Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 21

Jesus ging dann zum Ölberg. Die Juden wußten recht gut, was über diesen Berg prophezeit war. Sie hätten sich eigentlich bewußt sein sollen, was der Herr damit tat.

Die Sendung nach dem Eselsfüllen geschieht von seiten des Herrn als Jehova, Der auf alles einen Anspruch erheben konnte. „Der Herr [Jehova] bedarf ihrer.“ (Kap. 21, 3). Was könnte vollkommener sein als Seine Kenntnis von Umständen, die noch im Schoß der Zukunft ruhten? Wie offensichtlich beherrscht Er die Gedanken und Gefühle des Besitzers! So sanftmütig Er auch war, indem der König Zions nach der Vorhersage des Propheten auf einem Eselsfüllen saß, so war Er doch genauso wirklich und wahrhaftig Jehova wie der Messias, Der im Namen Jehovas kam. Die Tatsache, daß Er etwas bedurfte, war ebenso erstaunlich wie die Herrlichkeit Seiner Person. Doch der Herr zog weiter nach Jerusalem; und die Volksmenge rief: „Hosanna dem Sohn Davids!... Siehe, dein König kommt.“ (V. 9. 5). Sie wandten Psalm 118 auf den Messias an; und das war richtig. Diese Menschen mochten wenig Erkenntnis haben; und vielleicht stimmten viele von ihnen später in den furchtbaren Ruf ein: „Sein Blut komme über uns!“ (Matthäus 27, 25). Doch hier beherrschte der Herr die Szene. Er kam zur Stadt; aber sie erkannten ihn nicht. Seinen eigenen Bürgern war er unbekannt. Sie fragten: „Wer ist dieser?“ (V.10). So wenig Verständnis hatte die Volksmenge, welche gerade gerufen hatte: „Hosanna dem Sohn Davids!“, daß sie jetzt antworteten: „Dieser ist Jesus, der Prophet, der von Nazareth in Galiläa.“ (V. 11).

Obwohl sie in Ihm nur den Jesus von Galiläa sahen, zeigte Er sich als der König und nahm die Stellung der Autorität und Macht ein. Er ging in den Tempel und warf die Tische der Geldwechsler usw. um. Das mochte ihnen gewiß als ein wundersames Ereignis erscheinen; denn es war erstaunlich, daß Er, den sie nur als den Propheten von Nazareth kannten, so kühn in den Tempel trat und alle hinaustrieb, die ihn entweihten. Aber dennoch fielen sie nicht über Ihn her. Die Gewalt des Gottes des Tempels war anwesend, und sie flohen. Ihre Gewissen gaben zweifellos ein Echo zu den Worten des Herrn, die besagten, daß sie Gottes Haus zu einer Räuberhöhle gemacht hatten. Wir sehen hier also nicht nur das Zeugnis der Volksmenge bezüglich des Königtums Jesu, sondern auch die Antwort darauf in Seinem Tun. Er handelte, als hätte Er gesagt: „Ihr habt mich als König willkommen geheißen, darum will ich euch zeigen, daß Ich es bin.“ So nahm Er für eine kurze Zeit sozusagen Seine spätere Herrschaft in Gerechtigkeit vorweg und reinigte den verunreinigten Tempel. In was für einen Zustand waren die Juden gefallen! Jesus gab ihnen ein klares Zeugnis davon, was Er von ihnen hielt; denn welches Urteil konnte ernster sein als die Worte: „Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“ (V. 13).

Es gab zwei Reinigungen. Die eine geschah vor Seinem öffentlichen Dienst; die andere an seinem Ende. Johannes 2 berichtet die erste, Matthäus die letzte. In unserem Evangelium geschah sie als eine Handlung der messianischen Macht, indem Er Sein eigenes Haus reinigte (oder zumindest als Sein König für Gott handelte). Im Johannesevangelium ist es vielmehr der Eifer für die verletzte Ehre des Hauses Seines Vaters. „Machet nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhaus“ (Johannes 2, 16). Ein zusätzlicher Grund, warum Johannes am Anfang seines Evangeliums von der ersten Reinigung berichtet, besteht darin, daß er von vornherein die Verwerfung Israels voraussetzt. Demnach war die Verwerfung Israels durch Christus, wie sie sich in diesem Akt zeigt, die unausweichliche Folge Seiner Verwerfung durch das Volk. Von diesem Standpunkt aus beginnt Johannes seinen Bericht, indem er die Taten des Herrn vor Seinem öffentlichen Dienst schildert.

