Das Buch Esra
Botschafter des Heils in Christo 1913

Esra – Einleitung

Im dritten oder vierten Jahr1 Jojakims, des Königs von Juda, war Nebukadnezar, der König von Babel, im ersten Jahr seiner Regierung gegen Jerusalem heraufgezogen, hatte es belagert (Dan 1,1) und Jojakim gefangen genommen und mit ehernen Ketten gebunden, um ihn nach Babel zu führen (2. Chr 36,6). Bei dieser Gelegenheit war auch ein Teil der Geräte des Hauses des Herrn mitgenommen worden. Nebukadnezar wollte damit den Tempel seines Gottes schmücken (2. Chr 36,7; Esra 1,7; Dan 1,2). Auch hatte er eine Anzahl junger Leute, die dem königlichen Geschlecht oder den vornehmsten Familien des Landes angehörten, nach Babel geführt (Dan 1,3).

Der chaldäische Herrscher scheint sein Vorhaben hinsichtlich des gefangenen Königs später geändert zu haben, denn man sieht diesen wieder auf seinem Thron in Jerusalem, wo er im Ganzen elf Jahre regiert (2. Chr 36,5; 2. Kön 23,36). Drei Jahre nach seiner Wiedereinsetzung in sein Königtum empört sich Jojakim gegen Nebukadnezar. Dieser zieht, da er anderswo beschäftigt ist, nicht persönlich gegen ihn heran, lässt aber bis zum Ende seiner Regierung die feindlichen Scharen der Chaldäer, der Syrer, der Moabiter und der Kinder Ammon gegen ihn los. Der Prophezeiung Jeremias gemäß starb Jojakim wohl eines gewaltsamen Todes. Sein Leichnam wurde fortgeschleift und außerhalb der Mauern Jerusalems der Hitze bei Tag und der Kälte bei Nacht hingeworfen, und „mit dem Begräbnis eines Esels begraben“ (Jer 22,19; 36,30). Dennoch wird gesagt, dass „er sich zu seinen Vätern legte“, ein Ausdruck, der auch andeuten könnte, dass er zunächst seinen Platz in den Gräbern der Könige gefunden habe.

Jojakin oder Jekonja folgte auf seinen Vater Jojakim, regierte jedoch nur drei Monate zu Jerusalem. Auf ihn und sein Volk goss Nebukadnezar den ganzen Zorn aus, der sich durch das falsche und treulose Verhalten Jojakims in seinem Herzen angehäuft hatte. Die Knechte des Königs von Babel zogen „nach Jerusalem herauf, und die Stadt kam in Belagerung. Und Nebukadnezar, der König von Babel, kam zur Stadt, während seine Knechte sie belagerten. Und Jojakin, der König von Juda, ging zum König von Babel hinaus, er und seine Mutter und seine Knechte und seine Obersten und seine Hofbeamten; und der König von Babel nahm ihn gefangen im achten Jahr seiner Regierung. Und er brachte von dort alle Schätze des Hauses des HERRN und die Schätze des Königshauses heraus, und er zerschlug alle goldenen Geräte die Salomo, der König von Israel, im Tempel des HERRN gemacht hatte – so wie der HERR geredet hatte. Und er führte ganz Jerusalem weg, und alle Obersten und alle kriegstüchtigen Männer, 10 000 Gefangene, und alle Handwerker und Schlosser; nichts blieb übrig als nur das geringe Volk des Landes. Und er führte Jojakin weg nach Babel.“ (2. Kön 24,10–15). Später erlöste Ewil-Merodak, der Sohn und Nachfolger Nebukadnezars in dem Jahr, in dem er zu regieren begann, Jojakin aus dem Gefängnis, setzte seinen Sitz über den Sitz der Könige, die bei ihm in Babel waren, und versorgte ihn an seinem Hof bis an sein Lebensende (2. Kön 25,27–30).

Nachdem Jojakin gefangen weggeführt war, machte Nebukadnezar dessen Onkel Zedekia zum König und ließ ihn „bei Gott schwören“, ihm treu zu bleiben. Aber Zedekia entheiligte den Namen des HERRN, indem er seinen Eid brach und sich gegen den König von Babel empörte. Dieser zog mit seinem ganzen Heer nach Jerusalem und nahm die Stadt ein nach einer zweijährigen, schrecklichen Belagerung, die eine schwere Hungersnot über die Bewohner brachte. Zedekia wurde gefangen genommen. Seine Söhne schlachtete man vor seinen Augen. Er selbst wurde, nachdem ihm die Augen geblendet waren, mit ehernen Ketten gefesselt nach Babel gebracht. Priester, Hüter des Tempels und Kriegsleute wurden erschlagen. Der Tempel, der Palast des Königs und alle Häuser Jerusalems fielen der Zerstörung anheim, die Stadtmauern wurden niedergerissen. Man führte alles Gold, Silber und Erz des Hauses des HERRN fort. „Den Rest des Volkes, die in der Stadt Übriggebliebenen, und die Überläufer, die zum König von Babel übergelaufen waren, und den Rest der Menge führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg. Aber von den Geringen des Landes ließ der Oberste der Leibwache zurück als Weingärtner und als Ackerbauern“ (2. Kön 25,11.12).

