Einführender Vortrag zum Titusbrief

Kapitel 2

Einführender Vortrag zum Titusbrief

Kapitel 2 wendet sich von denen, welche in jeder Versammlung und jedem Bezirk führen und vorstehen, den Erlösten selbst zu. Titus wird ermahnt, das auszusprechen, was der gesunden Lehre geziemt. Zunächst geht es um die alten Männer und Frauen, danach um die jüngeren. Alles ist bemerkenswert einfach, häuslich und wohltuend. Nichts kennzeichnet das Christentum mehr als gerade diese Anpassungsfähigkeit und Weite. Wo es keine Niedriggesinntheit, d. i. wahre Größe, gibt, fürchten sich die Menschen vor einer Beschäftigung mit den geringen Dingen. Sie schrecken instinktiv vor einer Berührung der Einzelheiten des täglichen Lebens zurück. Die Kraft Christi macht alles lieblich und kostbar und legt Würde auf die geringsten Dinge, welche Herz und Gesinnung beschäftigen. Wie gesegnet, dass es niemand gibt, mit dem du zu tun hast, der dir nicht zum Gegenstand wird, die Gnade Christi gegen ihn zu entfalten! Mögen wir in uns den Wunsch pflegen, dass sich unserer Leben in zunehmendem Maß dem Bild dessen anpasst, der seine Quelle und sein vollkommenes Vorbild ist!

Folglich stellt der Heilige Geist durch den Apostel, die Dinge und Personen genauso vor Titus, wie sie sind und wie Er sie haben möchte. „Daß die alten Männer nüchtern seien, würdig, besonnen, gesund im Glauben, in der Liebe, im Ausharren; die alten Frauen desgleichen in ihrem Betragen, wie es dem heiligen Stande geziemt, nicht verleumderisch, nicht Sklavinnen von vielem Wein, Lehrerinnen des Guten; auf daß sie die jungen Frauen unterweisen, ihre Männer zu lieben, ihre Kinder zu lieben, besonnen, keusch, mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, gütig, den eigenen Männern unterwürfig zu sein, auf daß das Wort Gottes nicht verlästert werde“ (V. 1–5). Manche denken vielleicht, dass diese Ermahnungen unangebracht seien, indem sie ihr eigenes Urteil diesem entgegenstellen. Sie betrachten es als eine kränkende Darstellung der Christen, als sei es unmöglich, dass gottesfürchtige Männer und Frauen in solche Fallstricke, wie übermäßigen Weingenuss oder Heftigkeit in Wort und Tat, geraten könnten. Wir sollten uns indessen daran erinnern, dass die Verderbnis des Besten zum Schlimmsten führt; und wenn die Christenheit keine bindenden Fesseln aufweist, kann diese Freiheit zu den schändlichsten Ausschweifungen missbraucht werden. Es war weise und notwendig, dass vor allem die jungen Frauen ermahnt wurden, zuhause die Aufsicht zu führen, sich um ihre Kinder zu kümmern und ihren Ehemännern unterwürfig zu sein. Ich glaube, dass wir häufig als Anfangspunkt des Verderbens bei so manchem Christen praktisch eine aus einem verklärten Denken folgende Geringschätzung der geringen Pflichten des täglichen Lebens finden. Wie viele, die später in die Tiefen abscheulicher Sünden fielen, welche selbst das natürliche Gewissen erkennt und tadelt, versagten anfangs in Dingen, die geringfügig und belanglos aussahen!

Der wahre Schutz in Hinsicht auf das Wohlbefinden der Erlösten ist also ein geübtes Gewissen in Selbstgericht vor Gott und Abhängigkeit von Ihm, während gleichzeitig das Herz in jene gesegnete Wahrheit eintritt, die der Apostel vor Titus stellt: Das ewige Leben in Christus bevor die Welt begann. Was läge mehr außerhalb des Blickwinkels heutiger Anschauung als das, was uns hier vorgestellt wird! Meine Seele weiß jedoch, dass ich etwas empfangen habe, das unveränderlich ist, schon vor aller Zeit bestand und sich außerhalb der ersten Schöpfung befindet. Gott offenbart es mir, damit es sich in der Familie, in Gegenwart der Kinder, vor den Menschen im Allgemeinen, bei Jung und Alt beiderlei Geschlechts zeigt und als echt erweist. Es gibt keine Beziehung und keine einzige Angelegenheit allergewöhnlichster Art, welche nicht zum Testfall wird. Das ist ganz besonders im Folgenden dargestellt: „Die Jünglinge desgleichen ermahne, besonnen zu sein, indem du in allem dich selbst als ein Vorbild guter Werke darstellst“ (V. 6–7). Das Beispiel eines bedeutenden Knechtes Gottes ist von großer Reichweite. Darum fügt er hinzu: „In der Lehre Unverderbtheit, würdigen Ernst, gesunde, nicht zu verurteilende Rede, auf daß der von der Gegenpartei sich schäme, indem er nichts Schlechtes über uns zu sagen hat.“

