottes ist völlig über sie gekommen“ (1. Thes 2,15–16). – Ohne Zweifel könnte man die Spur des „Weges Kains“ durch die Geschichte des ganzen Christentums hindurch verfolgen; allein es ist vor allem notwendig, das Augenmerk darauf zu richten, dass Judas in seinem Brief diesen „Weg“ als das Kennzeichen der letzten Tage vor unsere Augen stellt.

Hier aber zeigt der „Weg Kains“ eine zweite Stufe, die unsere Aufmerksamkeit verdient. „Kain ging hinweg von dem Angesicht Jehovas.“ Er verließ den einzigen Ort der Seligkeit. Wohl fühlte seine Seele die Leere; aber er suchte einen anderen Born, um diese Leere wieder auszufüllen: „Er baute eine Stadt und nannte den Namen der Stadt nach dem Namen seines Sohnes Henoch.“ Und so steht Kain da als das Haupt einer langen Geschlechtslinie, die sich von jener Zeit bis zu unseren Tagen hinausstreckt, oder – mit anderen Worten – als das Haupt derer, „die dem Geschöpf mehr Ehre und Dienst geleistet haben, als dem Schöpfer, welcher gesegnet ist in die Zeit alt er, Amen.“ – Verfinstert am Verstand, und entfremdet von dem Leben Gottes durch die in ihm wohnende Unwissenheit, sucht der arme Mensch vergeblich Ruhe und Glück in den Werken seiner Hände. Und dennoch ist er nicht zufrieden; die schreckliche Leere seiner Seele kann nicht ausgefüllt werden; denn nur die Gegenwart dessen, den Kain verließ, würde ihn zu befriedigen vermögen. Ja, in der Tat, nur die Herrlichkeit Gottes, offenbart in der Person und in dem Werk Jesu Christi, hat die Macht, den unglücklichen Menschen als Sünder und Geschöpf von seinem Elend zu befreien; denn nur Jesus konnte von sich sagen: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, wird nie dürsten.“
Die Leute des Geschlechts Kains blieben gleich ihrem Vater fern von dem Angesicht Jehovas. Sie haben mancherlei Erfindungen gemacht; aber sie sind nicht zu Jehova zurückgekehrt. Was die Kunst zum Nutzen und zur irdischen Wohlfahrt hervorbrachte, dies alles stammt ab von den Söhnen Kains, von Jabal, Jubal und Tubalkain. Wohl mögen die Künste das menschliche Leben erträglich machen und durch ihren Genuss geeignet sein, das Gewissen in Schlummer zu wiegen; allein sie sind nicht im Stand, den Menschen gänzlich glücklich und zufrieden zu machen.

Der „Weg Kains“ in seiner ganzen Ausdehnung wird uns endlich in dem Babylon der Offenbarung Johannes vor Augen gestellt; und wir sehen, wie der Geist Gottes auf eine so wunderbare Weise den ersten und letzten Teil der Geschichte des Menschen mit einander verbindet. Alles was zur Bequemlichkeit, zur Wohlfahrt und zum Vergnügen des Menschen gehört, wird in Babylon gefunden, aber Zugleich auch „das Blut von Propheten und Heiligen und aller derer, die auf der Erde geschlachtet sind“ (Off 18). Die höchste Bildung, der schrecklichste Hass gegen Gott und eine gänzliche Verachtung seiner Gnade reichen sich hier in Babylon die Hand. Darum steht auch geschrieben: „Geht aus von ihr, mein Volk, auf dass ihr nicht ihrer Sünden teilhaftig seid, und dass ihr nicht von ihren Plagen empfangt.“ Lasst uns daher jene Stadt erwarten, welche Grundlagen hat, wo Gottes Herrlichkeit ist und deren Bürger – die Gegenwart Gottes als ihr glückseliges ewig dauerndes Teil besitzen.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel