Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 4

Wir werden zwei Dinge bemerkt haben, die vor der Versuchung unseres Herrn durch den Teufel geschahen. Erstens wurde Er ausdrücklich von Seinem Vater als Sohn Gottes anerkannt, zweitens als Mensch durch den Heiligen Geist gesalbt. Vergleichbares gilt, natürlich in bedeutend geringerem Ausmaß, auch für den Gläubigen. Zunächst muß er als ein Sohn Gottes anerkannt worden sein und den Heiligen Geist empfangen haben, bevor er ein besonderer Gegenstand für die Versuchungen des Feindes wird. Diesen bedeutungsvollen Unterschied müssen wir beachten. Ein Sünder ist genau genommen nicht ein Gegenstand der Versuchungen Satans. Sein Verhältnis zu ihm ist ein anderes. Er ist ein Gefangener; er wird vom Teufel nach dessen Willen geführt. Das ist keineswegs eine Versuchung. Hier ist vorausgesetzt, daß eine Person gänzlich unter der Macht Satans steht. Wir werden versucht, sobald wir uns nicht mehr unter der Gewalt des Feindes befinden und weil wir Söhne Gottes sind. So haben also offensichtlich alle Menschen in der einen oder anderen Weise mit Satan zu tun. Die Mehrzahl der Menschen besteht aus seinen Sklaven. Aber diejenigen, welche durch die Macht Gottes befreit und durch Gnade Kinder Gottes sind, werden zu Opfern seiner Anschläge in Gestalt von Versuchungen. Gläubige haben nicht so sehr seine Macht zu fürchten; denn wenn eine Seele Jesus angenommen hat, wird erstere wirklich null und nichtig. Für einen Erlösten ist sie schon völlig zerbrochen. Deshalb werden wir viel mehr vor Satans Tücke gewarnt. In gewissen Fällen leiden Gläubige unter seinen feurigen Pfeilen. Aber sogar diese bedeuten nicht seine Macht, weil letztere für den Erretteten durch das Werk Christi vernichtet ist. Er braucht nur zu widerstehen; und der Teufel flieht vor ihm. Wenn Satan wirklich Gewalt hätte, würde er natürlich nicht fliehen; er hat aber keine. In Hinsicht auf eine Seele, die Christus angenommen hat, ist sie ihm verloren gegangen. Während also für den Glauben die  Macht Satans im Kreuz Christi zerstört wurde, bleibt seine Tücke immer eine ernste Gefahr. Seine Absichten sollten uns nicht unbekannt sein. Daher hat Gott sich gnädig herabgelassen, uns zu berichten, wie Satan unserem gesegneten Herrn begegnete. Daß wir aus dieser Mitteilung natürlich Nutzen ziehen sollen, ist aus vielen offensichtlichen und gewichtigen Gründen klar. So gibt sie uns das große Muster und Beispiel für Satans Versuchungen zu allen Zeiten.

Außerdem wissen wir aus dem Lukasevangelium (Kap. 4), daß es sich im Fall unseres Herrn um eine langanhaltende Versuchung handelte. Davon erfahren wir keine Einzelheiten. Uns wird nur erzählt, daß Jesus vierzig Tage lang von dem Teufel versucht wurde. Die drei großen Versuchungen, die der Heilige Geist uns zu berichten geruhte, fanden am Ende der vierzig Tage statt. Sollten wir daraus nicht entnehmen dürfen, daß die Versuchung unseres Herrn aus zwei Teilen bestand, von denen der erste nur unserem Herrn und keinem Menschen begegnen konnte? Wir werden nämlich nicht vierzig Tage in der Wüste herumgeführt. Andererseits sind wir durchaus solchen Versuchungen ausgesetzt, wie sie uns am Ende gezeigt werden. Der Herr scheint einen Schleier über die ersten Versuchungen geworfen zu haben und enthüllt ausführlich diejenigen, die auch dem Grundsatz nach jedem Kind Gottes zur einen oder anderen Zeit begegnen können. Wir werden sehen, daß diese drei Versuchungen, die von Matthäus und Lukas in unterschiedlicher Reihenfolge berichtet werden, eine bewundernswerte Einsicht in die Wege Satans liefern, wenn er auf diese Weise die Kinder Gottes überfällt. Es ist jedoch außerordentlich schön, daß, bevor Satan überhaupt versuchen durfte, die Glückseligkeit der Anerkennung des Sohnes durch den Vater vollständig herausgestellt worden ist. Und tatsächlich ist es ein ähnlicher Segen Gottes, der den Haß Satans auf einen jeden herabzieht. Der Feind sieht ganz genau, wenn Gott eine Seele bekehrt und lebendig macht, die vorher in Übertretungen und Sünden tot war. Sofort steht er dann mit seinen Versuchungen bereit. Sie brauchen natürlich nicht in derselben Reihenfolge wie bei unserem Herrn aufzutreten. Dennoch scheinen sie mehr oder weniger von gleichem Charakter zu sein wie die, welche uns hier geoffenbart werden.

Es ist klar, daß die erste Versuchung aus den damaligen Umständen des Herrn entsprang. Er war die ganze Zeit ohne Nahrung in der Wüste gewesen; und am Ende der vierzig Tage hungerte Ihn. Als Mose dieselbe Zeitspanne ohne Essen auf dem Berg zubrachte, befand er sich bei Gott und wurde auf übernatürliche Weise erhalten. Aber das Wunderbarste hier bei unserem Herrn liegt darin, daß Er die Zeit mit dem  Feind zubrachte. Niemand hatte bisher so etwas erlebt, und niemand wird es in Zukunft erfahren. Es war die größte sittliche Ehre – wenn auch die schwerste Prüfung, durch die ein Mensch jemals hindurchging –, als Jesus sich diese lange Zeit in Abhängigkeit von Gott bei Satan aufhielt. In diesem allen sehen wir den Herrn als Sohn des Menschen, jedoch auch als Sohn Gottes.

Die einführenden Worte zeigen uns, daß die Versuchungen während der ganzen Zeit stattfanden, in der sich  Jesus in der Wüste aufhielt. „Dann wurde Jesus von dem Geiste in die Wüste hinaufgeführt, um von dem Teufel versucht zu werden; und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn danach. Und der Versucher trat zu ihm hin und sprach: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, daß diese Steine Brot werden.“ (V. 1–3). Was auch immer das Ziel Satans sein mag – ein Hauptteil seiner Taktik besteht darin, uns einen Zweifel, einen Zweifel an unserem Verhältnis zu Gott einzuflüstern. „Wenn du Gottes Sohn bist.“  Durchforsche das Wort Gottes, solange du willst – niemals wirst du finden, daß  Sein Geist eine Seele in den Zweifel führt! Tatsächlich kann nichts Seinen Wegen mehr widersprechen, als die Duldung von Mißtrauen gegen Gott. Die außerordentliche Verschlagenheit Satans zeigt sich darin, daß er sogar Kinder Gottes als Werkzeug benutzt, um nicht nur in ihnen selbst Zweifel zu dulden, sondern diese auch in anderen zu fördern. Dabei wird oft irrtümlich vorgebracht, es sei ein Zeichen von Demut und ein Streben nach Niedriggesinntheit, nicht auf Gott zu vertrauen. Der Glaube sagt jedoch: „Auf Gott vertraue ich!“ (Ps 56,11) 1.

Das heißt nicht, daß wir Selbstprüfungen scheuen sollen. Diese werden in der Bibel nachdrücklich empfohlen. So werden in 1. Korinther 11 die Gläubigen offensichtlich ermahnt, sich selbst zu prüfen. Dadurch sollen jedoch keineswegs Zweifel geweckt werden. Im Gegenteil! „Ein jeder aber prüfe sich selbst, und also esse er“ (V. 28); denn hier geht es um das Mahl des Herrn. Wenn im Fall eines unguten Zustands Bedenken hätten erzeugt werden sollen, dann stände hier: „Und also esse er nicht!“ Aber angenommen, er fände in sich etwas Falsches vor – soll er dann nicht essen? Sicherlich sollte er zu seinem Heiland aufschauen und sich auf die Gnade werfen, welche niemals versagt. Der Gedanke, daß es für solche Fälle keine Hilfsmittel gebe, verunehrt Christus und leugnet Seine Wahrheit und Liebe. „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht.“ (2. Korinther 12,9). Das ist das Wort des Herrn. In der Kraft Seiner Gnade soll der Gläubige sich selbst prüfen, wenn er zum Tisch des Herrn gehen möchte. Er hat sich nicht zu fragen, ob er dorthin gehen oder wegbleiben soll. Das finden wir nicht in der Bibel. Andererseits lesen wir auch nicht, daß es für uns, weil wir Christen sind, egal sei, in welchem geistlichen Zustand wir uns befinden. Ein Mensch soll sich prüfen und also essen. Gewiß findet er dabei etwas, das ihn demütigt. Es ist für eine Seele wichtig, sich Gott zu nahen, damit Er Sein Licht auf alles wirft. Das liefert Grund genug zur Demut, jedoch nicht für ein Wegbleiben. Dies hat der Geist Gottes als allgemeine Regel für das Mahl des Herrn festgelegt. Natürlich beziehe ich mich jetzt nicht auf Fälle offener Sünde, wo eine Verteidigung der Herrlichkeit des Herrn gefordert wird. Letzteres setzt einen Menschen voraus, der in Sünde lebt und sich nicht prüft. In 1. Korinther 11 geht es um den normalen Wandel eines Kindes Gottes. Der Apostel besteht auf einer sorgfältigen Prüfung dessen, was ein Gläubiger in sich selbst vorfindet; und dann „esse er.“

„Wenn du Gottes Sohn bist.“  Unser Herr sah nicht so aus. Äußerlich war nichts von Seinem göttlichen Wesen zu sehen, was einen eindeutigen Beweis geliefert und jeden Zweifel behoben hätte. Wenn es so gewesen wäre, hätte es keinen Raum für den Glauben gegeben. Satan zog Nutzen aus der Erniedrigung unseres Herrn an dem Platz, den Er als Mensch eingenommen hatte. Tatsächlich kann nichts einzigartiger sein als der Bericht von Seinem Aufenthalt in der Wüste und, wie wir von Markus erfahren, bei den wilden Tieren. Falls Er wirklich der Sohn Gottes, der Schöpfer von Himmel und Erde, war – an welch einem Ort befand Er sich da! Wohin wurde Er vom Geist Gottes geführt, nachdem der Vater vom Himmel her geredet und Ihn als Seinen geliebten Sohn anerkannt hatte! Es war jedoch so. Und das entspricht auch genau dem Platz eines Kindes Gottes, wenn auch in einem abgeschwächten Sinn. Denn wie sehr es auch von Gott gesegnet sein mag und wie wahrhaftig es von Ihm als Sohn anerkannt wird und Seinen Geist in sich wohnen hat, lebt es doch in einem gewissen Maß in seiner „Wüste“. „Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt.“ (Johannes 17,18). Das war kein angenehmer Ort, wo es keine Versuchung gab, sondern gerade das Gegenteil. Weil wir Gott und dem Himmel angehören und den Heiligen Geist besitzen, der uns auf den Tag der Erlösung versiegelt hat, müssen wir Satan entgegentreten. Das geschieht jedoch in der Gewißheit, daß seine Macht gebrochen ist und daß wir nur seinen Listen zu widerstehen haben. In der Frage nach der Gottessohnschaft Christi offenbarte sich Satan. Dennoch nannte der Herr ihn erst „Satan“, sobald er offene Auflehnung gegen Gott zeigte. Als er nur seine Verschlagenheit offenbarte, nannte Er ihn nicht so. Der Feind wird auf zweierlei Art in der Bibel beschrieben. Er wird Satan und Teufel genannt. Der letzte Ausdruck drückt sein Wesen als Ankläger aus und umfaßt auch seine Listen. Der erste bezieht sich auf seine Gewalt als der Widersacher.

Auch wenn wir vermuten, daß die Macht des Bösen am Werk ist, müssen wir warten, bevor wir es mit Bestimmtheit verkündigen dürfen. Denn wenn der Teufel eine Seele versucht, so liegt darin auch eine Erprobung durch Gott; und diese mag sehr scharf sein. Sogar Gott handelt nicht, bevor eine Sache offensichtlich ist. Im Gegensatz zur Eile des Menschen zeigt Er eine wunderbare Geduld. Er kam – z. B. in der Sache mit Adam und vor dem Gericht über Sodom und Gomorra – herab, um zu sehen, ob das Böse wirklich so groß war. Folglich bleibt immer wahr: So schnell Gott auf den Ruf der Seinigen in Not hört, so langsam ist Er bei der Ausführung eines Gerichts. Daher kennzeichnet nichts die Erkenntnis Christi und ihre Wirkung in unseren Seelen so sehr wie das Ausleben dieser Wahrheit in uns. Je mehr einem Menschen die Gnade fehlt, desto eiliger richtet er. Andererseits ist die Geduld nicht eine Frage der Erkenntnis, sondern der Liebe, die sich lange mit dem anderen beschäftigt und nicht urteilen möchte, bevor jede Hoffnung dahin ist. Auch dann mag man noch zögern müssen. Das Überhandnehmen des Fleisches, welches so bedrohlich aussieht, liegt vielleicht nur an der Oberfläche und nicht tief im Herzen. So erfahren wir hier, wie sogar unser Herr in Geduld mit dem Widersacher umging. Erst als der Teufel eindeutig offenbarte, wer er war, nannte der Herr ihn „Satan“. Erst als er die Anbetung, welche Gott allein zustand, verlangte, sagte unser Herr: „Geh hinweg, Satan!“  Daraufhin floh der Widersacher sofort. Aber zuerst ließ der Herr ihn sich vollständig verraten. Das ist göttliche Weisheit. Da der Herr die ganze Zeit über wußte, daß es Satan war – was für ein Vorbild für uns! Wir erblicken hier den Herrn als den gesegneten Menschen in der Gegenwart Satans, welcher uns zeigt, wie wir uns in den Versuchungen, die an uns als Heilige Gottes herantreten, verhalten sollen.


Erlaubt mir, daß ich noch ein Wort zu Versuchungen sage! Diese geschahen hier ausschließlich von außerhalb. Unser Herr erlebte nie die Versuchung von innen heraus. Er wurde „in allem versucht ... wie wir.“ (Hebräer 4,15). Doch der Heilige Geist beschreibt das genauer, indem Er hinzufügt: „ausgenommen die Sünde.“  Nicht nur, daß Er sich nicht der Sünde hingab, sondern das ganze Prinzip der Sünde fehlte gänzlich in Ihm. Niemals gab es in Ihm die geringste Bewegung eines Gedankens oder Wünsche, die im Gegensatz zu Gott standen. Er kannte keine Sünde. Darin unterscheiden wir uns von Ihm. Wir haben oft Grund, uns tief zu demütigen, weil wir es nicht nur mit dem Teufel von außen zu tun haben, sondern auch mit unserer bösen Natur in unserem Inneren. Diese nennt die Bibel „das Fleisch“ (d. h., das „Ich“, jene Quelle jeden Ungehorsams und aller Feindschaft gegen Gott). Das Fleisch ist der Ursprung aller lieblosen, eigenwilligen und gottlosen Begierden in uns. Es sucht seiner Natur nach niemals den Willen Gottes zu tun außer in einem Geist der Furcht – indessen keineswegs aus Liebe. Es fragt bestenfalls: Was wird aus unseren Seelen, wenn wir ihm nicht gehorchen? Die Menschen handeln stets so, solange sie nicht aus Gott geboren sind. Auch nach der Bekehrung lebt dasselbe böse Prinzip noch in uns. Gott pflanzte uns jedoch ein neues Leben in die Seelen, welches sich an Seinem Willen erfreut.

Obwohl die Versuchungen Jesu, die uns hier geschildert werden, von außen kamen, paßte Satan sie doch den damaligen Umständen unseres Herrn an. Er hatte vierzig Tage nichts gegessen, darum war das erste Wort des Versuchers: „Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, daß diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht.““ (V. 3–4). Unser Herr verwies auf das 8. Kapitel im 5. Buch Mose, welches sich mit dem Manna, der täglichen Speise Israels, beschäftigt. Diese Nahrung war mit Abhängigkeit von Gott verbunden und zeigte, daß Israel zu seinem Erhalt nicht die Hilfsmittel der Welt benötigte. Sie bedurften keines reichen Landes, um aus seiner überreichen Ernte versorgt zu werden. Sie stützten sich auch nicht auf Gold oder Silber. Bevor Israel ein Land zum Bebauen und die Möglichkeit zum Ernten besaß, wurde es in der Einsamkeit bei Gott unterwiesen. In der Wüste, wohin Er es als Seinen Erstgeborenen geführt hatte, stellte Er es auf die Probe, und zwar, indem Er prüfte, ob es mit Gott und der Verpflegung, die Er ihm Tag für Tag gab, zufrieden war. Ach, es war nicht zufrieden!

In Matthäus haben wir eine völlig andere Szene. Zwar hält sich auch hier ein Mensch in der Wüste auf, doch Sein Begleiter ist nicht Gott, sondern Satan. Im Geist war unser Herr immer bei Seinem Vater, denn sogar auf der Erde war Er „der Sohn des Menschen, der im Himmel ist.“ (Johannes 3,13). Er vereinigte auf diese Weise zwei Wesenszüge in Seiner Person. Tag für Tag war Er ein Mensch, der in allem von Gott abhing. Darauf beruhte die erste große Versuchung des Teufels; er wandte sich an Seine natürlichen irdischen Bedürfnisse. Hunger war keine Sünde. Es wäre jedoch Sünde gewesen, Gott wegen des öden Orts zu mißtrauen. Wußte Gott nicht, daß es dort kein Brot gab? Hatte nicht Sein Geist Jesus dorthin geführt? Sagte Gott zu Ihm, Er solle die Wüste verlassen oder aus Steinen Brot machen? Der Herr wollte Seine persönliche Macht nicht unabhängig vom Wort Gottes gebrauchen. Ebenso ist ein beständiges Merkmal der Art, wie der Heilige Geist das Kind Gottes mit Kraft versorgt, daß es die übernatürliche Macht nicht für sich selbst oder seine Freunde benutzt. Wenn wir in das Neue Testament blicken, erkennen wir, wie Paulus Wunder wirkte und die Macht Gottes gebrauchte, um die Kranken rund umher zu heilen. Doch nutzte er seine Kraft jemals für seine Gefährten? Im Gegenteil! Paulus ließ Trophimus krank in Milet zurück (2. Timotheus 4,20) und zeigte betreffs seiner Person die ganze Angst eines normalen Menschen, als hätte er nie die Macht besessen, den Leib zu heilen. Als Epaphroditus krank war, sehen wir eine Übung des Glaubens, der wußte, daß der Wille Gottes und die Ergebung darin mehr als tausend Wunder wert waren. (Philipper 2). Wunder besitzen in sich selbst nicht den erhabenen Charakter, die Seele in der Abhängigkeit von Gott zu üben. Die menschliche Natur ist unfähig, Gott zu gehorchen, sich Ihm unterzuordnen und auf Ihn zu vertrauen. Auch mächtige Taten können dies nicht bewirken. Deshalb sehen wir bei dem Herrn nie, wie Er Seine machtvollen Werke auf einen Boden mit dem Gehorsam stellt. Nein, Er sagt sogar, daß Seine Jünger größere Werke tun würden, als Er selbst getan hatte. So groß sie auch gewesen waren, teilte Er doch den Jüngern mit, daß  ihre Taten größer sein würden. Dagegen war Christus durch Gehorsam gekennzeichnet, welcher in einem natürlichen Kind Adams niemals gefunden wurde.


