Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...
Hilfe für misshandelte Kinderseelen

Signale bei Kindern erkennen

Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...

Wir können unseren Kindern keinen vollkommenen Schutz bieten. Manchmal lässt Gott zu, dass Kinder in die Not von Kindesmissbrauch kommen. Wohl uns, wenn wir eine Antenne für Veränderungen im Leben unserer Kinder haben.

Wir sollten daher sensibel sein, wenn sich das Wesen unserer Kinder plötzlich verändert. Wir müssen uns nicht wundern, wenn sich Kinder in der Phase der Pubertät ändern. Aber unsere Alarmglocken sollten doch läuten, wenn Kinder plötzlich furchtsam und ängstlich werden. Wenn sie auf einmal kein Vertrauen mehr zu uns haben. Wenn sie plötzlich und ungewohnt und deutlich häufiger als früher weinen. Wenn sie gelegentlich verstört wirken. Wenn sie auf einmal immer mal wieder einfach „weg“ sind.

Solche Verhaltensänderungen sollten bei uns sofort Fragen wachrufen. Sie sollten uns nicht ruhig schlafen lassen. Weiter oben habe ich schon darauf verwiesen, dass Kinder fünf- oder sechsmal von sich aus Warnsignale abgeben. Es wäre tragisch, wenn wir später erkennen müssten, dass sie das getan haben, dass wir aber kein Ohr dafür hatten.

Daher empfehle ich, dass man sich über das Thema Kindesmissbrauch auch in der Familie einmal unterhält, damit Kinder wissen, dass man über dieses Thema Bescheid weiß. So können sie sich in einer Notsituation wirklich an ihre Eltern wenden.

Richtig zuhören und bewerten

Dann kommt es darauf an, dass wir ihnen wirklich Gehör schenken und nicht über diese Mitteilungen hinweggehen: „Das kann gar nicht sein, das ist doch dein dich liebender Vater!“ Nein – wir müssen diese Dinge ernst nehmen. Bevor wir mit dem betroffenen Täter reden, sollten wir versuchen, die Dinge klarer zu sehen, damit wir nicht sogleich von seiner überzeugenden Abwehr überredet werden, die Dinge im Sand verlaufen zu lassen. Sinnvoll ist es hier auch, einen Fachmann, zumindest einen Mediziner zu Rate zu ziehen.

An dieser Stelle komme ich darauf zurück, dass solche Dinge auch unter Gläubigen vorkommen, nicht nur durch Täter, die jemanden in ihr Auto zerren oder per Internet an die Angel zu holen suchen. Leider kommen solche schlimmen Dinge auch inmitten christlicher Versammlungen (Gemeinden) vor.

Viele haben keine Vorstellungen, wie tragisch schon ein vermeintlich „leichter Fall“ von pädosexuellen Handlungen ist. „Nur“ das Hineingreifen in den „Ausschnitt“ eines Mädchens, das in der Pubertät (oder danach) steckt, führt oft zu schrecklichen Träumen, zu einer Traumatisierung, zu Angstzuständen und schlimmen Folgen.

Wir wollen lernen, wieder neu hinzuhören, auch wenn entsprechende Hilferufe an unser Ohr dringen und auch Jugendliche ihr Verhalten plötzlich ändern, so dass wir uns wundern.

Beispiele von Signalen

Man kann beim Thema Kindesmissbrauch kein Schema F verfolgen. Jedes Kind wird unterschiedlich auf den erfahrenen Kindesmissbrauch reagieren. Dennoch gibt es Hinweise, denen man auf jeden Fall nachgehen sollte.

  • Die erste Alarmlampe sollte angehen, wenn ein Kind auf einmal anfängt, über Kindesmissbrauch (mit welchen Worten auch immer) zu sprechen.
  • Gleiches gilt, wenn auf einmal das Thema Sexualität oder sogar sexuelle Methoden angesprochen werden, obwohl das für das Alter des Kindes vollkommen unangemessen ist.
  • Ein dritter, möglicher Hinweis auf ein solches Problem könnte dann vorliegen, wenn sich plötzlich Schulnoten dramatisch verschlechtern.
  • Selbst eine plötzliche deutliche Verbesserung – wenn auch spürbar seltener – könnte mit Kindesmissbrauch zusammenhängen, weil das Kind sein „Geheimnis“ hinter einem neuen Perfektionismus zu verbergen sucht.
  • Wenn sich ein Kind plötzlich sozial vollkommen unerwartet verhält, indem es eine bestimmte Person grundsätzlich ablehnt oder höchst ungewöhnlich auf bestimmte körperliche Annäherungen reagiert, sollten wir nachhaken.
  • Manche werden auch plötzlich sehr anhänglich, andere wollen unter keinen Umständen mehr alleine sein.
  • Außergewöhnliches Schamverhalten oder das bewusste Ablehnen von mehrtägigen Besuchen bei Bekannten/Freunden – das Kind könnte meinen, dass andere beim Umziehen etc. körperliche Anzeichen von Kindesmissbrauch sehen könnten – sollten uns auch wach machen.
  • Wenn Kinder sich plötzlich isolieren oder auf einmal sehr allergisch oder von heute auf morgen extrem anhänglich auf das andere Geschlecht reagieren, sollten wir auch hellhörig werden.
  • Natürlich kann es auch körperliche Anzeichen im Bereich der Geschlechtsorgane oder indirekte Folgen wie plötzlich ständige Kopfschmerzen etc. geben.
  • Selbstzerstörung oder plötzliche Angstzustände gehören auch dazu. Alles, was sich von heute auf morgen ändert oder verhaltensauffällig ist, sollte uns zum Nachdenken und Nachfragen bringen.
  • Auf der anderen Seite gibt es auch Prozesse, die nicht von heute auf morgen zu beobachten sind, sondern die schleichend vonstatten gehen. Das Sozialverhalten unterliegt nicht ausschließlich plötzlichen Schocks, sondern kann nach und nach vor sich gehen.

Die Ausreden der Täter

Das Perverse an den Tätern ist, dass sie es immer wieder verstehen, vorsichtige Nachfragen nach dem Missbrauch scheinbar glaubwürdig zu beantworten. Wenn jemand zur Rede gestellt wird wegen der Aussagen eines missbrauchten Kindes, lautet oft die Antwort (sinngemäß): Das muss das Kind in der Schule im Rahmen von Aufklärungsunterricht aufgeschnappt haben.

Selbst die Polizei kommt oft zu spät, jedenfalls, wenn ein Besuch angekündigt wird und dann alles belastende Material für Pornos versteckt werden kann.

Konkrete Schritte gehen

Was machen wir, wenn wir mitbekommen, dass jemand sexuell missbraucht worden ist? Vor allem sollten wir nicht kopflos werden. Ich habe schon gesagt, dass man nicht als erstes den potenziellen Täter anspricht, sondern sich weiter über Einzelheiten vergewissern sollte.

  • Man zieht einen Fachmann, zum Beispiel einen Arzt zu Rate.
  • Dann wird man auch einen christlichen Seelsorger einschalten, der möglichst schon mit Opfern sexuellen Missbrauchs zu tun hatte und weiß, wie man ihnen helfen kann.
  • Ein weiterer Schritt ist, sich über das Thema kundig zu machen. Dazu gehört auch, dass man sich mit den Folgen von Missbrauch beschäftigt.

Beispiele von Folgen

Wir hatten schon beim Thema „Signale erkennen“ eine Reihe von Folgen von Kindesmissbrauch gesehen. Hier noch einmal ein Hinweis auf die Dimension, mit der wir es bei diesem Thema zu tun haben.

  • Es gibt körperliche Verletzungen und Krankheiten, welche die Folge von Kindesmissbrauch sind.
  • Es kann sogar dazu kommen, dass ein minderjähriges Kind auf einmal schwanger geworden ist. In diesem Fall ist eine außerordentlich einfühlsame Betreuung nötig, die das Wohl des Kindes nicht unberücksichtigt lässt.
  • Schuldgefühle können missbrauchte Kinder ein Leben lang begleiten.
  • Dass das Kind eine total unnatürliche Scham an den Tag legen wird, liegt auf der Hand.
  • Oft ist ein solches Opfer bis viele Jahre in die Ehe hinein nicht in der Lage, körperliche Nähe zu ertragen oder Gefühle in diesem Bereich auszudrücken. Für den Ehepartner ist das eine gewaltige und wichtige Herausforderung.
  • Opfer fühlen sich oft über Jahre hilflos und haben ein außerordentlich geringes Selbstwertgefühl, da sie sich selbst die Schuld geben und sich wertmäßig wie ein Tier fühlen.

Persönliche Trauerphasen als Reaktionen

Wie immer gibt es kein Schema F, das bei bestimmten gravierenden Eingriffen in die Persönlichkeit eines jungen (oder älteren) Menschen angewandt werden kann. Und doch gibt es typische Phasen, die ein missbrauchtes Kind durchläuft.

