Die ersten Jahrzehnte des Christentums
Kommentar zur Apostelgeschichte

Kapitel 27

Die ersten Jahrzehnte des Christentums

Verse 1-44

Paulus und einige andere Gefangene wurden einem Hauptmann mit Namen Julius übergeben, um nach Rom gebracht zu werden. Sie stiegen in ein adramyttisches Schiff, das der Küste Asiens entlang fahren sollte. Paulus hatte Aristarchus zum Begleiter, dem wir schon zusammen mit Gajus in Ephesus begegnet sind (Apg 19,29). Er war auch bei denen gewesen, die Paulus von Griechenland nach Asien begleitet hatten (Apg 20,4). Paulus nennt ihn seinen Mitgefangenen (Kol 4,10) und seinen Mitarbeiter (Phlm 24). Auch Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, und zweifellos noch andere Brüder waren bei der Reisegesellschaft.

Der Herr wachte über Paulus, seinen treuen Botschafter. Er sorgte dafür, dass er einem Hauptmann übergeben wurde, der ihn menschlich behandelte. In Sidon angekommen, erlaubte er ihm, „zu den Freunden zu gehen, um ihrer Fürsorge teilhaftig zu werden“. Von dort kamen sie nach Myra in Lyzien, wo sie in ein alexandrinisches Schiff stiegen, das nach Italien segelte.

Hier begannen nun die Schwierigkeiten dieser Reise, auf der sich Paulus wieder als Mann Gottes zeigte, der immer in Übereinstimmung stand mit den Gedanken Gottes und sich seiner Stellung bewusst war, wie vorher vor dem König Agrippa.

Die Fahrt war von Anfang an mühsam; der Wind war nicht günstig. Der Insel Kreta entlang fuhren sie nach Schönhafen, in der Nähe der Stadt Lasea. Viel Zeit war schon verflossen und die Fahrt war gefährlich geworden, weil die Zeit des Fastens schon vorüber war. (Die Zeit des Fastens entsprach dem Versöhnungsfest, das im siebten Monat stattfand, also im Herbst. In dieser Jahreszeit war es damals üblich, die Seefahrt bis zum Frühling zu unterbrechen.) Paulus warnte sie davor, die Fahrt fortzusetzen, da sie mit Ungemach und großem Schaden, nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für ihr Leben geschehen würde. Es wäre weise gewesen, auf ihn zu hören und nicht weiter zu fahren. Aber der Hauptmann hatte mehr Vertrauen zum Steuermann und zum Schiffsherrn als zu Paulus. „Da aber der Hafen zum Überwintern ungeeignet war“, wurde beschlossen abzufahren, um, wenn möglich, nach Phönix zu gelangen, einem Hafen am Ende der Insel Kreta, und dort zu überwintern. Ein Südwind schien ihren Vorsatz zu begünstigen. Aber von der Insel herab, in deren Schutz sie segeln wollten, erhob sich ein Sturmwind und riss das Schiff mit sich fort. Man gab es preis und ließ es dahin treiben. Sie ergriffen auch alle Maßnahmen, um das Schiff zu erleichtern, damit es nicht auf die Sandbänke der Syrte verschlagen würde. Viele Tage lang sahen sie weder Sonne noch Sterne, alle Hoffnung auf Rettung war entschwunden.