Angesichts Satans fand unser Herr Seine Kraft nicht im Ausüben von Wundern oder in der Vorsorge für Seine Bedürfnisse, sondern im Wort Gottes. Hunger mochte berechtigte Forderungen stellen; aber jetzt wurde Er in Gegenwart Satans erprobt. Er wollte nicht aus der Prüfung herausgehen, bevor sie zu Ende war. Er wollte Seine Umstände nicht verändern oder einen Finger für sich selbst bewegen. Er wartete auf Gott. „Nicht von Brot allein“, sagte Er, „soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht.“  Gottes Wort hatte Ihn dorthin geführt; denn der Heilige Geist handelt immer durch das Wort. Er wollte die Wüste nicht verlassen, bevor Gott es Ihn hieß. Das hob Satans Versuchungen völlig auf. Doch darüber hinaus zeigte Er das wahre Geheimnis eines Lebens in Abhängigkeit von Gott Tag für Tag. Hier geht es nämlich nicht um die Mitteilung göttlichen Lebens, sondern um das praktische Leben, nachdem wir ersteres empfangen haben. Und die Nahrung für das neue Leben ist das Wort Gottes. O, welch eine ungeheure Bedeutung liegt hierin! Wir wachsen durch die Erkenntnis des geschriebenen Wortes und besitzen es als unser tägliches Brot, indem wir es nicht einfach als eine Pflichtübung lesen, sondern wirklich als die göttlich angemessene Vorsorge für ein Kind Gottes. Es ist für uns alle gut, das Wort zu erforschen, weil wir es benötigen. Die Seele gewinnt viel, welche es Tag für Tag mit Verständnis und mit Anteilnahme liest, um von Gott selbst etwas zu empfangen. Gott gibt nichts, was das Herz des Menschen nicht aufnehmen kann, und nur, was unseren täglichen Bedürfnissen entspricht. „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht.“

Das ist also die Antwort unseres Herrn auf die erste Versuchung. Warum sollte Er die Steine in Brot verwandeln? Er stützte sich auf Gottes Wort. Sein Vater hatte es Ihn nicht geheißen. Er konnte warten. So sollte es auch bei uns sein. Wenn wir nicht die Meinung Gottes klar ausgedrückt empfangen haben, sollten wir stets warten, bis wir sie erfahren. Manchmal zeigen wir unsere Schwachheit durch die Unkenntnis der Gedanken Gottes; und das ist unangenehm. In Ruhelosigkeit möchten wir irgendwohin gehen oder etwas tun; das ist jedoch nicht Glaube. Dieser zeigt sich im Harren auf Gott, damit Er Seinen Willen offenbare.

Die nächste Versuchung war nicht persönlicher Art, sondern bezog sich auf die Religion so wie die erste auf körperliche Bedürfnisse. Im Lukasevangelium ist die Reihenfolge anders. Doch hier finden wir in der zweiten Versuchung, was ich die religiöse Erprobung nennen möchte. Der Herr hatte gesagt, daß der Mensch „von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht“  lebt. Der Teufel nahm Ihn also mit in die heilige Stadt, stellte Ihn auf die Zinne des Tempels und gründete seine Versuchung auf gerade diesen Punkt in der Antwort unseres Herrn – auf das Wort Gottes. Er sagte sozusagen: Hier ist ein Wort Gottes für dich: „Er wird seinen Engeln über dir befehlen, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest.“ (V. 6). Das stimmte. Es war Gottes Wort und bezog sich offensichtlich auf den Messias. Doch wozu benutzte Satan es? Er sagte: „Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben“  usw. Das war eine Bewegung ohne Gott; eine Handlung aus sich selbst heraus. Die Bibel sagt nämlich nicht: „Wirf Dich hinab, weil Gott Seinen Engeln Deinetwegen Befehl gegeben hat, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest!“

Der Herr wollte sich nicht von der Schrift abwenden, nur weil Satan sie mißbrauchte. Er zeigte in eindrücklichster Weise, daß wir uns nicht aus unserer Zuflucht drängen lassen sollen, auch wenn sie gegen uns verwendet wird. So ließ unser Herr sich nicht auf eine Untersuchung der feinen Unterschiede ein oder eine Prüfung dessen, was Satan gesagt hatte, sondern gibt uns, wenn man so sagen darf, ein Musterbeispiel dafür, wie jeder Christ in entsprechenden Situationen handeln sollte. Es gibt Gläubige, die geistliches Unterscheidungsvermögen haben, sodaß sie erkennen, wie Satan Schriftstellen, die er anführt, verdreht. Aber viele haben dieses nicht. Der Herr handelte auf breiter Grundlage mit dem Widersacher. Er stellte sich auf den Boden, den jeder Christ kennen und von dem er durchdrungen sein sollte, nämlich: „Wiederum steht geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.““ (V. 7). Er zitierte ein klares, bestimmtes Wort Gottes, welches Satans falsche Anwendung von Psalm 91 aufhob. Dadurch gibt unser Herr uns Gläubigen ein Bollwerk für den Fall, daß wir mit einem Menschen zu tun haben, der spitzfindig unter Gebrauch der Bibel diskutiert. „Wiederum steht geschrieben.“  Der Gläubige darf sich auf das beziehen, was klar und eindeutig ist. Wir werden immer finden, daß Personen, die regelmäßig das Wort Gottes falsch anwenden, einige grundlegende Prinzipien der Schrift aufheben. Alles Falsche widerspricht eindeutigen Abschnitten in der Bibel. Darin liegt eine große Barmherzigkeit. Der Gläubige hält an dem fest, was sicher ist. Er gibt das, was er versteht, nicht auf für das, was er nicht versteht. Die Ausführungen des Widersachers mögen ihn verwirren und das Mißtrauen gegen dessen falsche Gedanken nur langsam zunehmen. Doch er darf zu sich selbst sagen: Ich darf niemals das aufgeben, was für mich jenseits jeden Zweifels ist für etwas, das ich nicht kenne. Anders ausgedrückt: Er hält das Licht fest und weist die Finsternis zurück.

In dieser Weise handelte, wie mir scheint, unser Herr mit Satan. Er hätte sofort aufgrund von Schlußfolgerungen den Teufel abwehren und ihm das verdrehte Endergebnis seiner Schriftauslegung zeigen können. Statt dessen handelte Er auf sittlicher Grundlage mit ihm, wie auch jeder Christ es kann. Gibt es irgendeine Schriftstelle, die mir Mißtrauen gegen Gott einflößen soll? Wenn solche Gedanken in mir entstehen, stütze ich mich auf jene Worte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“  Was ist damit gemeint? Ich darf niemals bezweifeln, daß der Herr für mich ist! Wenn ich irgend etwas unternehme, um zu prüfen, ob Er für mich ist, dann ist das gleichermaßen Unglaube wie Ungehorsam. Der Herr bezog sich wieder auf Israels Geschichte und zitierte erneut aus dem 5. Buch Mose. Tatsächlich übernimmt, wie schon lange bekannt, unser Herr jede Antwort auf die Versuchungen aus diesem Buch, welches ganz besonders das Versagen Israels unter dem Gesetz offenbart und das Eingreifen der Gnade, als alles verdorben war. Daneben wird allerdings auch die Gerechtigkeit des Glaubens in solch bösen Tagen geschildert.

In 2. Mose 17 erfahren wir, wie die Israeliten Gott durch die Frage versuchten: „Ist Jehova in unserer Mitte oder nicht.“ (V. 7). Das heißt nicht, daß sie Ihn durch Götzendienst herausforderten oder sich weigerten, Seinen Willen zu tun. Es ging nicht um offene Sünde, sondern um Unglaube bezüglich Seiner Güte und Gegenwart. Kurz gesagt, glaubten sie nicht, daß Gott für sie war. Genau darauf bezog sich unser Herr in Seiner Antwort an den Teufel. „Ich soll Mich hinabwerfen, um herauszufinden, daß die Bibel wahr ist und die Engel mich auffangen? Diesen Beweis benötige Ich nicht. Ich weiß genau, daß Engel bereit stehen, um Mich zu bewahren, falls jemand Mich hinabwirft.“

Gesetzt den Fall, wir kennen eine Person, die wir für unehrlich halten – unter diesen Umständen sind wir vielleicht geneigt, sie auf die eine oder andere Weise zu prüfen. Aber wer käme auf die Idee, jemanden zu erproben, zu dem er volles Vertrauen hat? Genau das ist der Inhalt der Antwort unseres Herrn: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ Seine Seele widersetzte sich dem Gedanken, Gott zu versuchen, um zu erfahren, ob Er Seinen Sohn bewahren würde. Gott mochte  Ihn versuchen. Satan durfte Ihn auf die Probe stellen. Doch als unser Herr Gott versuchen sollte, als müßte der Herr, Sein Gott, auf die Probe gestellt werden, ob Er auch Sein Wort halte – weg mit solchen Gedanken! Er wollte von diesem Vorschlag nichts mehr hören. Der Herr blieb bei Seinem vollen Vertrauen auf Gott. Darin lag die ganze Kraft Seiner Antwort.

Die zweite Versuchung im Matthäusevangelium wird von Lukas als die dritte angeführt. Warum? Sicherlich sollen wir die Bibel nicht gedankenlos lesen, als hätten uns solche Unterschiede nichts zu sagen. Wir müssen aufpassen, daß wir die Schrift nicht falsch auslegen. Andererseits will sie verstanden werden. Ich sage zu dieser Abweichung in der Reihenfolge, daß beide Berichte richtig und von Gott inspiriert sind. Wenn beide Darstellungen vorgäben, die Versuchungen, so wie sie abliefen, zu schildern, wären sie offensichtlich nicht korrekt. Doch Gott hatte viel höhere Ziele beim Schreiben der Evangelien; denn Er schrieb zu unserer Belehrung. Ihm gefiel es, in den verschiedenen Evangelien die Ereignisse in einer Weise anzuordnen, die sehr lehrreich ist. Matthäus gibt uns einfach einen historischen Bericht der Versuchungen, und zwar so, wie sie geschahen. Darum finden wir im Matthäusevangelium Zeitangaben. „Dann nimmt der Teufel ihn mit“ usw. In Lukas 4 ist das anders. Dort steht einfach: „Und er führte ihn“ usw. Dieses Wort liefert uns die Lösung des Problems. Natürlich gab es diese verschiedenen Versuchungen. Lukas indessen stellt sie so hintereinander, daß sie uns  nicht die Reihenfolge mitteilen, in der sie geschahen.

