Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde

Die Rückkehr des Herrn Jesus für "entschlafene" Gläubige

Wir haben nun das Zeugnis der Schrift hinsichtlich der Rückkehr des Herrn untersucht und festgestellt, dass sie für die lebenden Gläubigen als eine lebendige Hoffnung vorgestellt wird, die, wenn diese eintrifft, „verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick“ und „dem Herrn entgegen in die Luft“ entrückt werden. Man mag dem entgegenhalten, dass bereits etwa 60 Generationen von Christen in den Gräbern liegen und dass eine Hoffnung, die für eine so große Menge an Gläubigen nicht in Erfüllung ging, niemals vom Heiligen Geist gegeben worden sein kann. Auf diesen Einwand gibt es zwei einfache Antworten:

  1. Die Verzögerung, solange sie auch dauern mag, hat die Hoffnungen der Gläubigen nicht getäuscht. Die erste Generation von Christen hat diese Hoffnung zweifellos hochgehalten, es gab aber keine Aussagen des Heiligen Geistes darüber, dass dieses Ereignis zu deren Lebenszeit stattfinden würde. Sie sollten es als mögliches Ereignis betrachten und erwarten, aber nicht als ein Ereignis, das definitiv während ihres Lebens stattfinden würde. Sie sollten so in der Hoffnung auf dieses Ereignis leben, dass dessen Eintreten sie nicht überrascht hätte, gleichzeitig sollten sie es nicht fest erwarten, um nicht enttäuscht zu sein, wenn es nicht eintreten würde. Das war die Haltung der Gläubigen zur Zeit der Apostel. In der nach-apostolischen Zeit fand ein erschreckend schneller und umfassender Niedergang aller Wahrheit statt und die Erwartung der Wiederkehr des Herrn war fast vergessen. Die Versammlung wurde wie der untreue Verwalter, doch dann zeigte sich die Gnade Gottes, in dem Er diesen Tag hinauszögerte, der, aufgrund nachlassender Zuneigung zu der Person Christi, nicht länger Gegenstand der Hoffnung war. Da diese Hoffnung verlorengegangen war, bedeutete das Hinausschieben ihrer Erfüllung auch keine Enttäuschung. Wir würden wohl zu weit gehen, wenn wir Vermutungen darüber äußerten, wie sehr die Untreue der Versammlung zu diesem Verzug beigetragen hat. Auf jeden Fall sehen wir, dass die Versammlung in einem derartigen Zustand der Untreue kein Recht hat, die Verzögerung zur Diskreditierung der Verheißung zu nutzen. Sie sollte vielmehr Buße darüber tun, dass sie diese so lange missachtet hat und dankbar sein, dass der Herr nicht gekommen ist, während sie in Nachlässigkeit und Unglauben schlummerte.
  2. Der oben erwähnte Einwand beruht auf der Annahme, dass entschlafene Gläubige kein Teil an dieser Hoffnung haben. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn die Unmittelbarkeit der Hoffnung wird sehr eindringlich durch die Tatsache illustriert, dass sie den Lebenden ständig vor Augen geführt wird und der Herr hat uns auch nicht im Ungewissen über das gesegnete Teil der entschlafenen Toten gelassen. Wir werden sehen, dass sie genauso viel Interesse und Teilnahme an diesem wunderbaren Ereignis haben wie die Gläubigen „die Lebenden, die übrig bleiben“ und gewiss ist es ein weiterer Beweis der Güte des Herrn, dass Er seine Wiederkehr so lange hinausgezögert hat. Ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn, sind die gläubigen Toten zweifellos Teilhaber dieser Hoffnung und befinden sich nun in der Wartestellung, die sie aufgrund des Verlustes dieser kostbaren Wahrheit hier auf der Erde nicht eingenommen hatten. Gott in seiner Weisheit hat es so geführt, dass, trotz der Treulosigkeit der meisten Gläubigen in dieser Sache, die Rückkehr des Herrn keine unwillkommene Überraschung, sondern die Erfüllung hochgeschätzter Hoffnungen ist und die Antwort auf die wartende Haltung der meisten, wenn nicht aller ist, die ein Verlangen danach haben. Selbst dem am wenigsten aufmerksamen Beobachter muss auffallen, wie sehr diese „glückselige Hoffnung“ in den letzten Jahren im Volk Gottes wieder aufgelebt ist. Somit werden, wenn der Ruf ertönt, Abertausende von Gläubigen, deren Seelen bereits beim Herrn sind, und viele oder gar alle Gläubige, die noch auf der Erde sind, sein Kommen bereits sehnsüchtig erwarten.

Die Liebe des Herrn Jesus zeigt sich in wunderbarer Weise in seinem Verlangen, seine Auserwählten zu Teilhabern seiner Hoffnung und Freude zu machen. Er möchte unsere Herzen haben. Er möchte, dass wir die Herrlichkeit anschauen, die wir nicht teilen können, denn Er wünscht und wertschätzt die Gemeinschaft mit uns. „Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt“ (Joh 17,24). Er möchte, dass die Gläubigen beim Abendmahl nicht der Segnungen gedenken, die wir in Ihm haben, sondern Er sagt: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“. Das Gleiche gilt für sein Kommen, das Er ihnen als Hoffnung für ihre Herzen gegeben hat. Es ist der Wunsch des Herrn, dass sie diese Hoffnung in Gemeinschaft mit Ihm hochhalten. In seiner Gnade und Liebe hat Er dieses Ereignis noch hinausgezögert, nicht nur bis die Generationen, die diese Hoffnung auf der Erde verloren haben, sie im Himmel wiedererlangt haben, sondern, damit diese Hoffnung als lebendige Kraft unter den Gläubigen seines Leibes hier auf der Erde wieder auflebt.

Wir werden nun untersuchen, was die Schrift über die Bedeutung des Kommens des Herrn für die entschlafenen Gläubigen sagt. Der Apostel Paulus schreibt: „Wir wollen aber nicht, Brüder, dass ihr, was die Entschlafenen betrifft, unwissend seid, damit ihr nicht betrübt seid wie auch die Übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird auch Gott die durch Jesus Entschlafenen mit ihm bringen. (Denn dieses sagen wir euch im Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes vom Himmel herabkommen, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen Worten.)“ (1. Thes 4,13–18). Es liegt eine besondere Bedeutung in dem Ausdruck „denn dieses sagen wir euch im Wort des Herrn“. Der Apostel Paulus hatte spezielle Offenbarungen empfangen, die kein anderer außer ihm erhalten hatte. So sagt er im Brief an die Versammlung in Korinth über das Mahl des Herrn nicht, dass er dessen Einhaltung von denen gelernt hat, die bei der Einführung des Mahls anwesend waren, sondern schreibt „denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe“ (1. Kor 11,23). Auch im Brief an die Epheser spricht er von dem Geheimnis, das Gott ihm anvertraut hat, „dass mir durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden ist (...) das in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist“ (Eph 3,3–5). Nur bei besonders wichtigen Gegenständen, die einer speziellen göttlichen Offenbarung bedürfen, finden wir diese Ausdrucksweise. Daher ist ein auf diese Weise eingeleiteter Abschnitt, wie die vor uns stehenden Verse, sozusagen durch den Heiligen Geist hervorgehoben und verlangt eine intensivere Betrachtung.

Worauf also soll unser Blick hier speziell gelenkt werden? Unser Herr hatte die Jünger bereits gelehrt, dass Er zu jeder Zeit wiederkommen kann und dass die lebenden Gläubigen bei diesem Ereignis zu Ihm gehen würden. Sie wussten jedoch nicht, was mit den „in Christus Entschlafenen“ geschehen würde. Sie hielten nach einer Auferstehung Ausschau und glaubten fest daran, dass Gläubige, die durch den Tod gingen, errettet würden. Wie Martha glaubten auch sie, dass gestorbene Gläubige „auferstehen (...) in der Auferstehung am letzten Tag“ und genau wie sie verstanden auch sie nicht die tiefere Bedeutung in seinen Worten „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Der Schlüssel zu diesen Worten wird nun durch den Apostel Paulus gegeben, mit der besonderen Erwähnung „im Wort des Herrn“. Er sah, dass die Thessalonicher sich um die Entschlafenen sorgten als solche, „die keine Hoffnung haben“. Das bedeutet nicht, dass sie an der endgültigen Errettung ihrer verstorbenen Geschwister zweifelten. Da sie aber nicht wussten, was mit den toten Gläubigen beim Kommen des Herrn geschehen würde, fürchteten sie, dass diese mit dem Tod ihre besondere Hoffnung auf eine Entrückung durch den Herrn selbst verloren hätten und somit auch nicht Teilhaber seiner wunderbaren Wiederkehr sein würden. Dieser Gedanke erfüllte die Lebenden mit Trauer. Die noch verborgene Wahrheit darüber, was mit den toten Gläubigen beim Kommen des Herrn geschehen würde, war deshalb eine wichtige Mitteilung, die durch das „Wort des Herrn“ dem Apostel offenbart wurde, damit er dieses den Trauernden mitteile. Außerdem vervollständigt es die Hoffnung, die unser Herr verkündete, während Er noch auf der Erde war.

Seine Botschaft ist einfach. Die Thessalonicher hatten angenommen, dass sie bei dem Kommen des Herrn mit entrückt würden, während ihre verstorbenen Mitgeschwister bis zur „Auferstehung am letzten Tag“ im Grab bleiben würden. Der Apostel erklärt ihnen „im Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden“. Im Gegenteil, die Toten werden als erste auferstehen. „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes vom Himmel herabkommen, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft“ (1. Thes 4,16.17). Das ganze Ereignis wird in einem Augenblick passieren, doch die Reihenfolge ist so festgelegt: zuerst werden die entschlafenen Gläubigen auferweckt, danach werden die lebenden und auferstandenen Gläubigen zu dem Herrn entrückt.

