Der Brief an die Philipper

Einleitung

Der Brief an die Philipper

Der Brief an die Philipper hat ein ganz besonderes Gepräge und unterscheidet sich auf eine merkwürdige Weise von den andern Briefen des Paulus. Selbst der Ton dieses Briefes muss jedem auf fallen, der mit den Briefen von Paulus bekannt ist. Es ist nicht der Apostel oder Lehrer, der in apostolischer Autorität zu der Versammlung kommt, um ihr den Weg der Seligkeit zu erklären, sondern der Vater, der seine geliebten Kinder in Christus auf höchst vertrauliche Art anredet und ihnen die Erfahrungen mitteilt, die er in seinem Christenleben gemacht hat. Wir finden hier nicht die Darlegung von Hauptwahrheiten des Christentums, wie im Brief an die Römer; keine Gebote des Herrn in Bezug auf die Ordnung und Einrichtung der Versammlung, wie im ersten Brief an die Korinther; nicht die Erklärung der himmlischen Stellung und Berufung der Gemeinde oder ihrer geistlichen Segnungen im Himmel in Christus, wie im Brief an die Epheser, auch keine Verteidigung der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben gegenüber den gesetzlich gesinnten Lehrern, wie im Brief an die Galater. Von dem allem ist in diesem Brief nicht die Rede. Wohl strahlen auch diese Wahrheiten hindurch, aber wir finden da weder deren Erörterung noch ihre Auslegung. Paulus schreibt hier wie ein Vater an seine Kinder und nicht wie ein Lehrer an die Gemeinde. Er schüttet sein Herz vor den Philippern aus und lässt sie einen Blick tun in die Anfänge und Beweggründe seines Christenlebens, wie auch auf dessen Ausgang und Ziel. Er stellt den Philippern seinen Wandel als Christ vor die Augen. Christus war für ihn alles geworden. Christus war ihm so teuer, so schön, so herrlich, dass er für Ihn alles hatte fahren lassen, worauf er nach dem Fleisch stolz sein konnte. Christus zu gewinnen, Ihn anzuschauen und völlig zu besitzen war jetzt sein Ziel. Darum wünschte er während seines Lebens Ihm in allem gleichförmig zu sein und er hatte es darin so weit gebracht, dass er der Versammlung sagen konnte: „Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich des Christus“ (1. Kor 11,1 vergl. Phil 3,17). Die Bestätigung hierfür werden wir bei der Betrachtung dieses Briefes wiederholt finden.

Lasst uns beachten, dass alle Briefe und alle Bücher der Bibel durch den Heiligen Geist eingegeben und somit der Ausdruck der Gedanken Gottes in Bezug auf den einen oder andern Gegenstand sind. Dann wird uns klar, dass uns die Mitteilungen der Erfahrungen des Paulus und das Vorbild seines Wandels als Christ und als Arbeiter des Herrn unter der Leitung des Heiligen Geistes gegeben sind, um uns zu einem heiligen Wandel anzuspornen. Nicht in einer Reihe von Ermahnungen und Geboten, sondern im Wandel und in den Erfahrungen einer lebenden Person wird uns gezeigt, wie ein wahrer Christ wandelt. Das ist für uns von größtem Gewicht. Beim Lesen der Ermahnungen des Herrn kann indes leicht der Gedanke in uns aufkommen, dass es uns unmöglich sei, sie zu befolgen; doch hier wird uns in Paulus das Vorbild eines Wandels in der Nachfolge des Herrn Jesus gegeben. In ihm sehen wir die Möglichkeit eines heiligen Wandels sowie das Eintreten in die Fußstapfen des Christus, und zwar nicht nur in äußern Taten, sondern auch in den inneren Regungen des Herzens. Das wirkt noch überzeugender, wenn wir bedenken, dass Paulus ein Mensch war wie wir, ein Mann mit denselben menschlichen Schwachheiten, und somit ein Mensch, der, wie er selber in diesem Brief sagt, gelernt hat so zu wandeln, wie er gewandelt ist. Die etwaige Bemerkung, dass es für uns schwache, gebrechliche Menschen nicht möglich sei, in der Nachfolge Jesu zu wandeln, verliert hierdurch gänzlich ihre Berechtigung. Gott hat uns in Seiner großen Weisheit, und, wie wir wohl beifügen können, in Seiner großen Güte, außer dem Vorbild Jesu, des vollkommenen Heiligen, auch das Vorbild von Paulus gegeben, eines Menschen gleicher Art wie wir. Es sollten nicht nur unsere Entschuldigungen dahinfallen, sondern Gott wollte uns zugleich erkennen lassen, dass Seine Gnade imstande ist, einen Feind des Christus, wie Paulus es war, so zu verändern, dass er bis in die kleinsten Einzelheiten hinein ein Nachfolger des Christus wurde. Der Unterschied zwischen Christus und Paulus in dieser Hinsicht besteht darin, dass Christus in sich selber vollkommen war und dadurch in aller Heiligkeit wandelte; während Paulus in sich selber schwach, ja, kraftlos war und durch die Kraft Gottes erst in den Stand gesetzt werden musste, ein Nachfolger des Christus zu sein. Doch gerade darum ist das Vorbild des Paulus für uns so wertvoll. Wir sehen in ihm einen Menschen, der Natur nach in nichts verschieden von einem jeden unter uns, der jedoch in vorbildlicher Treue dem Herrn Jesus nachfolgte. Gottes Gnade hat ihn das gelehrt. Daraus lernen wir, was die Gnade imstande ist. Und dieselbe Gnade steht auch uns zur Verfügung, dieselbe Kraft will auch in unserer Schwachheit wirken. Paulus wusste das. Darum rief er den Philippern und ruft er auch uns zu: „Seid zusammen meine Nachahmer, Brüder, und seht hin auf die, welche also wandeln, wie ihr uns zum Vorbilde habt“ (Phil 3,17).