Dieses stellt auch in einer bemerkenswerten Weise heraus, was, nach meiner Ansicht, sehr kennzeichnend für das Christentum ist. Ich beziehe mich auf den großen Wert, welchen Gott auf den Armen, ja, sogar den Sklaven legt. Niemand anderes als nur Gott dachte in dieser Weise an sie, sodass sogar der Unglaube solche Gedanken aus der Bibel gestohlen hat, um sie seitdem in ein Werkzeug zur Verherrlichung des ersten Menschen vor dem großen Endkampf – und niemals mehr als in unseren Tagen 1 – zu verwandeln.

Indem der Apostel an einen geschätzten Mitknecht schreibt, gelangt er bei der Beschäftigung mit den Sklaven zu einer der schönsten Darstellungen der Lehre von der Gnade, welche wir in diesem Brief oder sonstwo finden. Wenn Gott irgendeine Person besonders beachtet, dann ist es jemand, den der Mensch als solcher verachtet. Wenn Gott irgendwen herausstellt, dann geschieht es darum, weil dieser durch die Umstände leicht übergangen wird. „Die Knechte {Sklaven 2} ermahne“, schreibt er dann, „ihren eigenen Herren unterwürfig zu sein, in allem sich wohlgefällig zu machen, nicht widersprechend, nichts unterschlagend“ (V. 9–10). Was! Christliche Sklaven? Gibt es irgendeine Verfehlung, in welche Satan nicht verführt? In welche Schlingen vermögen Gläubige nicht zu fallen – insbesondere jene, die es für unmöglich halten? „Nicht widersprechend, nichts unterschlagend, sondern alle gute Treue erweisend, auf daß sie die Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist, zieren in allem.“  Hier öffnet Paulus uns einen lieblichen Blick darauf, was die Lehre unseres Heiland-Gottes ist. „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, auf daß wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus“ (V. 11–13).

Auf diese Weise werden in den lebensechtesten, knappsten und leuchtendsten Ausdrücken die Grundlage, der Wandel und die Hoffnung des Gläubigen geschildert. Die Grundlage ist nicht ein Gesetz, welches den Menschen auf die Probe stellt und seine Nichtigkeit und Unfähigkeit, auf dieser Basis in der Gegenwart Gottes zu stehen, aufdeckt. Stattdessen trägt das Gesetz in seinen Anordnungen die Bürgschaft für die guten Dinge, welche kommen sollen. Jetzt ist dieses Gute gekommen. Vor dem Christen stehen nicht die Erprobung des ersten Menschen und die Schatten. Letztere hatten ihren Platz bei der Erziehung des Fleisches – wenn sie möglich gewesen wäre. Nun ist die Zeit für die Wirklichkeiten da, welche niemals vergehen; und die größte Wirklichkeit von allem besteht in dem, was Gott uns in dem Heiland offenbart hat und in seiner großen Erlösung. Darum ist es die „heilbringende Gnade“ Gottes; denn der Mensch verdient sie nicht und hat als verlorener Sünder keinen Anspruch auf einen Gott, den er verachtet und gegen den er rebelliert. Dennoch bietet sie allen das Heil an; und darum ist sie erschienen. Sie ist weder verborgen, noch eingeschränkt. Als es sich um das Gesetz handelte, welches Tod und Verdammnis brachte, war sein Einflussbereich begrenzt. Da es nun um das Heil geht, welches hinausstrahlt – wie könnte ein Gott der Gnade es in Grenzen halten, kleiner als die Not des ruinierten Menschen? Ich spreche nicht davon, wie weit es tatsächlich wirksam ist. Ich sage jedoch, dass Gott sein Heil überall dorthin sendet, wo Mangel besteht, und dass es seiner Liebe entspricht, wenn Er es sich dort entfalten lässt, wo das fühlbarste Verderben herrscht.

Die Gnade Gottes, welche allen Menschen das Heil bringt, ist also erschienen anstelle eines Gesetzes für eine bestimmte Nation. Nichts ist demnach weiter von der offenbarten Wahrheit Gottes entfernt als die Theorie, dass wir, nachdem wir durch die Gnade errettet sind, wieder unter das Gesetz gestellt werden. Vielmehr lehrt uns die  Gnade, welche errettet, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste zu verleugnen; denn Gott will, dass wir fühlen, was wir und unsere Natur sind. Doch es ist die Gnade, welche uns zum Selbstgericht führt und uns in wahrhaftigster Weise lehrt, das Böse und die Lüste aufzudecken.