  • Das beginnt damit, dass das Opfer wirklich weint und traurig ist. Man kann gar nicht fassen, dass einem Leid angetan wird.
  • Danach will man das nicht wahrhaben und versucht, diese Dinge auszuschalten in seinem Gedächtnis. Man leugnet vor sich selbst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Man definiert die Dinge um und versucht sie, irgendwie zu erklären. Danach wird man zornig über das, was jemand einem angetan hat und antut.
  • Der Zorn richtet sich
    • nicht nur gegen den Täter, sondern auch
    • manchmal gegen den Ehepartner des Täters,
    • manchmal gegen Gott,
    • manchmal gegen Gegenstände, die als „Zuckerbrot“ vom Täter benutzt werden,
    • manchmal gegen Räume,
    • manchmal gegen Menschen, die man dafür verantwortlich macht, dass sie nicht geholfen haben, obwohl sie nicht einmal etwas dafür können.
    • Nicht selten richtet sich der Zorn des Opfers sogar gegen sich selbst, so dass es sich und seinen Körper zerstört und im Rahmen des Borderline-Syndroms1 einer schweren Persönlichkeitsstörung unterliegt.
  • Oft gibt es nicht nur einen Anlass zu diesem – sehr gut zu verstehenden – Zorn, sondern eine Summe der genannten und noch weiterer Gründe.
  • Danach versucht man, mit Gott ins Gespräch zu kommen – jedenfalls dann, wenn man noch eine Art Glaube an Gott besitzt. Man versucht vielleicht, in Form eines Schwurs oder Gelübdes mit Gott zu handeln. „Wenn du das tust, wenn du mir hilfst, … dann tu ich das.“
  • Im Anschluss daran kommt eine zweite direkte Trauerphase, die oft von Depressionen und einer kompletten inneren Isolierung gekennzeichnet ist. Man versucht alles von sich zu schieben und zugleich dreht sich doch alles um einen selbst.

Trauer zulassen

Es ist ganz wichtig, dass jemand, der sexuell missbraucht worden ist, Trauer in seinem Leben zulässt. Ohne diese Trauerphase ist es unmöglich, das Trauma des Missbrauchs zu überwinden.

Dazu ist es notwendig, dass man nicht beschönigt, was mit einem geschehen ist. Es ist furchtbar – und so darf man das ruhig auch bezeichnen. Zur Trauer gehört auch, nicht zuzulassen, selbst die Verantwortung für das geschehene Unrecht auf sich zu nehmen. Ein anderer hat einem die wichtige und schöne Kindheit zerstört. Das kann man auch ruhig aussprechen.

Man darf darüber weinen und das Leid auch beklagen. Aber man hat jemand, dem man diese Bedrängnis und Not klagen kann: Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus. Er hört zu jeder Zeit, egal ob man nachts oder tagsüber ruft.

Es ist wahr, Gott hat nicht eingegriffen. Aber trotzdem sollte man sich dadurch nicht verführen lassen, Gott die Schuld für das tragische Erleben zu geben. Es gibt Schuldige – die darf und soll man ruhig mit Namen nennen.

Ein Opfer muss akzeptieren, dass es eine längere Zeit dauert, bis man dieses Trauma überwunden hat. Das lässt sich nicht vermeiden und ist in diesem Fall auch nicht verwerflich. Man sollte sich bewusst sein, dass man andere nötig hat, um das Ganze zu verarbeiten. Es darf auch längere Zeit dauern, bis du dich wieder als ein ganzer Mensch fühlst. Teile diese Trauer mit anderen, das wird dir helfen und Mitbeter schaffen. Wir Christen haben gerade dieses vorrecht, nicht allein mit unserem Leid umgehen zu müssen.

Als Opfer wird man erlebt haben oder noch erleben, dass man über Monate, manchmal auch über Jahre und Jahrzehnte mit Träumen zu tun hat. Das hängt einfach damit zusammen, dass man diese traumatischen Erfahrungen im Unterbewusstsein gespeichert hat. Selbst wenn man diese Erlebnisse so verdrängt hat, dass man sich nicht mehr an sie erinnern kann, arbeiten sie im Inneren zum Teil unbewusst weiter. Nicht, dass man notwendigerweise Träume hat, in denen man selbst missbraucht wird. Aber Gewalt, Unterdrückung und sexuelle Gewalteinwirkungen spielen dann oft eine Rolle.

Das Vorkommen solcher Träume ist einer der vielen Hinweise, dass es wichtig ist, mit Hilfe einer passenden Seelsorge dieses Trauma zu verarbeiten. Opfer werden erleben, dass durch eine gute Seelsorge die Häufigkeit von Träumen über solch furchtbare Dinge abnehmen werden. Manchmal hören sie dann ganz auf; in jedem Fall werden sie deutlich an Zahl abnehmen. Manchmal bringt man bestimmte Träume auch gar nicht mit einem solchen, erlebten Leid in Verbindung. Erst sehr spät erkennt man, dass die Ursache der Träume ein erlebter Missbrauch war – oft durch die Hilfe von Gesprächen mit Christen, die ein großes Einfühlungsvermögen haben und die irgendwie spüren, dass hier etwas sehr Trauriges im Innern schlummert.