Danach kamen die Lahmen und Blinden zu Ihm, um geheilt zu werden. Er heilte ihre Krankheiten und vergab ihre Ungerechtigkeiten (Psalm 103, 3). Beide Menschengruppen waren Davids Seele verhaßt – eine Folge des Spottes gegen ihn (2. Samuel 5, 6 ff.). Wie gesegnet der Unterschied zum Sohn Davids! Er trieb die selbstsüchtigen Religionisten aus dem Tempel und empfing dort die Armen, Blinden und Lahmen und machte sie gesund. Welch vollkommene Gerechtigkeit, welch beispiellose Gnade!

Auf der einen Seite hören wir die Stimmen der Kinder, welche „Hosanna“ riefen und Ihn als König, den Sohn Davids, priesen. Auf der anderen sehen wir den Herrn, wie Er als König handelte und jene Taten ausführte, von denen die Juden sehr gut wußten, daß sie über ihren König vorhergesagt waren. Er wurde als König ausgerufen – jedoch nicht von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, die daran Anstoß nahmen und Ihn vorsätzlich und bewußt ablehnten. „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche“ (Lukas 19, 14). Es ist daher ganz natürlich, daß sie den Mund der Kinder stopfen wollten und Jesus aufforderten, ihnen zu wehren. „Hörst du, was diese sagen?“ (V. 16). Der Herr billiget jedoch ihren Lobpreis. „Habt ihr nie gelesen: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet“?“ Die Kraft Jehovas war da und auch Münder, um dies anzuerkennen, wenn auch nur bei Unmündigen und Säuglingen. Das war eine wunderbare Szene. Der Herr zitierte hier aus Psalm 8, wo Er als Sohn des Menschen gesehen wird, nachdem Er in den Psalmen 2 und folgenden als Sohn Davids verworfen worden war. In Psalm 8 sehen wir die Leiden und die Erhöhung des Sohnes des Menschen. Herodes und Pontius Pilatus, die Nationen und Israel hatten sich versammelt, um die schlimmste Tat auszuführen (vergl. Apostelgeschichte 4, 27). Wenn Er als Messias abgelehnt wird, nimmt Er die höhere Stellung als Sohn des Menschen ein, und zwar zunächst in Seiner Erniedrigung und danach in Seiner Herrlichkeit. Die Blinden (zu Jericho) anerkannten Ihn unter dem ersten Titel, die Säuglinge hier unter dem zweiten und höheren. Was hat Gott alles bewirkt!

Der Herr verließ sie. Was für eine vielsagende und ernste Handlung! Sie verwarfen Ihn, und Er verließ sie, indem Er der geliebten Stadt Seinen Rücken zuwandte.

In Hinsicht auf den Feigenbaum sagt Markus 11, daß es „nicht die Zeit der Feigen“ war. Das hat viele Leser verwirrt, indem sie dachten, daß der Herr zu einer Zeit Feigen suchte, als dort gar keine sein konnten. Die Worte besagen einfach, daß die Erntezeit für Feigen noch nicht gekommen war. Folglich hätte der Herr an ihm Früchte finden müssen, wenn er überhaupt welche getragen hätte; denn die Zeit der Ernte – die Zeit der Feigen – war noch nicht da. Der Baum hätte Früchte tragen müssen; doch man sah nichts davon, sondern nur Blätter, ein Bild des äußerlichen Bekenntnisses. Er war durch und durch unfruchtbar. Der Herr sprach über ihn einen Fluch aus; und in kurzer Zeit verdorrte der Baum. Wenn wir zum Vergleich Markus 11, 12 heranziehen, erkennen wir, wie Matthäus den Zeitaspekt unberücksichtig läßt. Denn die Ereignisse um den Feigenbaum fanden an zwei Tagen statt, welche er ohne Unterschied in eins zusammenfaßt. Das Gerichtsurteil über den Feigenbaum war symbolisch ein Fluch über das Volk der Juden, da dieser den Nationalbaum Israels darstellt. Der Herr fand nichts als Blätter; und Sein Wort lautete, daß hinfort keine Frucht mehr auf diesem Baum wachsen sollte. Die Nation hatte keine Frucht für Gott gebracht, obwohl alle Mittel und Gelegenheiten vorhanden waren, Ihn zu verherrlichen und Ihm zu dienen. Jetzt sollten alle ihre Vorzüge weggenommen werden. Von diesem alten Stamm war nichts mehr zu erwarten. Alle Hoffnungen ruhen auf dem Überrest, der an Christus glaubt. Er ist das in der Bibel häufig erwähnte zukünftige Geschlecht. Die Jünger verwunderten sich. Doch der Herr antwortete ihnen: „Wenn ihr auch zu diesem Berge [der Berg symbolisiert Israels politische Stellung unter den Nationen in seiner Erhöhung über diese] sagen werdet: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen. . .“ (V. 21). Das ist geschehen. Nicht nur brachte Israel keine Frucht für Gott, sondern es ist auch als Nation verschwunden. Es wurde „ins Meer geworfen“ und zerstreut. Dem Anschein nach ist es in der Masse der Völker aufgegangen, von den Nationen niedergetreten und unterdrückt.1