Das ist eine allgemeine Feststellung, die für das ganze Lukasevangelium gilt. Es weicht gewöhnlich von der einfachen Reihenfolge der Geschehnisse ab, um uns eine Zusammenstellung zu liefern, die seinem Thema entspricht. Als ganzes gesehen, ist das Lukasevangelium dadurch gekennzeichnet, daß die Begebenheiten aus dem Leben unseres Herrn passend zum Wesen seiner Lehre angeordnet werden. So finden wir sogar das Geschlechtsregister unseres Herrn nicht an seinem üblichen Platz. Die natürliche Reihenfolge wird aufgegeben zugunsten einer sittlichen Anordnung.

Nehmen wir zum Beispiel das Gebet des Herrn! Lukas berichtet davon an ganz anderer Stelle als Matthäus, der es in der wunderbaren Rede, die man gewöhnlich die „Bergpredigt“ nennt, anführt. Da das Beten einen sehr wichtigen Teil der neuen Grundsätze ausmacht, die der Herr darlegte, bildet es einen der Hauptgegenstände der Predigt des Herrn. Lukas hält das Gebet bis zum 11. Kapitel zurück, weil unser Herr dort die großen Hilfsmittel des geistlichen Lebens herausstellt. Es geht darum, wie letzteres genährt und in der Seele gefördert wird. Und das zeigt Lukas in Verbindung mit dem Geschehen um Martha und Maria (Kap. 10). Warum erkannte Jesus den Weg und den Wandel der Maria mehr an als den der Martha? Das lag nicht daran, daß Er sie nicht beide liebte und daß Martha keine wirkliche, persönliche Liebe zum Heiland hatte und ihr Herz Ihm gegenüber nicht aufrichtig war. Und dennoch gab es einen großen Unterschied zwischen Maria und Martha. Worin bestand dieser und worauf war er zurückzuführen? Lukas enthüllt uns die sittliche Verschiedenheit. Während Martha voll davon war, was sie für den Herrn tun und womit sie ihre Liebe zu Ihm zeigen konnte, beschäftigte sich Maria mit dem Herrn selbst. Sie saß zu Seinen Füßen und lauschte auf Sein Wort. Martha war erfüllt mit dem, was sie für Christus tun konnte, Maria von Seiner Person. Nichts, was sie für den Herrn hätte tun können, hatte für sie den geringsten Wert im Vergleich zu Christus selbst. So hören wir bei einer anderen Gelegenheit, wie Maria die Alabasterflasche zerbrach, um die Füße Jesu zu salben, wobei sie wenig Anerkennung seitens der Anwesenden fand. Und doch sollte das, was sie getan hatte, auf der ganzen Erde verkündigt werden. Diesen Gesichtspunkt stellt unser Herr im Lukasevangelium ganz besonders vor. Das Wort Gottes, das Achten auf Jesus, ist das erste Hilfsmittel, um das neue, geistliche Leben zu kräftigen. Unmittelbar nach diesem Bericht von den beiden Schwestern lesen wir die Bitte der Jünger um Belehrung über das Beten. Diese wurde lange vorher geäußert. Sie wird jedoch vom dritten Evangelisten in diesem besonderen Zusammenhang geschildert, um die enge Verbindung zwischen dem Wort Gottes und dem Gebet aufzuzeigen.

Genauso weicht Lukas auch bei den Versuchungen von der richtigen Reihenfolge ab und gibt sie unter einem sittlichen Gesichtspunkt. Matthäus schrieb hier die Ereignisse so auf, wie sie geschahen. Lukas berichtet sie nach aufsteigendem Schweregrad von der natürlichen über die weltliche zur religiösen Versuchung. Denn es ist vollkommen klar, daß eine Versuchung durch das Wort Gottes für jemand, der dieses Wort über alles schätzt, viel schwerwiegender ist als ein Appell an die natürlichen Bedürfnisse oder weltlichen Ehrgeiz. Deswegen hebt Lukas diese Versuchung bis zuletzt auf. Im Matthäusevangelium ist das anders. Dort haben wir an dritter Stelle die Versuchung durch die Welt. „Wiederum nimmt der Teufel ihn mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht zu ihm: Alles dieses will ich dir geben, wenn du niederfallen und mich anbeten willst.“ (V. 8–9). Jetzt offenbarte sich der Teufel eindeutig. Schon der Gedanke, irgendeinen Gegenstand der Ehrerbietung und Anbetung zwischen die Seele und Gott zu stellen, zeigt eindeutig, daß der Teufel oder eines seiner Werkzeuge wirkt. Darum nennt ihn der Herr sofort „Satan“. „Da spricht Jesus zu ihm: Geh hinweg, Satan! denn es steht geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.““ (V. 10). Sogar ein Apostel durfte nicht anders behandelt werden. Als ein solcher so völlig auf Abwege geführt wurde, daß er eine ähnliche Forderung zu stellen wagte, nennt der Herr auch diesen „Satan“. Ist das unwichtig für uns, wenn wir mit Christen umgehen müssen, die zeitweise Werkzeuge Satans sind? Der Herr zögerte nicht, bei solcher Gelegenheit selbst den Petrus „Satan“  zu nennen (Matthäus 16,23); und doch war er der Führer unter den Zwölfen, der Erste an Würde unter den Aposteln des Lammes. Trotzdem säumte unser Herr nicht, zu Petrus genauso wie zu dem bösen Feind „Satan“  zu sagen, obwohl Er gerade vorher eine einzigartige Ehre auf Petrus gelegt und ihm einen neuen Namen gegeben hatte. Das zeigt uns einen wichtigen Grundsatz für unsere Wege, unabhängig davon, ob wir es mit Kindern Gottes zu tun haben oder nicht.

Bei der Antwort auf die dritte und letzte Versuchung beschränkte sich unser Herr wieder auf das 5. Buch Mose. Warum? Weil dieses Buch uns das völlige Versagen Israels unter dem Gesetz und Gottes Grundsätze der unumschränkten Gnade schildert. Gott offenbart dort nicht die Gerechtigkeit des Gesetzes, sondern die Gerechtigkeit des Glaubens. Aus demselben Grund zitiert auch der Apostel Paulus aus diesem Buch. Es zeigt den Platz des Gehorsams, nachdem die Beobachtung von Zeremonien unter dem Gesetz unwichtig geworden war. Auch der Herr nahm hier diesen Platz ein. Er bezeugte nicht, was Er als göttliche Person hätte tun können. Als solche wäre Er auf einen Boden gewechselt, auf dem wir Ihm nicht folgen könnten. Doch während dieser Versuchung blieb Er in der Stellung, die uns und allen, die Ihm folgen wollen, zusteht. Für einen gottesfürchtigen Menschen besteht die einzige richtige und angemessene Art, den Versuchungen zu begegnen, darin, auf die Grundlage des Glaubensgehorsam zu treten. Dann ruhen wir im Vertrauen auf das, was Gott in Seiner Güte ist. Der Herr wollte um keinen Preis von dem Platz weichen, der einem Diener Gottes in Israel zustand. Wenn ein Mensch gottesfürchtig war, dann sollte er seine Sünden bekennen und sich mit der Taufe der Buße taufen lassen. Unser Herr wurde unter solchen Täuflingen gefunden, obwohl es in Seinem Fall ausschließlich um die Erfüllung aller Gerechtigkeit ging. Wir hingegen haben unsere Sünde anzuerkennen. Der Einzige, der sich auf dem Boden einer gesetzlichen Gerechtigkeit hätte stellen können, wollte an Seinem Platz einzig und allein  Gott rechtfertigen und nicht Seine eigene menschliche Gerechtigkeit. Satan mochte Ihn in jeder Weise versuchen. Es war vergeblich. Er wollte ausschließlich Gott rechtfertigen und nichts für sich selbst beanspruchen. Der Feind wurde zur Verherrlichung Gottes von einem gehorsamen und abhängigen Menschen zuschanden gemacht.

Ich glaube, daß die in diesem Kapitel vorgestellten Grundsätze von größter praktischer Bedeutung für die Kinder Gottes sind. Die wenigen Bemerkungen, die hier gemacht wurden, können vielleicht Seelen den praktischen Wert dieser Versuchungen unseres Herrn für die Leitung auf unserem Pfad zeigen. Doch das ganze Thema wird der Aufmerksamkeit des Lesers empfohlen. Obwohl es wahrscheinlich schon häufiger vor unsere Herzen gestellt worden ist und wir über seinen praktischen Wert nachgedacht haben, sollte es dennoch ernstlich unsere Gedanken fesseln. Sicherlich wird es ein Studium unter Gebet überreich belohnen.

An dieser Stelle ist es, denke ich, lehrreich, die unterschiedlichen Wege zu vergleichen, auf welchen der Heilige Geist den Dienst unseres Herrn in den einzelnen Evangelien zu berichten beginnt. Und wenn ich von Seinem Dienst spreche, dann setzte ich voraus, daß es sich um Seinen öffentlichen Dienst handelt. Der Herr hatte schon Wunder vollbracht und bemerkenswerte Predigten gehalten, bevor Er formell Seinen Weg des Dienstes betrat 2.  Ich möchte jetzt mit dem Segen Gottes auf die Weisheit aufmerksam machen, mit welcher der Heilige Geist uns die verschiedenen Darstellungen unseres Herrn in jedem dieser vier inspirierten Berichte gibt. Wir möchten in Ehrfurcht Seinen Gedanken folgen, wenn es Ihm gefallen hat, den Herrn in so voneinander abweichenden Erzählungen zu schildern. Gewisse Aussagen werden in einigen Evangelien wiedergegeben, in anderen nicht. Ebenso wird hin und wieder die Reihenfolge der erzählten Ereignisse verändert, um Gottes Absichten noch vollkommener zur Ausführung zu bringen. Indem wir diese Berichte vergleichen, erkennen wir, daß der Heilige Geist immer das große Thema eines jeden Evangeliums beibehält. Das ist die Grundlage für jede rechtmäßige Auslegung. Wenn wir das jeweilige Ziel des Geistes Gottes in jedem Evangelium ständig im Auge behalten, sehen wir in diesen Zielen die wahren Grundsätze, nach denen die Evangelien geschrieben wurden. Jene allein erlauben einer Seele, die Evangelien richtig zu verstehen.

Wir haben schon anfangs gesehen, daß das ganze Matthäusevangelium hindurch der Heilige Geist den Messias vor uns stellt, und zwar mit den vollständigsten Beweisen, daß Er von Gott gesandt war. Aber, ach! Er war ein leidender und insbesondere von Seiten Seines Volkes verworfener Messias. Er wurde am meisten von denen abgelehnt, die, menschlich gesprochen, den größten Grund hatten, Ihn anzunehmen. Wurden irgendwelche Männer wegen ihrer Gerechtigkeit von der Nation besonders geschätzt? Ja, die Pharisäer! Doch wer war so nachdrücklich gegen Ihn eingestellt? Wurden irgendwelche Männer wegen ihrer Schriftkenntnis gefeiert? Ja, die Schriftgelehrten! Und doch verbanden sie sich mit den Pharisäern gegen Ihn. Hinzu kam, daß die Priester eifersüchtig auf ihre Stellung achteten. Darum waren sie die natürlichen Gegner eines Mannes, der die Realität einer göttlichen Macht kundtat, welche von dem Sohn des Menschen auf der Erde in der Vergebung von Sünden verwaltet wurde. Alle diese Gesichtspunkte werden mit treffender Kraft und Klarheit im Matthäusevangelium hervorgehoben. Obwohl wir bisher noch nicht zu diesen Einzelheiten bei der Betrachtung unseres Evangeliums gekommen sind, verrät sich doch das Hauptthema des Heiligen Geistes in der Art, wie unser Herr in dem Abschnitt, den wir vor uns haben, beim Eintritt in Seinen öffentlichen Dienst dargestellt wird.

Zunächst einmal wird im Matthäusevangelium nicht berücksichtigt, was schon alles vorher in Jerusalem geschehen war. Der Heilige Geist wußte alles sehr gut. Er brauchte es nicht zu lernen. Menschlich gesprochen ist es sehr wahrscheinlich, daß Matthäus genauso wie der geliebte Jünger Johannes die frühen Ereignisse im Leben unseres Herrn und insbesondere Seine Beziehung zu jener Stadt gekannt und untersucht hatte. Doch vieles von dem, was Johannes berichtet, erscheint im Matthäusevangelium nicht. Im vierten Evangelium sehen wir am Anfang eine Gesandtschaft aus Jerusalem zu Johannes dem Täufer kommen und danach unseren Herrn, wie Er als das Lamm Gottes und als der Täufer mit dem Heiligen Geist anerkannt wird. Später stellte sich der Herr verschiedenen Männern vor, unter denen auch Simon Petrus war, nachdem sein Bruder Andreas schon vorher die Gesellschaft des wunderbaren Fremden erlebt hatte. Dann wurde Philippus berufen, der hinterher Nathanael fand. So breitete sich das Werk des Herrn von einer Seele zur anderen aus, sei es, daß der Herr sie unmittelbar an sich zog, sei es durch die Vermittlung jener, die schon berufen waren. Matthäus übergeht dieses alles. Johannes 2 berichtet vom ersten Wunder oder Zeichen, in dem Jesus Seine Herrlichkeit offenbarte. Er verwandelte Wasser in Wein. Sodann zieht unser Herr hinauf nach Jerusalem und übt Gericht aus über die Habgier, die damals sogar in der gerühmten Stadt der Heiligkeit herrschte. Wir erhalten auch einen kleinen beiläufigen Blick auf das, was unser Herr während dieses Aufenthalts in Jerusalem tat. Er wirkte dort übernatürliche Zeichen; und viele glaubten an Ihn, wenn auch in einer fleischlichen Weise. Darum wird gesagt: „Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle kannte.“ (Johannes 2,24). Dafür eröffnete Er die große Lehre von der neuen Geburt und stellte das Kreuz heraus. Er sollte dort zur Sünde gemacht werden. Wie die Schlange in der Wüste durch Mose erhöht wurde, sollte Er erhöht werden, „auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ (Johannes 3,16). Auch das fand vor den Ereignissen statt, die Matthäus berichtet. Diese Darstellungsweise muß jedem aufmerksamen Leser des Wortes Gottes auffallen. Alle jene Einzelheiten konnten Matthäus nicht unbekannt sein. Sie wären von ihm ganz bestimmt aufgezählt und geschildert worden, wenn er nur einfach als ein Jünger geschrieben hätte, ohne inspiriert zu sein. Andreas, Petrus, Johannes und die übrigen Apostel werden bestimmt immer wieder über ihre erste Begegnung mit dem Heiland gesprochen haben. Und doch sagt Matthäus im Unterschied zu Johannes nicht ein Wort davon, ebenso wenig Markus und Lukas. Wenn wir die Evangelien untersuchen, finden wir dafür die wahre Lösung. Auslassungen und Einfügungen beruhen nicht auf der Unwissenheit des einen Evangelisten und der Kenntnis eines anderen. Gott will in den verschiedenen Evangelien uns besondere Lektionen lehren. Daher berichtet Er in ihnen jeweils auf eine andere, Seinem Zweck angemessene Weise von Jesus.

Warum stehen die im vorigen Absatz erwähnten Begebenheiten richtigerweise im Johannesevangelium. Offensichtlich, weil sie mit der Wahrheit, die dort gelehrt wird, übereinstimmen! Bei Johannes sehen wir von Anfang an den völligen Ruin des Menschen und der Welt. Schon das erste Kapitel gibt uns einen praktischen Beweis vom Zustand des Judentums. Der Herr wurde von den Seinigen nicht angenommen, obwohl Er zur vorhergesagten Zeit gekommen war. Darum rief Er Seine eigenen Schafe mit Namen und führte sie hinaus (Johannes 10); denn das Zeugnis Johannes des Täufers hinterließ keine bleibende Wirkung bei der Volksmenge. Es ging zwar von Mund zu Mund; doch die Ohren jener, die nicht glaubten, beachteten es nicht. „Ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe.“ (Johannes 10,26). So wurden die Schafe einzeln mit Namen gerufen; und eines von ihnen empfing in Übereinstimmung mit dem Charakter des Johannesevangeliums einen neuen Namen (Johannes 1,42).

Bei Matthäus finden wir keines dieser auffallenden Ereignisse. Durch ihn stellt uns der Heilige Geist Jehova-Jesus, den Messias, vor. Er wirkte Wunder, erfüllte die Prophetie und erklärte das Reich der Himmel. Dabei litt Er Mangel, wurde verachtet und war der Gefährte jener in Galiläa, die sich in derselben Lage befanden wie Er; denn Er wird hier nicht als der Sohn Gottes – weder als der ewige Sohn, noch als geboren in der Welt – gesehen. Er nahm jedoch einen Platz der Absonderung ein, um die große Vorhersage zu erfüllen, welche der Prophet Jesaja durch die Inspiration Gottes vor Hunderten von Jahren geoffenbart hatte. Wir stellen nämlich fest, daß der Umzug unseres Herrn von Nazareth nach Kapernaum als die Erfüllung einer Prophezeiung Jesajas dargestellt wird, welcher sagt: „Land Zabulon und Land Nephtalim, gegen den See hin, jenseit des Jordan, Galiläa der Nationen.“ (V. 15). Dieses Gebiet lag außerhalb des Israel rechtmäßig zugewiesenen Landes. Es sollte erst in der Zukunft Israel gehören, wurde jedoch schon früher von einigen Stämmen in Besitz genommen. Streng gesehen lag es aber jenseits der Grenzen des verheißenen Landes. Der Herr wandelte durch das Galiläa der Nationen; und indem Er das tat, erfüllte Er die Prophetie. Die Juden hätten das eigentlich wissen müssen. Das Volk, welches dort in Finsternis saß, „hat ein großes Licht gesehen, und denen, die im Lande und Schatten des Todes saßen, Licht ist ihnen aufgegangen.“ (V. 16).

Wenn wir uns zum Propheten Jesaja wenden, erkennen wir die Bedeutung dieses Zitats noch mehr. Es ist Teil einer wichtigen prophetischen Linie, in welcher der Herr die außerordentliche Widerspenstigkeit Israels und die Gerichte offen legt, welche auf Sein Volk herabfallen werden, weil es nicht auf Seine Stimme hört. Seine Hand war gegen sie ausgestreckt. „Bei dem allen wendet sich sein Zorn nicht ab, und noch ist seine Hand ausgestreckt.“ (Jesaja 5,25). Inmitten dieser Handlungsweise Gottes wird in Jesaja 6 die Herrlichkeit des Herrn geoffenbart. Gott handelt in Seiner Herrlichkeit. Nun wissen wir, daß diese Herrlichkeit auf der Person Christi ruht, wie Johannes 12 erklärt. Der Herr verkündet folglich in Jesaja 7 eine völlig über der Natur stehende Geburt. Dort geht es nicht mehr um eine herrliche Person, die auf einem erhabenen Thron, weit entfernt von den Menschen, sitzt, sondern um die Menschen, welche von Ihm eine Botschaft der Barmherzigkeit inmitten des Gerichts empfangen. Kapitel 7 enthüllt die große Wahrheit der Inkarnation [Menschwerdung]. Der König der Herrlichkeit, Jehova der Heerscharen, sollte ein Säugling werden, geboren von einer Jungfrau. Das nächste Kapitel zeigt etwas anderes. Israel kümmerte sich um das herrliche Kind der Jungfrau genauso wenig, wie vorher um die Warnungen Gottes. Im Gegenteil, das Volk verachtete und verwarf Es.

