Einführender Vortrag zum 2. Thessalonicherbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum 2. Thessalonicherbrief

„Paulus und Silvanus und Timotheus der Versammlung der Thessalonicher in Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. ... Wir sind schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken, wie es billig ist, weil euer Glaube überaus wächst, und die Liebe jedes einzelnen von euch allen gegeneinander überströmend ist, so daß wir selbst uns euer rühmen“ (V. 1–4). Wir mögen bemerken, dass hier der Ausdruck „Ausharren der Hoffnung“ fehlt. Wie kommt das? Gerade die Hoffnung war es, die nicht mehr strahlend in ihren Herzen brannte. So weit hatte der Feind schon Erfolg gehabt. Sie waren getröstet worden, doch sie hatten etwas von dem Licht und der Freude der Hoffnung verloren. Ihre Drangsal hatte sie mehr oder weniger in Unruhe versetzt. Das geschah möglicherweise nicht so sehr durch den äußeren Druck als vielmehr durch die Einflüsterungen Satans mittels falscher Lehre, welche für ein Kind Gottes weit gefährlicher ist. Ganz offensichtlich erwähnt der Apostel nur ihren wachsenden Glauben und ihre überströmende Liebe. Er rühmt und erwähnt nicht länger ihr Ausharren der Hoffnung, sondern betet für sie in Kapitel 3 in einer Weise, bei der sich ihr Mangel in dieser Hinsicht zeigt. Das heißt: Paulus nimmt nur zwei der Kennzeichen wieder auf, die er im ersten Brief erwähnt hat, aber nicht das dritte. Letzteres, das mit dem ganzen Inhalt des ersten Briefes in Verbindung stand, wird im zweiten weggelassen. Dafür gab es nur zu guten Grund. Inzwischen hatten sie es sich, wie ich gerade erklärt habe, entwinden lassen. Es war richtig, dass der Apostel ihnen schrieb: „Wir sind schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken  . . .  wegen eures Ausharrens und Glaubens [er spricht nicht von ihrem „Ausharren der Hoffnung“] in allen euren Verfolgungen und Drangsalen, die ihr erduldet.“ Sie hielten Christus fest und gaben Ihn nicht auf. Ihre Seelen besaßen hingegen nicht mehr dieselbe Spannkraft durch Christus als ihre Hoffnung. Den Beweis dafür werden wir bald völliger erkennen.

Es war „ein offenbares Zeichen“, sagt er, „des gerechten Gerichts Gottes, daß ihr würdig geachtet werdet des Reiches Gottes, um dessentwillen ihr auch leidet“ (V. 5). Soweit war alles gut. „Wenn es anders bei Gott gerecht ist, Drangsal zu vergelten denen, die euch bedrängen, und euch, die ihr bedrängt werdet, Ruhe mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel, mit den Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen“ (V. 6–8). Beachte den Grund, warum er jenen Tag hier vorstellt! Es war falsche Lehre über diesen Tag, welche eine Erklärung seines Wesens und seines Bezugs zum Kommen des Herrn herausforderte. Wenn jener Tag kommt, werden seine Drangsale nicht auf die Kinder Gottes herabfallen. In Wirklichkeit wird der Herr dann Gericht über ihre Feinde ausüben. Damit meine ich nicht das Gericht über die Toten unmittelbar vor dem Ende, sondern über die Lebendigen oder Lebenden. Das geschieht nicht mehr in Vorbildern dieses Tages in Gestalt gewaltiger oder vorbereitender Heimsuchungen durch natürliche Katastrophen. Paulus beschreibt hier den Herrn Jesus, wie Er vom Himmel her in flammendem Feuer offenbart wird. Zu dieser Zeit gibt es keine Frage mehr bezüglich der Art und Weise und der Auswirkungen dieses Tages, denn jedes Auge wird den Herrn sehen.

Das heißt: Schon das erste Kapitel bereitet uns offensichtlich auf die vollständige Verwirrung vor, welche diese falschen Lehrer bei den Erlösten in Thessalonich hervorgerufen hatten, indem sie dort ihre trügerischen und beunruhigenden Träume unter falscher Flagge einschmuggeln wollten. Paulus verfolgt hingegen sein Thema weiter. Der Herr wird Vergeltung üben an zwei Menschengruppen – zum einen an denen, „die Gott nicht kennen“, zum anderen an solchen, „die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen.“  Das scheint sowohl auf die Nichtjuden als auch auf die Juden hinzuweisen. Doch warum finden wir hier keinen Hinweis auf die dritte Menschengruppe – auf seine Beziehung zur Kirche Gottes? – Weil diejenigen, welche die Kirche (Versammlung) bilden, nicht mehr da sind!