In diesen letzten Wundern und Szenen sehen wir ein bemerkenswertes Zeugnis von der letzten Vorstellung des Herrn an Sein Volk und ein ähnlich treffendes Bild von dem Gericht Gottes an Jerusalem und den Juden wegen ihrer Verwerfung des Messias. Dieser würde nach Daniel 9, 26 weggetan werden und nichts haben. Dafür wird Er bald alle Dinge in viel herrlicherer Weise in Besitz nehmen; und wenn wir mit Ihm leiden, werden wir auch mit Ihm herrschen.

Die Frage nach Seiner Autorität beantwortete unser Herr den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes, indem Er ihre Meinung über die Taufe Johannes des Täufers erfragte. Er erwähnte weder Seine Wunder, noch die Erfüllung der Prophetie, sondern wandte sich an ihr Gewissen. Wie offensichtlich waren die alten Voraussagen in Seiner Person, Seinem Leben und Seinem Dienst erfüllt worden! Wie vollständig das Zeugnis durch von Ihm bewirkte Zeichen und Wunder! Doch alles vergeblich, wie ihre Frage bewies! Dagegen mußte Seine Frage notwendigerweise entweder ihre Unaufrichtigkeit oder ihren Mangel an Kompetenz erweisen. In beiden Fällen – wer waren sie, um über Ihn zu urteilen? Sie dachten wenig daran, daß sie und all die verschiedenen Parteien in Israel, die nacheinander kamen, um den Herrn der Herrlichkeit zu versuchen, in Wirklichkeit nur ihren Abstand und ihre Entfremdung von Gott aufdeckten. So ist es tatsächlich immer. Unsere Urteile über andere Menschen und alle Dinge, vor allem in Hinsicht auf Christus, sind ein unfehlbarer Maßstab für unseren eigenen Zustand. In gleicher Weise werden wir – sei es zum Guten oder zum Schlechten – offenbar in dem, was wir nicht beurteilen wollen.

In diesen Männern (V. 23–27) zeigte sich sofort ein Mangel an Gewissen, der nirgendwo so verhängnisvoll ist wie bei religiösen Führern. „Sie aber überlegten bei sich selbst und sprachen: Wenn wir sagen: vom Himmel, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt? Wenn wir aber sagen: von Menschen – wir fürchten die Volksmenge, denn alle halten Johannes für einen Propheten.“ Gott fehlte in ihren Gedanken; und damit war alles falsch und schlecht. Da, wo Gott nicht vor der Seele steht, wird das Ich zum Götzen. Und was ist verderblicher? Diese Hohenpriester waren im Grunde ihrer Herzen die elenden Sklaven jenes Volkes, über deren Glauben, bzw. Aberglauben, sie herrschten. „Wir fürchten die Volksmenge.“ Wenigstens darin waren sie ehrlich. „Und sie antworteten Jesu und sprachen: Wir wissen es nicht.“ Das war eindeutig falsch und nichts anderes als eine Ausflucht. Jene Männern zogen es vor, mangelnde Beurteilungsfähigkeit in ihrem eigenen Wissensbereich vorzuschützen, anstatt das zuzugeben, was, wie sie wußten, von ihrem Widerstand gegen Gott zeugen mußte. Sie hätten eine Antwort geben können, aber sie wollten nicht, weil sie die Folgen fürchteten. In der Hand Satans bildeten sie die Hauptmacht des Bösen und der Feindschaft gegen das Gute. Ihre persönlichen Interessen standen ständig den wahren Bedürfnissen des Volkes Gottes entgegen.