Beachten wir auch, dass nicht einfach von fleischlichen, sondern vielmehr von weltlichen Lüsten gesprochen wird! Es geht um Hass gegen Gott und Unzufriedenheit mit dem, was Er als unser Teil gegeben hat. Die Menschen frönen einer unersättlichen Gier nach dem, was sie nicht haben. Das sind weltliche Lüste. Die Gnade Gottes hingegen lehrt uns, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste zu verleugnen, um persönlich besonnen, gerecht gegen die Menschen um uns herum, gottesfürchtig in Gottes Augen und alles dieses in der gegenwärtigen Welt, in der wir uns befinden, zu leben; denn einst waren wir Sünder, jetzt sind wir zu Gott gebracht.

Das ist aber nicht alles. Das Herz bedarf etwas, welches es über die gegenwärtigen Dinge emporhebt; und Gott sorgt dafür, diesen Mangel zu beheben. Er füllt nicht die Phantasie, sondern das Herz, und zwar, indem Er einen herrlichen Ausblick auf die göttliche und ewige Herrlichkeit gibt. Dieser wird umso mehr benötigt, wo, ach!, die Wirklichkeit der Sünde, des Elends und der Sorge besteht. „Indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres  großen  Gottes  und  Heilandes  Jesus Christus.“ Wenn die Gnade schon erschienen ist, so wissen wir, dass auch die Herrlichkeit bald kommt. Gott möchte nicht, dass die Welt stets jämmerlich bleibt. Er beabsichtigt, seine Feinde mit erhobener Hand niederzuwerfen. Er erlaubt nicht, dass seine Heiligen immer den Angriffen und Schlingen Satans ausgesetzt sind, der die Menschen durch seine Täuschungen zu ihrem eigenen Verderben ködert. Die falsche Vorstellung sowohl von einer Verbesserung der menschlichen Natur als auch der Welt wird bald in schlimmster Verwirrung und in schmerzlichstem Gericht enden. Welch ein Trost für den Christen, die Gewissheit zu besitzen, dass Gott alles in seine Hand nimmt! Er hat seine festen Absichten. Daher haben wir eine gesegnete Hoffnung, die genauso sicher ist wie der Glaube, welcher auf seiner Gnade beruht, die schon erschienen ist.

Wenn jedoch seine Herrlichkeit erscheint, dann ist es die unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus. Es ist nicht die Herrlichkeit eines zweitrangigen Gottes. Jeder Gedanke an Untergeordnetheit wird eindeutig zurückgewiesen. Wenn es irgendeinen Unterschied geben sollte, so wird doch in der Schrift immer mit äußerster Sorgfalt die Herrlichkeit des Herrn Jesus verteidigt. Seine Erniedrigung in Gnade hatte Ihn in eine Stellung versetzt, in der seine Herrlichkeit als Höchster infrage gestellt werden konnte. Daraus zog der Mensch bereitwillig Nutzen; und Satan, welcher immer der Widersacher des Sohnes Gottes ist, trieb die Menschen an, seine Gnade zu missbrauchen, um seine Herrlichkeit zu leugnen. Aber Er, der Heiland, der Herr Jesus, ist genauso unser großer Gott wie unser Heiland; und wenn hier von seiner Herrlichkeit gesprochen wird, so handelt es sich um denselben Jesus, der sich selbst für uns gegeben hat, um uns von aller Ungerechtigkeit loszukaufen und sich ein Eigentumsvolk zu reinigen, eifrig in guten Werken. Auf diese Weise findet unser Herz, wenn es voraus auf die Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes blickt, in der Person, welche diese Herrlichkeit einführt, denjenigen, der sich aus selbstopfernder, sühnender Liebe für uns gab. So werden die Gefühle auf das Lebendigste angefacht; und jede Furcht, die natürlicherweise so leicht bei dem Gedanken an die Ankunft der Herrlichkeit des großen Gottes und Heilandes empfunden werden mag, ist eine Leugnung der Liebe, welche wir bisher schon – und so vollkommen – erprobt haben. „Der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit ...“ (V. 14). „Dieses“, schreibt Paulus, „rede und ermahne und überführe mit aller Machtvollkommenheit. Laß dich niemand verachten“ (V. 15).

Fußnoten

  • 1 Kelly denkt wohl an die Unternehmungen zur Sklavenbefreiung im 19. Jahrhundert. (Übs.)
  • 2 Im griechischen Urtext des Wortes Gottes steht hier eigentlich „Sklaven“. (Übs)
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