Damit wird gezeigt, dass der Herr sich mit allen beschäftigt, die auf der Erde sind, und zwar nicht alle in eins vereinigt, sondern gut getrennt. Er übt nämlich das Gericht aus und berücksichtigt daher, wie die einzelnen Menschen in ihrer Gruppenzugehörigkeit von einander abweichen. Somit wird eindeutig unterschieden, aber auch die Klasse der Christen unmissverständlich nicht genannt. Die Kraft dieses Arguments wird umso klarer erkannt, je mehr wir es durchdenken. Der Apostel beschreibt die Menschen nicht alle in eins, sondern bereitet mit viel Umsicht sein Thema vor. Wenn er schreibt: „die Gott nicht kennen“, spricht er von den götzendienerischen Nichtjuden. Danach fügt er unter erneuter Benutzung eines Artikels (Geschlechtsworts) hinzu: „und denen, die dem Evangelium  unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen.“ 1 Es gibt zwei Menschengruppen; und darum scheint die Genauigkeit zu fordern, dass der Unterschied eindeutig herausgestellt wird. „Und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen.“ Jedenfalls zögere ich nicht zu sagen, dass so, und nicht anders, der Sinn des griechischen Textes ist, welche Form der Wiedergabe man auch immer vorziehen mag. Er spricht von den Nichtjuden (Heiden), welche Gott nicht kennen (oder, wie Bengel 2 es schreibt: „Qui in ethnica ignorantia de Deo versantur“), und den Juden, welche Gott in einer gewissen Weise und bis zu einem bestimmten Grad besser kennen als die Nichtjuden, aber dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen. („Judaeis maxime, quibus evangelium de  Christo praedicatum fuerat“). Der Unglaube wird stets durch die Prüfungen, welche Gott vornimmt, überführt; und der Tag des Herrn wird sich mit jeder Form des Unglaubens beschäftigen. Die Nichtjuden, welche Gott nicht kennen, werden gestraft; und die Juden, welche die äußeren Formen der Offenbarungen des Alten Testaments missbrauchen, um dem Evangelium nicht zu gehorchen, werden nicht entfliehen – noch viel weniger das abtrünnige Namenschristentum.

Der Grund dafür, warum hier nicht berücksichtigt wird, dass Christen auf der Erde leben, wird etwas weiter unten genauer erklärt. Ich möchte jetzt nur anmerken, dass Paulus sich in keine der beiden Gruppen einordnen konnte. Offensichtlich betrifft jener Tag nicht die Thessalonicher – egal, über wen er hereinbrechen wird. Falls die Christen jetzt bedrängt werden, hat diese Bedrängnis keinesfalls den Charakter jener Drangsal am Tag des Herrn. Die Lehre der Männer, die von dem schon erfolgten Hereinbruch dieses Tages sprachen, war also ganz und gar falsch; und falls sie die höchste Autorisierung für ihre Meinung beanspruchten, befanden sie sich nicht nur im Irrtum, sondern – schlimmer noch – erwiesen sie sich auch als schuldige Werkzeuge Satans. Doch in Hinsicht auf die beiden Menschengruppen, die uns vom Apostel geschildert werden, schreibt er: „Welche Strafe leiden werden, ewiges Verderben [sowohl] vom Angesicht des Herrn ... [als auch] von der Herrlichkeit seiner Stärke, wenn er kommen wird, um an jenem Tage verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und bewundert in allen denen, die geglaubt haben.“ So lauten die Worte in all ihrer Schwere.

Im neuen Zeitalter wird die Menschheit in reichster Fülle gesegnet werden. Aber die Segnung nimmt im Tausendjährigen Reich genau genommen nicht die Form des Glaubens an. Die Menschen werden die Herrlichkeit des Herrn  sehen. So beschreibt es uns die Heilige Schrift. Die Erde wird von der Erkenntnis – nicht dem Glauben, sondern der  Erkenntnis – der Herrlichkeit Jahwes erfüllt sein, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken (Jesaja 11, 9; Habakuk 2, 14). Glaube ist in zahllosen Fällen eine Frucht wahrer göttlicher Belehrung; doch jenes Zeitalter ist mehr durch Erkenntnis charakterisiert als durch Glauben. Den Unterschied sollten wir eigentlich leicht erkennen. Die Menschen werden zu jener Zeit die Herrlichkeit sehen und auf den Herrn blicken, der dann nicht länger verborgen, sondern öffentlich sichtbar ist. Die Gesegneten, von denen in unserem Kapitel gesprochen wird, sind offensichtlich Menschen, die schon geglaubt haben. So fügt der Apostel angemessenerweise hinzu: „Weshalb wir auch allezeit für euch beten, auf daß unser Gott euch würdig erachte der Berufung und erfülle alles Wohlgefallen seiner Gütigkeit und das Werk des Glaubens in Kraft, damit der Name unseres Herrn Jesus Christus verherrlicht werde in euch, und ihr in ihm, nach der Gnade unseres Gottes und des Herrn Jesus Christus“ (V. 11–12).

Fußnoten

  • 1 Hier steht nämlich nicht wie in unserer englischen Bibel („Authorized Version“; Übs.): „und die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen“, als wenn es sich um ein und dieselbe Menschengruppe handle. (W. K.)
  • 2 Anm. d. Übs: Johann Albrecht Bengel (1687–1752); protestantischer deutscher pietistischer Theologe und Bibelforscher. Die beiden folgenden lateinischen Zitate stammen aus der Auslegung zu 1. Thessalonicher 2,8 in dem Werk „Gnomon“ und lauten in deutscher Übersetzung: „die in heidnischer Unwissenheit von Gott dahingehen“ und „dieses ging vorzüglich die Juden an, welchen das Evangelium von Christo war gepredigt worden“. Die erste Übersetzung ist von mir, die zweite aus dem Werk: Johann Albrecht Bengel: Gnomon, deutsch von C. F. Werner, 7. Aufl., Band II: Briefe und Offenbarung, Teil 1, J. F. Steinkopf Verlag Stuttgart, 1876 (unveränderter Nachdruck der 3. Aufl., 1960).
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