Darum setzt das 8. Kapitel einen gottesfürchtigen Überrest voraus, der mehr und mehr von dem furchtbaren Zustand der Dinge in Israel abgesondert wird, während letzteres sich mit den Nationen verbindet und von „Verschwörung“  spricht. Israel nimmt den Platz völligen Unglaubens ein. Die Bewohner Judäas sind die Anführer dieser Rebellion gegen Gott. Was aber tut Er inmitten dieses Zustands? „Binde das Zeugnis zu, versiegele das Gesetz unter meinen Jüngern. – Und ich will auf Jehova harren, der sein Angesicht verbirgt vor dem Hause Jakob, und will auf ihn hoffen. Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat, wir sind zu Zeichen und zu Wundern in Israel, vor Jehova der Heerscharen, der da wohnt auf dem Berge Zion.“ (Jesaja 8,16–18). Wir finden also ausdrücklichst erklärt, daß es Gott gefällt, wenn Er wenigstens einen kleinen Überrest in der Mitte Seines Volkes besitzt. Wenn Israel den Messias verwirft, erscheint ein abgesonderter Überrest. Zuletzt sollte in der ganzen Fülle dieser Gnade auch der Segen kommen. Am Anfang würde das Werk verächtlich und klein sein; und das sind genau die Umstände, die unser Herr jetzt sichtbar werden läßt. „Und wenn sie zu euch sprechen werden: Befraget die Totenbeschwörer . . .  Soll nicht ein Volk seinen Gott befragen? soll es für die Lebenden die Toten befragen? Zum Gesetz und zum Zeugnis! Wenn sie nicht nach diesem Worte sprechen, so gibt es für sie keine Morgenröte.“ (Jesaja 8,19–20).

Die Prophezeiung geht dann weiter: „Doch nicht bleibt Finsternis dem Lande, welches Bedrängnis hat. Um die erste Zeit hat er das Land Sebulon und das Land Naphtali verächtlich gemacht; und in der letzten bringt er zu Ehren den Weg am Meere, das Jenseitige des Jordan, den Kreis der Nationen. Das Volk, das im Finstern wandelt, hat ein großes Licht gesehen [d. h., den Messias]; die da wohnen im Lande des Todesschatten, Licht hat über sie geleuchtet.“ (Jesaja 9,1–2). Während die Nation so schwer wie niemals vorher durch die Heiden heimgesucht wird – und die römische Unterdrückung übertraf die alte chaldäische bei weitem –, soll, wie später in diesen Prophezeiungen gezeigt wird, der Messias kommen. Doch auch Seine Verachtung und Verwerfung durch die Menschen und insbesondere durch die Juden wird vorhergesagt. Gerade zu jener Zeit, in der das Volk, welches Seine Herrlichkeit hätte erkennen müssen, Ihn verwarf, sollte an jenem verachteten Ort – im Galiläa der Nationen, unter den Ärmsten der Juden und wo Nichtjuden mit ihnen vermischt lebten – ein großes Licht aufstrahlen. In dieser Gegend wohnten Menschen, die noch nicht einmal ihre eigene Sprache richtig aussprechen konnten. (Matthäus 26,73). Dort sollte dieses große, himmlische Licht aufleuchten; dort sollte der Messias anerkannt und aufgenommen werden. Wir erfahren also, wie vollkommen diese Prophezeiungen zu dem Evangelium, das wir betrachten, paßt; denn wir sehen hier eine Person, die im vollsten Sinn der Jehova-Messias ist, ein göttlicher König und nicht einfach ein menschliches Wesen. Doch während Er von der Nation geringschätzig behandelt und von ihren Führern verachtet wurde, machte Er sich in Gnade unter den am meisten Geschmähten an der äußersten Grenze zu den Nationen bekannt. Wonach Könige vergeblich ausgeschaut hatten, was Propheten zu sehen begehrten, das durften ihre Augen anschauen. Der Herr begann, einen Überrest in Israel, im Galiläa der Nationen, für sich abzusondern. Das hält von Anfang an das Thema des Matthäusevangeliums aufrecht und bestätigt es.

Aber wir lesen hier noch mehr. „Von da an begann Jesus zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen.“ (V. 17). Offensichtlich beginnt hiermit Sein öffentliches Predigen. Die Rede an Nikodemus enthält einen ganz anderen Gegenstand. (Johannes 3). Warum finden wir die samaritische Frau (Johannes 4) nicht bei Matthäus? Warum passen diese Ereignisse in das Johannesevangelium? Bei Matthäus geht es um die Erfüllung der Prophezeiungen über den Messias. Gott wollte zeigen, daß bis zur Beendigung des Werkes des Täufers von Seiner Seite jedes Zeugnis abgelegt worden war. Jesus wartete im Matthäusevangelium auf diesen Abschluß. Im Johannesevangelium wartete Er auf nichts. Er lieferte das denkbar erhabenste Zeugnis über das Reich, und zwar genaugenommen nicht über das Reich der Himmel, sondern über das Reich Gottes. Er sagt, daß dazu unbedingt ein Leben benötigt wird, welches der Mensch von Natur nicht hat und das allein Gott geben kann. Dazu war das Kreuz als Ausdruck des Gerichts Gottes über die Sünde, aber in Gnade gegen die Sünder – gegen die Welt –, notwendig. Folglich besteht die Rede in Johannes 3 aus zwei Teilen. Erstens, Gott gibt ein Leben, das niemals sündigt und vollkommen heilig ist. Zweitens, Jesus starb als Sühne für die Sünden des alten Lebens, welches niemals in die Gegenwart Gottes treten konnte. Obwohl die Gläubigen das neue Leben haben müssen, kann dieses keine Sünde auslöschen. Sowohl der Tod wird gefordert als auch das Leben; beide brachte der Heiland. Als Sohn Gottes ist Er die Quelle des Lebens; und Er starb als Sohn des Menschen. Diese Wahrheiten werden von Ihm ausführlich am Anfang des Johannesevangeliums herausgestellt.

Wie ich gesagt habe, wartete Jesus im Matthäusevangelium, bis das Zeugnis Johannes des Täufers abgeschlossen war. Danach trat Er Seinen öffentlichen Dienst an. All dieses harmoniert vollkommen miteinander. Wenn von unserem Herrn berichtet würde, daß Er dem Nikodemus das Evangelium des  Reiches gepredigt habe, dann hätte darin ein Widerspruch gelegen. Aber Er tat es nicht. Er zeigte die Notwendigkeit einer neuen Geburt für einen jeden, der das Reich  Gottes sehen wollte. In unserem Evangelium blickte Er jedoch auf das, was zwar aus einer himmlischen Quelle kam, aber diese Erde betraf, nämlich das Reich der  Himmel nach der Prophetie Daniels. Er wartete deshalb, bis Sein irdischer Vorläufer seine Aufgabe völlig erfüllt hatte. Der Dienst des Johannes wird dem vorhergesagten Dienst des Elias gleichgesetzt. (Kap. 17,12–13; vergl. Maleachi 4,5–6). Der Vorläufer mußte sein Werk beendet haben, bevor der Herr Sein eigenes begann. Daher unterläßt Matthäus jede Anspielung auf öffentliche Handlungen Christi, die vor der Gefangennahme des Johannes geschahen. Er stellte den Juden das Reich der Himmel in dem Charakter vor, den ihre Propheten vorausgesagt hatten.

Laßt uns sehen, wie der Dienst unseres Herrn im Lukasevangelium eröffnet wird! Zu diesem Zweck genügt der Inhalt des vierten Kapitels. Der Herr kehrte in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück; „und das Gerücht über ihn ging aus durch die ganze Umgegend. Und er lehrte in ihren Synagogen, geehrt von allen. Und er kam nach Nazareth, wo er erzogen war.“ (Lukas 4,14–16). Dies ist eine frühe Szene. (Er ist jetzt nicht in Kapernaum.). Matthäus läßt sie ganz weg. Das fällt besonders auf, weil Lukas nicht zu denen gehört, die persönlich mit dem Herrn gewandelt waren wie Matthäus. Doch solange wir nicht glauben, daß Gott die Hand eines jeden Schreibers geleitet und Sein Siegel auf ihre Werke gedrückt hat, können wir die Bibel nicht verstehen. Anstatt uns dem Denken Gottes zu unterwerfen, fügen wir dann unsere eigenen Gedanken hinzu. Wir müssen auf Gott vertrauen, der Sein gesegnetes und unendliches Licht auf uns scheinen läßt. Warum stellt Gott dieses Ereignis zu Nazareth nur im Lukasevangelium an den Anfang des Weges Jesu? Wird Er hier als der Messias geschildert? Nein, das ist nicht das Thema des Lukas. Auch geht es nicht um Seinen Dienst in einer Aneinanderreihung Seiner Werke nach ihrem Ablauf. Das lesen wir bei Markus. Aber Lukas sowie auch Matthäus ändern die Abfolge der Geschehnisse, um die sittlichen Gegenstände ihres jeweiligen Evangeliums besser hervorzuheben. Lukas berichtet uns die Umstände dieser Begebenheit in der Synagoge, Matthäus nicht. Wenn wir das Lukasevangelium mit geistlicher Einsicht lesen, welcher allgemeine Eindruck wird dann in uns geweckt? Ist es nicht ein Bild von jenem gesegneten Mann, der mit Heiligem Geist gesalbt war und umherging, um Gutes zu tun? Das ist auch genau der Charakter, in dem Petrus in der Apostelgeschichte Jesu und Sein Leben dem Kornelius darstellt: „Jesum, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geiste und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohltuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm.“ (Apostelgeschichte 10,38). Danach spricht Petrus von Seinem wunderbaren Werk in Seinem Tod und Seiner Auferstehung und von ihren Früchten für den Gläubigen.

Was ist also das erste Ereignis, das uns vom Dienst unseres Herrn im Lukasevangelium berichtet wird? Nazareth, das verachtetste Dorf in Galiläa, war es, wo unser Herr am verächtlichsten behandelt wurde. Es war Seine Vaterstadt, in der Er bisher die Tage Seines persönlichen Lebens im gesegneten Gehorsam gegen Menschen und in Abhängigkeit von Gott zugebracht hatte. Er betrat dort am Sabbat die Synagoge und stand auf, um aus dem Propheten Jesaja die Worte vorzulesen: „„Der Geist Jehovas 3 ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt ... Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn.“ Und als er das Buch zugerollt hatte ...“ (Lukas 4,18–20). In der Mitte eines Satzes hörte Er auf. Warum? Aus einem sehr herrlichen Grund! Er kam jetzt als Herold der Gnade, als Diener der göttlichen Güte gegen den armen, elenden Menschen. In der Prophezeiung Jesajas war das Gericht mit der Barmherzigkeit vermischt. Auch das Matthäusevangelium spricht von Gericht über die Juden und Barmherzigkeit für das verachtete Galiläa. Aber bei Lukas geht es um einen erhabeneren Gesichtspunkt. Wir finden kein Wort von dem Gericht. Nur die Fülle der Gnade, die in Christus gekommen war, wird von Ihm erwähnt. Der Herr war mit der ganzen Macht und Bereitschaft erschienen, Segen auszuteilen. Zu diesem Zweck war der Geist Jehovas auf Ihm. Er sollte das „angenehme Jahr des Herrn“  verkündigen. Damit schloß Er das Buch. Er wollte die nächsten Worte – „und den Tag der Rache unseres Gottes“ (Jesaja 61,2) – nicht hinzufügen. Er hörte auffallenderweise vor diesen Worten auf. Sein augenblicklicher Auftrag, zu dem Er vom Himmel gekommen war, enthielt nicht die Ausübung der Rache. Dazu würde Er erst in der Zukunft durch den Menschen gezwungen werden, weil dieser die Gnade verwarf. Er war hingegen gekommen, um die göttliche Gnade zu offenbaren, die in einem vollkommenen und ununterbrochenen Strom aus Seinem Herzen hervorfloß. Das stellte unser Herr hier heraus. Wohin paßt eine solche Szene? Genau dahin, wo sie steht, nämlich in das Lukasevangelium! Man kann sie nicht in das Matthäus- oder Johannesevangelium verpflanzen. Über ihr liegt eine Stimmung, die zum dritten Evangelium und nicht zu den übrigen paßt. Einige Umstände im Dienst unseres Herrn werden in allen Evangelien erwähnt; dieser gehört nicht dazu. Er stimmt mit dem Gedankengang des Lukasevangeliums überein; darum wird er dort, und nur dort, gefunden. Das mag helfen, die kennzeichnenden und von Gott bewirkten Unterschiede in den Evangelien zu beleuchten. Eine Evangelienharmonie ist demnach der Versuch, Dinge, die nicht zusammenpassen, in eine einzige Schablone zu quetschen.

Wenn ich noch einige Worte zum Bericht im Lukasevangelium hinzufügen darf, finden wir dies noch mehr bestätigt. Als die Zuhörer an Seinen Lippen hingen, um „die Worte der Gnade“ – so nennt sie der Heilige Geist – zu hören, waren aller Augen auf Ihn gerichtet. „Er fing aber an, zu ihnen zu sagen: Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt. . . . Und sie sprachen: Ist dieser nicht der Sohn Josephs?“ (Lukas 4,21–22). Das war der Unglaube ihrer Herzen. Jesus wurde von den Menschen verachtet und verworfen, und zwar nicht nur von den stolzen Männern Jerusalems, sondern auch von den Einwohnern Nazareths. Das ist Lukas' Thema, welcher die tieferen Gedanken aufzeigt. Es waren nicht nur Männer, die in dem Gesetz ausgebildet waren, sondern auch die Herzen der Menschen, welche dem Herrn widerstanden, wo immer Er sich aufhielt. Sogar in Nazareth, sogar angesichts der gnädigsten Worte, die menschliche Lippen jemals aussprachen, folgte die Verachtung. „Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet allerdings dieses Sprichwort zu mir sagen: Arzt, heile dich selbst; alles was wir gehört haben, daß es in Kapernaum geschehen sei, tue auch hier in deiner Vaterstadt!“  Wir erfahren eindeutig, daß der Herr in Kapernaum schon viele Wunder getan hatte, und zwar vor dem jetzigen Ereignis. Aber der Geist Gottes berichtet uns ausführlich als erstes von diesem. Der Herr stellte jedoch noch eine andere Wahrheit vor, auf die ich hinweisen muß. Er nahm Beispiele aus der jüdischen Geschichte, um den Unglauben der Juden und die Güte Gottes gegen die Heiden zu veranschaulichen. „In Wahrheit aber sage ich euch: Viele Witwen waren in den Tagen Elias' in Israel, als der Himmel ... verschlossen war; ... und zu keiner von ihnen wurde Elias gesandt, als nur nach Sarepta.“ (Lukas 4,25–26). Das soll sagen: Gott wendet sich, wenn Israel nicht glaubt, an die Heiden; und diese würden hören. Ein großer Gesichtspunkt in Lukas' Evangelium ist neben der Entfaltung der Fülle der Gnade in Jesus die Hinwendung Gottes an die Nationen, und zwar in Barmherzigkeit. Die erste Predigt unseres Herrn, die durch Lukas berichtet wird, stellt schon den eigentlichen Gegenstand des Evangeliums vor. Folglich wurden die Hörer, als der Herr diese Worte aussprach, mit Wut erfüllt. „Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn bis an den Rand des Berges, auf welchem ihre Stadt erbaut war, um ihn so hinabzustürzen. Er aber, durch ihre Mitte hindurchgehend, ging hinweg. Und er kam nach Kapernaum.“ (Lukas 4,29–31). Dort beschäftigte sich der Herr mit einem Mann, der von einem Dämon besessen war. Das ist in diesem Evangelium das erste Wunder, welches detailliert geschildert wird. Erst im nächsten Kapitel finden wir die Berufung von Simon Petrus, Andreas und anderer Jünger in Seine Nachfolge. Alles wird uns mit größter Sorgfalt berichtet. Dennoch sind diese Unterschiede sehr auffällig.

Wenn wir uns nämlich zurück zum Matthäusevangelium wenden, lesen wir dort kein Wort von Nazareth oder der Austreibung eines Dämonen aus einem Besessenen. Wir sehen nichts anderes als unseren Herrn, wie Er anfing zu predigen. Und als Er am See von Galiläa entlang wandelte, „sah er zwei Brüder: Simon, genannt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die ein Netz in den See warfen, denn sie waren Fischer. Und er spricht zu ihnen: Kommet mir nach, und ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ (V. 18–19). Der Bericht ist äußerst knapp; wir erfahren keine Einzelheiten. Diese erhalten wir von Lukas. (Kap. 5). Der Grund dafür ist, wie ich annehme, darin zu suchen, daß er das Evangelium schrieb, in dem das Herz des Menschen in besonderer Weise sittlich erforscht wird. Lukas stellt vor allem zwei Wahrheiten heraus: Zum einen das, was das Herz Gottes für den Menschen, und zum anderen, was das menschliche Herz von Natur für Gott empfindet. Außerdem beschreibt er, wie dieses Herz durch die Gnade Gottes verändert wird. Nehmen wir als Beispiel das Gleichnis vom verlorenen Sohn! (Lukas 15). Werden dort nicht die Gnade Gottes und die Bosheit des menschlichen Herzens völlig geoffenbart? Erkennen wir nicht, wie der Arme zu sich selbst kommt und ihn die Güte Gottes einhüllt? Genau diese Botschaft verkündet Lukas. Sie ist die Summe und Inhaltsangabe seines ganzen Buches. Aus diesem Grund schildert er die Erfahrungen des Petrus, als er in den Dienst Christi berufen wurde. Wir hören, wie der Herr seiner Furcht begegnete und ihn zum Menschenfischer machte. Außerdem wird die Person des Petrus herausgestellt; denn solche Erfahrungen haben nur dann Wert, wenn sie in einem Einzelnen stattfinden. Erfahrungen müssen zwischen einer Seele und Christus erlebt werden. In dem Augenblick, wenn sie verschwommen oder ein Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit werden, verlieren sie ihren Wert. Sie werden dann zu einer Schlinge für das Gewissen. Es besteht die Gefahr, daß wir wiederholen, was wir von anderen gehört haben, oder übernehmen wollen, was eigentlich unserer Seele nur schadet. Unser  eigenes Gewissen muß vor dem Herrn geübt sein. Deshalb greift Lukas eine Einzelperson heraus und berichtet ausführlich von ihrer Erfahrung mit dem Herrn.

Das ist nicht der Gegenstand des Matthäusevangeliums. Hier sehen wir einen verworfenen Messias, dessen Vorläufer gefangen worden war und der bald erleben mußte, daß auf Ihn Schlimmeres als ein Gefängnis wartete. Aber vor allem sollte der Herr die Prophezeiungen erfüllen. Er befand sich am verachtetsten Ort, indem Er die Prophezeiung Jesajas erfüllte, welche erklärte, daß nur unter Seinen Jünger das Gesetz wirklich hoch gehalten wurde, während der Herr Sein Angesicht von Israel abwandte. Er wollte Männer um sich haben, die sinnbildliche Stellvertreter dieses gottesfürchtigen Überrestes in Israel sein konnten. Darum berief Er gleich anfangs zwei Brüder, Simon, genannt Petrus, und Andreas, seinen Bruder. Es wäre ein Irrtum, wenn wir annähmen, daß unser Herr hier zuerst ihre Bekanntschaft machte. Sie kannten den Herrn schon lange. Woher wissen wir das? Johannes spricht davon. Wenn wir uns mit diesem Gegenstand beschäftigen, erkennen wir, daß all die Ereignisse der ersten vier Kapitel des Johannesevangeliums vor der Berufung der Jünger stattfanden. Die über unseren Herrn berichteten

Begebenheiten in Jerusalem und in Galiläa sowie das Gespräch mit der Frau in Samaria geschahen, bevor Simon und Andreas aus ihrer täglichen Arbeit herausgerufen wurden. Für die Berufung in einen besonderen Zweig des Dienstes Gottes ist nämlich ein zweites Wirken Christi notwendig.

Die Offenbarung Christi an die Seele bedeutet nicht, daß jene Seele zu einem Menschenfischer gemacht wird. Um sich mit anderen Seelen beschäftigen zu können, ist ein besonderer Glaube notwendig. Der einfache, errettende Glaube, der Christus für sich selbst annimmt, ist nicht dem Hören des Rufes Christi gleichzusetzen, welcher uns aus allen natürlichen Bindungen dieses Lebens herausruft, um Sein Werk zu tun. Das erfahren wir hier. Der Herr in Seiner Verwerfung ist es, der beruft; und Er sorgt dafür, daß Seine Stimme von diesen vier Männern und noch anderen gehört wird. Sie glaubten schon vorher an Ihn und hatten ewiges Leben. Doch ewiges Leben – so gesegnet es ist – kann ein Mensch auch besitzen, während er noch zum großen Teil an der Welt hängt und mit dem beschäftigt ist, was ihm das Leben auf der Erde angenehm macht. Er kann noch ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein. Viele gottesfürchtige Menschen leben weiterhin von der Welt ungetrennt.

Damit der Herr einen Menschen zu Seinem Begleiter in Seinem Dienst machen kann und damit dieser geeignet ist, Seine Absichten zu erfüllen, muß Er ihn herausrufen. Doch wenn er einen Vater hat? Was soll dann geschehen? Das macht nichts! Der Ruf Christi ist wichtiger als jedes andere Anrecht. Sie warfen ein Netz in den See; und Er sprach zu ihnen: „Kommet mir nach!“  Vielleicht hatten sie viele Fische gefangen; was sollte damit geschehen? „Sie aber verließen alsbald die Netze und folgten ihm nach. Und als er von dannen weiterging, sah er zwei andere Brüder; Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Schiffe mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze ausbesserten; und er rief sie.“ (V. 20–21). Das bedeutete zweifellos Kampf. Sie besserten mit ihrem Vater zusammen ihre Netze aus, als der Herr sie rief; und trotzdem verließen sie sofort ihre Netze und ihren Vater und folgten Ihm. Was war der Grund? Sie wußten inzwischen, wer Christus war. Sie wußten, daß Er der Messias war, der gesegnete Gegenstand der Hoffnung, die Gott von Anfang an den Vätern gegeben hatte. Und nun war Er zu den Kindern gekommen. Er berief sie. Konnten sie nicht alles, was sie hatten, Seinen Händen anvertrauen und darauf bauen, daß Er für ihren Vater sorgen würde? Sicherlich! Ab jetzt folgten sie Jesus nicht allein als dem Geber des ewigen Lebens, sondern auch als ihrem Herrn, dem sie als Knechte angehörten. Das geschah aus Glauben, welcher sie auch befähigte, all das, was ihnen in dieser Welt gehörte, Seiner Hut anzubefehlen. Zweifellos mußte der Ruf des Herrn wichtiger sein als ihre natürlichen Verpflichtungen.

Offensichtlich war das ein außergewöhnlicher Fall. Normalerweise werden Menschen nicht zu einem solchen Werk berufen, doch kann der Herr in besonderen Umständen Seine Knechte in dieser speziellen Weise zum Dienst für Sich auffordern. Wie könnte jemand nutzbringend für andere Seelen wirken, wenn er nicht etwas von dieser Prüfung an seiner eigenen Seele erfahren hat? Der Herr wird uns hier vorgestellt, wie Er von Anfang an diesen gottesfürchtigen Überrest für Sich selbst zubereitet. „Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat, wir sind zu Zeichen und zu Wundern in Israel.“ (Jesaja 8,18). Diese Worte erfüllte der Herr jetzt. Das war indessen nicht alles. „Und Jesus zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen unter dem Volke. Und sein Ruf ging aus in das ganze Syrien; und sie brachten zu ihm alle Leidenden, die mit mancherlei Krankheiten und Qualen behaftet waren, und Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte; und er heilte sie.“ (V. 23–24).


Wir müssen hier beachten, daß wir nirgendwo sonst außer im Matthäusevangelium, eine solche Anzahl von Werken und Predigten des Herrn in einigen wenigen Versen vereinigt finden. Matthäus gibt diese Zusammenfassung, bevor er uns die Belehrung vorstellt, die gewöhnlich „Bergpredigt“ genannt wird. Warum wird der normale Ablauf des Dienstes unseres Herrn in dieser knappen Form geschildert? Das Matthäusevangelium soll uns zeigen, wie nach der Berufung dieser Jünger durch den Herrn Sein täglicher Dienst dem Volk vorgestellt wird, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf Seine Lehre zu richten. Der Herr hatte überall durch das ganze Syrien ein volles Zeugnis abgelegt. Aus allen Landesteilen waren Menschen herbeigezogen worden. Danach gibt uns der Heilige Geist eine Übersicht über das Reich der Himmel in Hinsicht auf seine Ziele und seinen Charakter. Die Umstände werden von Ihm so angeordnet, um das allgemeine Interesse auf diesen Gegenstand zu ziehen. Alle warteten voller Spannung auf die Worte des Herrn, da entfaltete Er das Wesen des Reiches der Himmel. Matthäus wußte genau, daß die Bergpredigt in Wirklichkeit viel später gehalten wurde. Er hatte sie selbst gehört. Doch seine eigene Berufung wird uns nicht vor Kapitel 9 berichtet. Erst nach der Berufung der zwölf Jünger nahm der Herr Seinen Platz auf dem Berg ein. (vgl. Lukas 6). Dennoch berichtet Matthäus viel früher davon. Er sollte nicht den Zeitpunkt, zu dem unser Herr diese Predigt hielt, festhalten, sondern den in ihr angekündigten Wechsel. Zuerst tat Jesus alle diese mächtigen Taten, die Ihn als den wahren Messias bezeugten, danach stellte Er Seine Lehre vollständig heraus. Die Bergpredigt braucht, geschichtlich gesehen, nicht als eine zusammenhängende Rede betrachtet zu werden, sondern kann durchaus in mehreren Teilen gehalten worden sein. Nirgendwo wird gesagt, daß ihr ganzer Inhalt in geschlossener Folge ausgesprochen wurde. Wir erfahren nur allgemein, daß Er damals auf dem Berg in dieser Weise sprach und das Volk belehrte. Vielleicht bestand sie aus mehreren Predigten, die aus unterschiedlichen Anlässen, von denen Matthäus nichts sagt, gehalten wurden. Beim Vergleich der Evangelien erkennen wir, daß verschiedene Teile dieser Predigt von Lukas in unterschiedlichen Zusammenhängen berichtet werden, während Matthäus sie alle gemeinsam anführt. Der menschliche Verstand zieht daraus sofort die Schlußfolgerung, daß diese Schriftstellen ein vollständiges Durcheinander enthalten, anstatt darauf zu vertrauen, daß Gott immer recht hat. In der Bibel ist alles vollkommen. Es war der Heilige Geist, der jede Einzelheit entsprechend dem Thema, das jeweils vor Ihm stand, zusammenstellte.

Ich hoffe, wenn der Herr will, demnächst ausführlich auf diese reichhaltige und gesegnete Predigt unseres Herrn eingehen zu können, um ihre große Bedeutung aufzuzeigen und deutlich zu machen, wie genau sie zum Thema des Matthäusevangeliums paßt. Nur Matthäus gibt sie uns so ausführlich. In den Evangelien von Markus und Johannes fehlt sie völlig. Lukas berichtet uns einzelne Teile davon. Jetzt möchte ich indessen nur den Gegenstand, den wir betrachtet haben, eurer Aufmerksamkeit anbefehlen. Dabei vertraue ich, daß die allgemeinen Bemerkungen, die schon gemacht wurden, sich als ein Anreiz für weitere und von Gebet begleitete Untersuchungen erweisen. Mögen die Hinweise, die gemacht wurden, einigen Seelen helfen, das Wort Gottes mit mehr Gewinn zu lesen und mit mehr Verständnis in die Gedanken Gottes einzudringen! Außerdem sollen sie einen Schlüssel liefern, um Schwierigkeiten in den Evangelien zu lösen.

Fußnoten

  • 1 Anm. d. Übers.: Kelly zitiert hier nach seiner englischen Bibel („Authorized Version“) die Worte in 2. Korinther 5,6: „We are always confident“ („Wir sind allezeit voll Vertrauen.“). Richtig übersetzt muß es aber wie in unserer „Elberfelder Bibel“ heißen: „So sind wir nun allezeit gutes Mutes.“ Die wahre Bedeutung des griechischen Textes der zitierten Bibelstelle gibt demnach nicht den von Kelly verfolgten Gedanken wieder. Daher erlaube ich mir, einen anderen Vers anzuführen, der dem Gedankengang Kellys besser entspricht.
  • 2 Anm. d. Übers.: Zu diesem Ergebnis kommen wir, wenn wir den Bericht des Markus mit dem des Johannes vergleichen. Der Herr Jesus begann Seinen öffentlichen Predigtdienst entsprechend Markus 1,14, nachdem Johannes der Täufer im Gefängnis war. Nach dem Johannesevangelium geschah diese Gefangennahme irgendwann zwischen dem 3. und 5. Kapitel (vergl. Kap. 3, 24). Auf jeden Fall gehört die Speisung der Fünftausend in Kapitel 5 schon zum öffentlichen Wirken des Herrn wie uns Matthäus (Kap. 14) und Markus (Kap. 6) zeigen. Folglich gehören die durch Johannes berichteten Wunder und Predigten aus der Zeit vorher nicht zu diesem öffentlichen Dienst.
  • 3 siehe Fußnote 3 in Kapitel 1
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