Der Zweck des Heiligen Geistes im Brief an die Philipper ist, uns die Erfahrung des christlichen Lebens in der erhabensten und vollkommensten Weise darzustellen. Zudem finden wir hier die Hilfsmittel angegeben, die den Christen zu Gebote stehen, dieses Leben zu führen, und die Beweggründe, die ihn in seiner Laufbahn leiten sollen.

Die Gelegenheit hierzu bot sich von selbst. Paulus befand sich im Gefängnis zu Rom. Er war aus seiner Wirksamkeit am Evangelium herausgerissen, von der geliebten Versammlung, die er gegründet hatte, getrennt, und überdies aller Art Leiden, Schmach und Hohn preisgegeben. Die Philipper, die Paulus so teuer waren und die ihm bereits zu Beginn seiner Arbeit ihre Liebe erzeigt hatten, indem sie ihm mit ihren Gütern dienten, hatten ihm durch Epaphroditus aufs Neue etwas für seine Notdurft gesandt; und das in einer Lage, da sich der Apostel, wie es uns scheint, tatsächlich in Not befand. Fürwahr, das waren Umstände, dazu angetan, das Herz des Apostels aufzutun und seinen Kindern im Glauben aus der Fülle seines Herzens heraus zu schreiben. Sie hatten ihn schon geraume Zeit entbehren müssen, aber sie hatten ihn nicht vergessen, o nein! Sie hingen mit inniger Liebe an Paulus, und sie gedachten seiner in der Drangsal in Rom. Und Paulus hing mit inniger Liebe an seinen Philippern. Da er von ihnen entfernt war und somit nicht für sie sorgen konnte, hatte er das Bedürfnis, sie auf die treue Fürsorge Gottes für alle die Seinen hinzuweisen und sie zu ermuntern, auf diesen Gott allein ihr völliges Vertrauen zu setzen. Auch dies ist nicht ohne Bedeutung für uns. Wiewohl Paulus noch lebte, war er doch wegen seiner Gefangenschaft außerstande, über die Versammlungen zu wachen, und die Gemeinde war seiner apostolischen Wirksamkeit und Aufsicht beraubt. In der gleichen Lage befinden sich jetzt die Gläubigen. Es gibt keine apostolische Aufsicht und Wirksamkeit mehr. Und an wen werden unter diesen Umständen die Gläubigen gewiesen? Sind neue Apostel verheißen? Werden andere Personen angegeben, um für die Gemeinde zu sorgen? Nein! Paulus vertraut die Versammlung Gott an, Der, wo irgend Sein Diener hinkomme, allezeit bleibt und unabhängig von menschlichem Wirken die Gemeinde zu segnen vermag. Welch ein Trost für uns! Gott ist immer derselbe. Seine Liebe ist ewig. Er sorgt für die Seinen. Er kennt alle ihre Nöte und Bedürfnisse und will ihnen gnädig begegnen. O, möchten wir stets auf Ihn vertrauen, und, während wir die Folgen der Untreue der Gemeinde und ihren Verfall erleben, uns festhalten an Gott, der über die Umstände erhaben ist und all die Seinen nach der Vollkommenheit Seiner Liebe segnet.

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