Nach eigenem Zugeständnis waren sie blinde Leiter. Ihre Blindheit war noch unendlich schlimmer, weil sie durch Beweggründe geleitet wurden, die auf keinem edleren Boden standen als gegenwärtige Vorteile und persönliches Ansehen. Dabei mißachteten sie Gott, geoffenbart im Fleisch, und verwarfen, wie es der Unglaube immer tut, viel größere Reichtümer als alle Schätze Ägyptens. Der Herr lehnte es mit unaussprechlicher Würde ab, solchen Männern Rechenschaft von Seiner Autorität zu geben. Davon hatte Er oft genug Zeugnis abgelegt. Wenn diese Frage immer noch gestellt wurde, bewies sie in sich selbst hinreichend die Nutzlosigkeit einer Antwort. Wie kann man einem Menschen Farben erklären, der nie gesehen hat oder, wenn er es auch könnte, nicht sehen will?

Der Herr geht noch weiter. In dem Gleichnis von den beiden Söhnen (V. 28–32), die im Weinberg arbeiten sollten, überführte Er diese religiösen Führer, daß sie vor Gott böser sind als die verachtetsten Leute im Land. „Wahrlich, ich sage euch, daß die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch im Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht.“ Die Religion derer, die sich in der Welt jener Tage des höchsten Ansehens erfreuten, bestand nur in dem achtbaren Lippenbekenntnis: „Ich gehe, Herr.“ Der Eigenwille war ungebrochen und wurde nicht gerichtet. Dagegen waren die Menschen, die das, was in gesellschaftlicher Hinsicht schicklich war, herausfordernd oder auf andere Art anrüchig befleckten, den aufwühlenden und herzerforschenden Appellen des Johannes zugänglicher gewesen. Ihre offene und zügellose Sünde setzte sie seinem gerechten Tadel aus. Aber gerade sie und nicht die ehrbaren religiösen Eiferer glaubten ihm.

Jene Menschen, die im Fleisch einen schönen Schein aufrecht hielten, waren nicht bereit, den Mantel eines guten Rufs nach außen abzulegen, sodaß ihr gottloser, selbstgefälliger Weg und ihr innerer Charakter offenbar werden konnten. Wie sie den Ratschluß Gottes gegen sich in der Gerichtsandrohung des Johannes verwarfen, so wollten sie auch nicht dem Beispiel der armen, aber jetzt bußfertigen Ausgestoßenen folgen. Sie waren taub gegen den Ruf der Gerechtigkeit; doch sie waren genauso verhärtet gegen die Tätigkeit der Gnade Gottes, auch wenn sie sich nur zu offensichtlich zeigte. „Euch aber, als ihr es saht, gereute es danach nicht, um ihm zu glauben.“ Buße erweckt das Bewußtsein einer Beziehung zu Gott, gegen Den man gesündigt hat. Die Entschlüsse der menschlichen Natur beginnen und enden mit einem „Ich gehe, Herr.“ Allein der Geist Gottes bewirkt die tiefe und überwältigende Überzeugung, daß alles Tun nur böse in den Augen Gottes ist. Er läßt keinen Raum für eine Entschuldigung oder den Wunsch nach ihr. Für eine weltliche Religion ist indessen alles verloren; denn sie widersteht sowohl dem Zeugnis Gottes als auch dem Beweis einer Bekehrung in anderen. Dabei versinkt sie in zunehmender Finsternis und Feindschaft gegen Gott. Der von Gott verordnete Richter der Lebendigen und Toten erklärt diese stolzen, selbstgefälligen Männer für böser als jene, die sie selbst für die Schlimmsten hielten. Sie waren keine Richter mehr; nein, sie wurden selbst gerichtet.

Als nächstes stellt der Herr nicht einfach das Verhalten des Menschen gegen Gott vor, sondern die Handlungsweisen Gottes mit dem Menschen, und zwar in zweifacher Weise. Zuerst sehen wir die menschliche Verantwortlichkeit unter dem Gesetz, im zweiten Fall die Gnade Gottes im Reich der Himmel. Erstere wird im Gleichnis vom Hausherrn vorgestellt, letztere im Gleichnis vom Hochzeitsfest des Königs für seinen Sohn (Matthäus 22, 1–14). Laßt uns nun das erste Gleichnis betrachten!

„Höret ein anderes Gleichnis: Es war ein Hausherr, der einen Weinberg pflanzte und einen Zaun um denselben setzte und eine Kelter in ihm grub und einen Turm baute; und er verdingte ihn an Weingärtner und reiste außer Landes. Als aber die Zeit der Früchte nahte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte zu empfangen.“ (V. 33–34). Dieses Bild gründet sich auf die Darstellung in Jesaja 5 und vervollständigt sie. Es spricht von Gottes sorgsamer Pflege Israels. „Was war noch an meinem Weinberg zu tun, das ich nicht an ihm getan hätte?“ (Jesaja 5, 4). Danach erwartete Er Frucht. Alles war nach Seinen Anweisungen eingerichtet worden. Der Weinberg hatte durch Gottes Güte und Macht unter Mose, Josua, usw. jeden äußeren Vorzug erhalten. Die Abmachungen zwischen Ihm und Seinem Volk waren eindeutig. Er gab überreichen Segen und ausreichenden Schutz und machte in angemessener Weise dem Volk durch die Propheten Seine Rechte geltend. „Und die Weingärtner nahmen seine Knechte, einen schlugen sie, einen anderen töteten sie, einen anderen steinigten sie.“ (V. 35). Gott handelte mit Geduld. „Wiederum sandte er andere Knechte, mehr als die ersten; und sie taten ihnen ebenso.“ (V. 36).

Gab es noch eine Möglichkeit, eine noch so verzweifelte Hoffnung? „Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen, indem er sagte: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen!“ (V. 37). Ach, das führte nur zur Krönung ihrer Ungerechtigkeit und zur Vollendung ihrer Schuld und ihres hoffungslosen Verderbens. „Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen! Und sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn.“ (V. 38–39). Sie erkannten also den Messias; doch fachte dies nur ihre Bosheit und weltlichen Leidenschaften an. „Laßt uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen!“ Das war nicht einfach Mangel an Frucht, d. h. die hartnäckige Zurückweisung aller gerechten Ansprüche Gottes und der Raub allen Ertrages, der Ihm zustand. Wir sehen vielmehr den vollen Ausbruch eines rebellischen Hasses, als die Gegenwart des Sohnes Gottes in ihrer Mitte sie auf die Probe stellte. Die Prüfungszeit war vorbei. Die Frage bezüglich des Zustands des Menschen und der Versuche Gottes, von Seinem Weinberg Frucht zu erhalten, ist beantwortet. Dieses Kapitel der Handlungsweisen Gottes ist mit dem Tod des verworfenen Messias abgeschlossen. Der Mensch, der Jude, hätte Gott eine geziemende Antwort für die Wohltaten, die Er so verschwenderisch über ihn ausgegossen hatte, geben müssen; doch seine Antwort war: Das Kreuz.

Jetzt war es zu spät, davon zu reden, was die Menschen hätten sein sollen. Indem sie unter den vorteilhaftesten Umständen erprobt wurden, verrieten und vergossen sie das unschuldige Blut. Sie töteten den Erben, um sich Sein Erbteil anzueignen. Darum hat der Mensch unter dem Gesetz nur noch das Gericht zu erwarten. „Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun?“ (V. 40). Verhärtet, wie diese armen Juden waren, konnten sie nur die Wahrheit bekennen: „Er wird jene Übeltäter übel umbringen.“ (V. 41). Die Ungerechtigkeit der Weingärtner erreichte genauso wenig ihr selbstsüchtiges Ziel, wie sie Frucht für Den gebracht hatte, dessen vorsorgliche Bemühungen die Menschen ohne Entschuldigung ließen. Die Rechte des Besitzers bestanden jedoch weiter. Auch wenn nur noch „der Herr des Weinbergs“ übrig geblieben wäre – hätte Er die angewachsene Schuld gegen Seine mißhandelten Knechte und Seinen beschimpften Sohn gleichgültig auf sich beruhen lassen? Das konnte nicht sein. Er mußte – und sie selbst bezeugten es! – um so summarischer richten, weil Seine lang anhaltende Geduld und unvergleichliche Liebe so schändlich verschmäht und verspottet wurde. Der Weinberg sollte anderen überlassen werden, die Ihm zur rechten Zeit die Früchte abliefern würden.