Aber genauso wenig, wie bei jedem Opfer Träume vorkommen, kann man aus dem Vorhandensein solcher Träume automatisch schließen, dass Missbrauch vorliegt. Dazu ist unser menschliches Wesen zu komplex.

Eine neue Selbstannahme

Nur mithilfe Gottes und der Bibel wird man letztlich in der Lage sein, sexuellen Missbrauch zu verarbeiten. Nahezu immer wird man auch einen kompetenten Seelsorger und, je nach Schwere der psychosomatischen Folgen, einen professionellen Therapeuten einbeziehen, der allerdings sorgsam ausgesucht werden muss. Einen Fach-Therapeuten benötigt man beispielsweise, wenn der Missbrauch zu Persönlichkeitsstörungen wie dem Borderline-Syndrom geführt hat.

Der christliche Seelsorger sollte die Arbeit des Therapeuten dann eng begleiten. Diese Betreuung hat das Ziel, dass das Opfer am Ende die Dinge mit den Augen Gottes betrachten kann und in der Lage ist, sich wieder neu anzunehmen. Das ist natürlich leichter geschrieben als erlebt, besonders dann, wenn man selbst kein Betroffener ist. Aber es ist möglich, das zeigen eine Reihe von Fällen (siehe auch die Antworten von Betroffenen am Ende des Buches). Dieser Prozess kann manchmal in wenigen Monaten abgeschlossen sein, manchmal dauert er auch Jahre.

Letztlich wird jeder Betroffene in mehr oder weniger langer Dauer durch die verschiedenen Phasen hindurchgehen müssen. Aber alles dauert seine Zeit. Das aber ist in einer Hinsicht sogar eine Hilfe für die Opfer. Denn Gott gibt diesem die nötige Zeit, um die furchtbaren Erlebnisse überhaupt verarbeiten zu können. Man muss der Zeit eine Chance geben, Wunden zu heilen. Es gibt Opfer, die bestätigen, dass nicht an allen Stellen Narben zurückbleiben werden – ich meine seelische Narben. Es ist ein Wunder Gottes, dass solche Wunden wirklich heilen können: „Der Herr heilt, die zerbrochenen Herzens sind und verbindet ihre Wunden“ (Psalm 147,3).

Wohl uns, wenn Betroffene dann Menschen an ihrer Seite haben, die nicht mit neugierigen Fragen sondern in geistlicher Einfühlsamkeit gute Begleiter und Mitbeter sind.

Einer ist auf jeden Fall da, auch wenn man Ihn in dem erfahrenen Leid oft vermisst hat: Jesus Christus. Er kann mitfühlen, denn Er hat selbst unsagbares Leid vonseiten der Menschen erfahren. Man hat Ihn verraten (wie die Täter und Mitwisser), verleugnet (wie manche Familienangehörige, die es wussten oder zumindest ahnten), an ein Kreuz geschlagen (wie es manche Opfer für sich empfinden) und auch dann noch aufs Schändlichste verhöhnt (was die Erfahrung vieler Opfer ist). Und musste nicht auch Er einen ekelhaften Kuss vonseiten seines Genossen und Jüngers, Judas Iskariot, annehmen? „In all ihrer Bedrängnis war er bedrängt, und der Engel seines Angesichts hat sie gerettet. In seiner Liebe und in seiner Erbarmung hat er sie erlöst; und er hob sie empor und trug sie alle Tage der Urzeit“ (Jesaja 63,9).

Fußnoten

  • 1 Das Wort „Borderline“ bedeutet auf deutsch „Grenzlinie“. Dieser Begriff wurde gewählt, weil die darunter zusammengefassten Verhaltensstö-rungen dem Grenzbereich neurotischer und psychotischer Störungen zu-zuordnen sind. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung – auch emotio-nal instabile Persönlichkeitsstörung genannt – geht es um eine Persönlich-keitsstörung im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen, Stimmungen und des Selbstbilds. Typische Merkmale sind unter anderem ein extremes Verhalten beim Essen (zu viel, zu wenig wie bei Magersucht und Bulimie), im Ausleben der Sexualität, Tabletten, Autofahren) sowie suizidales Verhalten in Verbindung mit Selbstmorddrohungen und Selbstverletzun-gen. Es gibt eine weit darüber hinausgehende Liste an Verhaltensmerkma-len, die man einschlägigen Quellen entnehmen kann.
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