Während dieser Zeit nahm Paulus Zuflucht zu seinem Gott. Nachdem er seinen Gefährten zu verstehen gab, man hätte ihm freilich gehorchen und nicht von Kreta abfahren sollen, um Ungemach und Schaden zu vermeiden - man sieht, dass Paulus gegenüber materiellen Verlusten nicht gleichgültig war - ermahnte er sie, guten Mutes zu sein, denn sie alle würden am Leben bleiben. „Denn“, sagte er zu ihnen, „ein Engel des Gottes, dem ich gehöre und dem ich diene, trat in dieser Nacht zu mir und sprach: Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor dem Kaiser erscheinen; und siehe, Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir fahren. Deshalb seid guten Mutes, ihr Männer! Denn ich vertraue Gott, dass es so sein wird, wie zu mir geredet worden ist. Wir müssen aber auf eine gewisse Insel verschlagen werden.“  Paulus, der in den Augen der Menschen ein Gefangener war, war Gottes Eigentum und diente Ihm. Gott, der Schöpfer aller entfesselten Elemente, die sich seinen Vorsätzen entgegenzustellen schienen, hatte alles in seiner Hand. Er sandte seinen Diener nach Rom. Wer konnte Ihn daran hindern? Die Worte von Paulus, die er mit göttlicher Vollmacht aussprach und die diesen Menschen völlig fremd war, brachte sie unter seine Abhängigkeit. Von nun an war er es, dem sie gehorchten.

Als die vierzehnte Nacht angebrochen war, ermittelten die Matrosen mit dem Senkblei die Tiefe des Wassers und merkten, dass sie sich irgendeinem Land näherten. Nun versuchten sie, aus dem Schiff zu fliehen. Paulus aber sprach zu dem Hauptmann und den Soldaten: „Wenn diese nicht im Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden.“ Dann hieben die Soldaten die Taue des Beibootes ab, das die Matrosen ins Meer hinabgelassen hatten, um darin zu fliehen. Paulus sagte zu ihnen: „Ihr könnt nicht gerettet werden.“ Dass er selbst gerettet werden würde, wusste er, darin war er nicht von den Matrosen abhängig. Aber wenn wir auch in allem von Gott abhängig sind, dürfen wir doch nicht die natürlichen Mittel vernachlässigen, die Gott in unsere Reichweite stellt. Es geht nicht an, zu sagen: „Bewahre mich, Gott!“ und sich dann willentlich dem Unglück auszusetzen. Das wäre Gott versuchen. So sind wir zum Beispiel auch im Blick auf unseren Lebensunterhalt von Gott abhängig, müssen aber, weil Gott es so angeordnet hat, arbeiten, um zu leben. Nimmt Er jemand die Fähigkeiten weg, es zu tun, so wird Er für das Nötige sorgen, und zwar unter Anwendung von Mitteln, die Er für gut findet.

Paulus ermahnte die Besatzung und die Passagiere des Schiffes, Nahrung zu sich zu nehmen: „Denn dies gehört zu eurer Erhaltung; denn keinem von euch wird ein Haar vom Haupt verloren gehen.“ Ihr Leben war gesichert; aber wenn Gott ihnen Nahrung gegeben hatte, um es zu erhalten, so war jeder verantwortlich, Nutzen daraus zu ziehen. Will Gott, dass Mose oder Elia vierzig Tage lang fasten, so ist Er mächtig, sie dabei aufrecht zu halten. Es war nicht der Eigenwille dieser Männer, so lange ohne Essen zu bleiben.

Nachdem Paulus seine Begleiter ermahnt hatte, Nahrung zu sich zu nehmen, und er selbst Brot genommen hatte, „dankte er Gott vor allen, und als er es gebrochen hatte, begann er zu essen. Alle aber, gutes Mutes geworden, nahmen auch selbst Nahrung zu sich.“ Paulus zeigte, dass er sein Bekenntnis, Gott anzugehören, und Ihm zu dienen, ernst nahm. Von Ihm bekam er seine Nahrung und Ihm dankte er auch vor allen. Er gibt uns da ein schönes Beispiel von Gottesfurcht. Durch das Dankgebet vor einer Mahlzeit bezeugt der Christ vor allen, dass er seine Nahrung von Gott bekommen hat. Das sollte keiner unterlassen. Kann man es nicht laut tun, so tue man es still. Paulus war inmitten dieser 275 Menschen des Schiffes wie ein Anführer, dessen Autorität sich wie von selbst den anderen aufdrängte.