Es gibt eine sehr enge Verbindung zwischen der hier angekündigten Wahrheit und dem Geheimnis, das den Korinthern verkündet wurde. „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden [zwar] nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden“ (1. Kor 15; 51; 52). Dabei handelt es sich offensichtlich um die „Erlösung unseres Leibes“ und die Umgestaltung „zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit“, was bereits im Zusammenhang mit der Hoffnung für lebende Gläubige betrachtet wurde. Es ist auch das gleiche Ereignis wie es im Brief an die Thessalonicher beschrieben wird. Bei beiden erklingt der Schall der Posaune, bei beiden werden die entschlafenen Heiligen auferweckt, bei beiden zeigt sich im gleichen Moment Gottes Macht gegenüber den lebenden Gläubigen – im Brief an die Korinther werden sie verwandelt werden in Gleichförmigkeit mit Christus, im Thessalonicherbrief werden sie entrückt, um bei Christus zu sein. Diese beiden Dinge geschehen gleichzeitig – wie Johannes sagt, dass wir „ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Joh 3,2).

Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass es sich hier um eine allgemeine Auferstehung am Ende der Welt handelt. Es gibt jedoch einige schlüssige Punkte, die gegen diese Auffassung sprechen.

  1. Die Auferstehung, von der hier die Rede ist, findet zeitgleich mit dem Kommen des Herrn für die Gläubigen statt. Die Stelle in Thessalonicher beweist, dass die lebenden Gläubigen zusammen mit den auferweckten Gläubigen entrückt werden und der Abschnitt im Korintherbrief zeigt, dass die Umgestaltung der lebenden Gläubigen und die Auferweckung der Toten „in einem Nu, in einem Augenblick“ geschehen wird. Die Schrift jedoch stellt das Kommen des Herrn für seine lebenden Gläubigen als gegenwärtige Hoffnung vor, die sie ständig erwarten sollten. Und hier sehen wir, dass die Hoffnung für die Toten genau die gleiche ist. Damit der gegenwärtige Charakter nicht aus den Augen verloren wird, auch im Hinblick auf die Toten, hat der Heilige Geist mit der für die Schrift typischen Genauigkeit dafür gesorgt, dass in beiden Abschnitten, in denen sowohl die Auferstehung der Toten als auch die Entrückung der lebenden Gläubigen erwähnt wird, die lebenden Gläubigen in der ersten Person genannt werden, wie um zu zeigen, dass es sich hier um ein Ereignis handelt, wonach sie während ihrer Lebenszeit Ausschau halten sollten.
  2. Die Beschreibung dieser Auferstehung unterscheidet sich sehr stark von der Auferstehung am Ende der Welt, die Johannes wie folgt schildert: „Und ich sah einen großen weißen Thron und den, der darauf saß, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken. Und der Tod und der Hades wurden in den Feuersee geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuersee. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buch des Lebens, so wurde er in den Feuersee geworfen“ (Off 20,11–15). Diese ernste Szene finden wir am Ende der Welt, sie ist jedoch in jedem Punkt vollkommen unterschiedlich zu der zuvor besprochenen Auferstehung. Bei der einen werden die Lebenden entrückt, bei der anderen werden nur die Toten erwähnt, denn auf der Erde können sich gar keine Lebenden befinden, da die Erde „entflohen“ ist. Außerdem erwähnt Paulus mit keinem Wort das Gericht, Johannes sagt hingegen: „Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken“. In den Briefen heißt es von den Toten: „So werden wir allezeit bei dem Herrn sein“. Das einzige Schicksal, das die in der Offenbarung erwähnten Toten erwartet, ist, dass sie in den Feuersee geworfen werden. Beide Berichte sind also offensichtlich nicht zwei unterschiedliche Beschreibungen ein und desselben Ereignisses, sondern schildern zwei völlig verschiedene Szenen, die sich einander weder in ihrem Charakter noch im Detail ähneln.
  3. Das Wort Gottes spricht niemals von einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Welt, sondern erklärt ausdrücklich, dass es zwei unterschiedliche Auferstehungen gibt: eine am Ende der Welt und eine tausend Jahre zuvor. Zu dieser Aussage führt uns der bereits festgestellte Unterschied zwischen der Auferstehung der Gläubigen, die Paulus beschreibt und der Auferstehung zum letzten Gericht, das in der Offenbarung erwähnt wird. Da diese jedoch im Widerspruch zu der allgemein üblichen Auffassung steht und noch dazu einen wichtigen Teilbereich des Themas, das wir hier untersuchen, ausmacht, tun wir gut daran, an anderer Stelle noch einmal ausführlicher auf diesen Gegenstand einzugehen.
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