Aus den biblischen Erzählungen, wie wir sie soeben angeführt haben, geht hervor, dass die Wegführung nach Babel zu drei verschiedenen Zeitpunkten stattgefunden hat: die erste im Anfang der Regierung Jojakims, die zweite während der kurzen Regierungszeit Jojakins (oder Jekonjas), die dritte im elften Jahr Zedekias. Die beiden letzten waren die schlimmsten, aber von der ersten zählen die 70 Jahre der Gefangenschaft, welche durch den Propheten Jeremia vorausgesagt waren (2. Chr 36,21; Dan 9,12; Jer 25,1.11.12; 29,10; an der letzten Stelle heißt es: „wenn 70 Jahre für Babel voll sind“, d.h. vom ersten Jahr Nebukadnezars an gerechnet, vgl. Jer 25,1).

Die erste Wegführung trug einen besonderen Charakter, nicht (wie die zweite und dritte) infolge der Verwüstungen und der großen Zahl der Weggeführten, sondern durch die Plünderung des Tempels des HERRN, durch die die kostbaren Geräte, die beim Gottesdienst benutzt wurden, geraubt wurden (Dan 1,1.2; Esra 1,7; 2. Chr 36,7). Bei der Wiederherstellung Judas wurden ihm all diese Gegenstände, 5400 an der Zahl, zurückgegeben (Esra 1,9–11), und gerade dies war das am meisten hervorstechende Kennzeichen dieses Auszugs, der die Überreste des Volkes wieder in ihr Land zurückbringen sollte. Der Anfang jener 70 Jahre wird in besonderer Weise dadurch charakterisiert, dass die Herrlichkeit des Tempels, die Herrlichkeit des Gottesdienstes des HERRN selbst, in die Gefangenschaft geführt wurde. Nicht viele Jahre später (Jojakin befand sich bereits als Gefangener in Babylon) sieht Hesekiel die Herrlichkeit Gottes gleichsam mit Widerstreben das Haus verlassen, in dem Gott für immer hatte wohnen wollen, und noch einige Jahre nach diesem Ereignis wurde der seiner letzten Schmuckgegenstände beraubte Tempel verbrannt und in einen Schutthaufen verwandelt.

Von jenem ersten Zeitpunkt an zählt also die Gefangenschaft. Gott war durch den Götzendienst des Volkes und seiner Könige verunehrt worden. Lag ein großer Unterschied darin, ob die kostbaren Geräte in seinem Tempel blieben, oder in dem Baaltempel zu Babel aufgestellt wurden? Und gerade diese Tatsache bestimmt wesentlich den Charakter des Beginns der Gefangenschaft. Nie vorher war etwas Ähnliches geschehen. Bei der Empörung gegen Sanherib hatte Hiskia zwar alles Silber, das sich im Tempel vorfand, jenem gegeben, ja, er hatte, um den Tribut bezahlen zu können, die Türflügel und Pfosten ihres goldenen Überzugs beraubt (2. Kön 18,15.16), aber die gottesdienstlichen Geräte waren in keiner Weise berührt worden. Und später, unter Jojakin, legte Nebukadnezar seine Hand wohl in viel weitergehendem Maße an alle Schätze des Hauses Gottes als vorher, und zerschlug die Geräte, die Salomo nach dem Befehl des HERRN gemacht hatte, aber eine solche Entheiligung ohne Gleichen, dass man einen Götzentempel mit den Gegenständen des Dienstes des wahren Gottes schmückte, hat nur unter Jojakim stattgefunden. Als der gottlose Belsazar mit seinen Großen, seinen Frauen und Nebenfrauen aus den geheiligten Gefäßen Wein trank zum Preise seiner Götzen, beabsichtigte er dadurch den Triumph der falschen Götter über den wahren Gott zu feiern und sie öffentlich dem HERRN gegenüber zu stellen. In derselben Nach antwortete ihm Gott mit Gericht und Tod. Daniel, der im Beginn der 70 Jahre mit seinen Gefährten von Jerusalem weggeführt worden war, kündigte dieses Gericht an (Dan 5). Im ersten Jahr Darius‘ des Meders erlangte er durch das Lesen des Propheten Jeremia das Verständnis, dass das Ende der Gefangenschaft nahe war. Dann demütigte er sich für das Volk und wurde Zeuge der Wiederherstellung Judas im ersten Jahr des Kores; denn im dritten Jahr dieses Königs war er noch in Babel (Esra 1,1; Dan 10,1).

Fußnoten

  • 1 Vgl. Daniel 1,1; Jeremia 25,1. Im Alten Testament begegnet man häufig dieser Verschiedenheit in der Berechnungsart, indem Teile eines Jahres oft für ein ganzes Jahr gerechnet werden.
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