So wird in diesem Gleichnis der Tod Christi nicht als das Fundament der Ratschlüsse Gottes, sondern als Höhepunkt der Sünde des Menschen und der Abschluß seiner Verantwortlichkeit gesehen. Sowohl das Gesetz und die Propheten als auch Christus suchten Frucht für Gott. Aber alles war umsonst. Das lag nicht daran, daß der Anspruch Gottes zu Unrecht bestand, sondern weil der Mensch – ja, der bevorzugteste Mensch mit jeder denkbaren Hilfe – unverbesserlich war. Unter diesem Gesichtspunkt erhielt die Verwerfung des Messias ihre ernsteste Bedeutung; denn sie bewies ohne jeden Zweifel, daß der Mensch, der Jude, auf den Waagschalen Gottes gewogen, nichts wert ist. Er war nicht nur böse und ungerecht, sondern konnte auch die vollkommene Liebe und Güte in der Person Christi nicht ertragen. Wäre nur eine Spur göttlichen Lichts oder göttlicher Liebe in den Herzen der Menschen gewesen, dann hätten sie den Sohn geachtet; doch nun war der volle Beweis geliefert worden, daß die menschliche Natur als solche hoffnungslos schlecht ist. Die Anwesenheit einer göttlichen Person, die sich in ihrer Liebe herabließ, selbst Mensch zu werden, gab dem Menschen nur die letzte Gelegenheit, den böswilligsten und verletzendsten Schlag gegen Gott zu führen. Kurz gesagt, dem Menschen wurde jetzt gezeigt und verkündigt, was er ist, nämlich verloren. „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde. Wer mich haßt, haßt auch meinen Vater. Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und gehaßt sowohl mich als auch meinen Vater“ (Johannes 15, 22–24). Christi Tod war der große Wendepunkt in den Wegen Gottes. Hier endete im umfassendsten Sinn die sittliche Geschichte des Menschen.

„Jesus spricht zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen“?“ (V. 42). Das war der schon lange vorher geoffenbarte Zustand der Führer in Israel – geoffenbart in ihren Schriften. Wie wunderbar handelte der Herr! Er stand in offensichtlichem Gegensatz zu jenen, welche sich selbst „aufbauten“ und von denen angenommen wurde, daß sie im Namen des Herrn handelten. Noch wunderbarer wird es in den Augen Israels sein, wenn der jetzt verborgene, aber dann erhöhte Heiland zur Freude Seines Volkes erscheint. Es wird Ihn dann willkommen heißen und seinen einstmals verworfenen König in alle Ewigkeit preisen; denn wahrhaftig, Seine Barmherzigkeit währt ewiglich. Für die Zwischenzeit sprechen Seine Lippen das ernste Urteil ihres Herabfallens aus ihrer hohen Stellung aus. „Deswegen sage ich euch: Das Reich Gottes [nicht „das Reich der Himmel“, denn dieses war nicht für sie bestimmt] wird von euch weggenommen und einer Nation gegeben werden, welche dessen Früchte bringen wird.“ (V. 43). Er fährt dann fort. „Wer auf diesen Stein fällt [der Herr in Seiner Erniedrigung], wird zerschmettert werden; aber auf welchen irgend er fallen wird [als Folge Seiner Erhöhung], den wird er zermalmen.“ (V. 44). So stellt Er ihnen das damals bevorstehende zerschmetternde Stolpern aufgrund ihres Unglaubens vor und außerdem die buchstäbliche Ausübung eines vernichtenden Gerichts über Juden und Nichtjuden, über Einzelpersonen sowie Nationen bei Seinem Erscheinen in Herrlichkeit. (Vergl. Daniel 2!).

Wir sehen hier eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Szene; und der Herr spricht jetzt, indem Er zum Ende Seines Zeugnisses gelangt, mit eindringlichem Ernst. Dadurch wurden sowohl Richtung als auch Ziel Seiner Rede klar erkannt, obwohl die Hohenpriester und Pharisäer geistlich gesehen unfähig und gefühllos waren und Er Seine Worte in Gleichnisse hüllte. Wie mörderisch ihr Verlangen – sie konnten nichts tun, bevor Seine Stunde gekommen war; denn die Menge des Volkes beugte sich in einem gewissen Maß vor Seinem Wort und hielt Ihn für einen Propheten. Er stellte ihr Gewissen in die Gegenwart Gottes; und ihre Furcht bewirkte eine, wenn auch schwache, Antwort auf Seine Voraussage ihres kommenden Elends.

Fußnoten

  • 1 Die Aufrichtung des Staates Israel in Palästina im Jahr 1948 ist ein erster Schritt der zukünftigen Wiederherstellung des Volkes nach Buße und Umkehr zu Gott, wie sie zu Beginn des Tausendjährigen Reiches stattfinden wird. (Übs.).
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