„Als sie sich aber mit Nahrung gesättigt hatten, erleichterten sie das Schiff, indem sie den Weizen in das Meer warfen.“ Da das Schiff aus Ägypten kam, hatte die Ladung wahrscheinlich aus Weizen bestanden. Ohne Geräte und Fracht war es nun leichter; man überließ seine Anker dem Meer, trieb das Schiff auf die Küste zu und ließ es stranden. Hier benutzte Gott wieder den Hauptmann, um das Leben von Paulus zu retten. Denn die Soldaten wollten die Gefangenen töten, um so deren Flucht zu verhindern. Der Hauptmann „befahl, dass diejenigen, die schwimmen könnten, sich zuerst hinabwerfen und an das Land gehen sollten; und die Übrigen teils auf Brettern, teils auf Stücken vom Schiff.“ Wie Paulus es vorausgesagt hatte, „geschah es, dass alle an das Land gerettet wurden“. Der Herr hatte sie ihm geschenkt, wir hoffen, nicht nur für das irdische Leben, sondern auch für die Ewigkeit. Die Beschreibung dieser Reise, die uns der Geist Gottes mit so viel Einzelheiten gibt - im Gegensatz dazu füllt die Beschreibung der Schöpfung nur ein kurzes Kapitel - lehrt uns, dass Gott über allem steht, um die Umstände so zu leiten, dass seine Ratschlüsse erfüllt werden. Das finden wir übrigens vom Anfang bis zum Ende der Bibel bestätigt. Gott führte seinen Diener nach Rom, obwohl menschliche Weisheit und Vorsicht inmitten der entfesselten Naturgewalten zu Schanden geworden waren. Der Sturm diente dazu, dieses zu beweisen. Die Menschen vertrauen nicht auf Gott. Sie ziehen es vor, einen passenden Hafen zum Überwintern zu suchen, und der Südwind scheint ihr Vorhaben zu begünstigen. Die Umstände mögen den Menschen, die nicht auf Gott hören, scheinbar Recht geben. Sie können sich aber von einem Augenblick zum anderen ändern.

Von der Insel aus, deren Schutz sie suchten, kam der Sturmwind über sie. Alle Maßnahmen, die sie gegen den Willen dessen trafen, der da „spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen“ (Ps 107,25), erwiesen sich als eitel. Als alle Hoffnung entschwunden war (V. 20), trat durch den Apostel die Hilfe Gottes auf den Plan. Will man nicht auf Gott hören, muss man die Folgen tragen. Aber Gott hat immer das letzte Wort, zum Nutzen der Seinen und zu seiner eigenen Verherrlichung.

Diese Reise ist auch eine Illustration von dem Leben des Christen durch die Schwierigkeiten dieser Welt hindurch. Zu Beginn scheint es eine unbeschwerte Überfahrt zu werden. Aber der Gegenwind macht sich bald in Form verschiedener Versuchungen und Prüfungen bemerkbar. Die Maßnahmen, die gegen die Schwierigkeiten getroffen werden, führen nicht zum Ziel. Man muss hindurchgehen und Dinge opfern, die man für unentbehrlich hielt. Häufen sich die Schwierigkeiten, so sind wir gezwungen, alles über Bord zu werfen. Und wir verlassen schließlich das Schiff, unseren menschlichen Körper, um das jenseitige Ufer zu erreichen. Wie glücklich sind wir, zu wissen, dass, wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, der innere Tag für Tag erneuert wird und dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir in den Himmeln einen Bau von Gott haben (2. Kor 4,16; 5,1).

Die gleiche Anwendung lässt sich auch auf die Versammlung machen, im Blick auf ihre Verantwortung. Unter günstigen Winden in die See gestochen, konnte sie dem vom Feind entfachten Sturmwind nicht widerstehen. Da sie, statt auf den Herrn zu vertrauen, menschliche Mittel gebrauchte, um ihm zu begegnen, erlitt sie Schiffbruch. Aber der Herr kennt, die sein sind. Sie werden durch Gottes Gnade heil und wohlbehalten ankommen, müssen aber das Schiff der Christenheit in den Fluten des Gerichts über die Welt, mit der sie sich eins gemacht hat, untergehen lassen.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel