Einführender Vortrag zum 1. Thessalonicherbrief

Kapitel 2

Einführender Vortrag zum 1. Thessalonicherbrief

Das zweite Kapitel verfolgt als Gegenstand den Dienst des Apostels in Verbindung mit ihrer Bekehrung weiter. Er hatte sie nicht sofort verlassen, nachdem sie zur Erkenntnis Christi geführt worden waren; denn er hatte unter ihnen gearbeitet. „Denn ihr selbst wisset, Brüder, unseren Eingang bei euch, daß er nicht vergeblich war; sondern nachdem wir in Philippi zuvor gelitten hatten und mißhandelt worden waren, wie ihr wisset, waren wir freimütig in unserem Gott, das Evangelium Gottes zu euch zu reden unter großem Kampf“ (V. 1–2). Der Apostel war in ausharrendem Glauben vorangeschritten, ohne sich durch die Folgen stören zu lassen. Er ließ sich nicht vom Evangelium abwenden. Es hatte ihm Schwierigkeiten gebracht; er hatte jedoch ausgeharrt. „Denn unsere Ermahnung“, schreibt er, „war nicht aus Betrug, noch aus Unreinigkeit, noch mit List; sondern so, wie wir von Gott bewährt worden sind, mit dem Evangelium betraut zu werden, also reden wir, nicht um Menschen zu gefallen, sondern Gott, der unsere Herzen prüft. Denn niemals sind wir mit einschmeichelnder Rede umgegangen, wie ihr wisset, noch mit einem Vorwande für Habsucht, Gott ist Zeuge; noch suchten wir Ehre von Menschen, weder von euch, noch von anderen, wiewohl wir als Christi Apostel euch zur Last sein konnten“ (V. 3–6).

Hier erkennen wir, wie gänzlich sein Dienst über den gewöhnlichen Beweggründen von Menschen stand. Er suchte nicht sich selbst. Es ging ihm nicht um Selbsterhöhung oder irdischen persönlichen Gewinn, noch gab es auf der anderen Seite ein Ausleben von Leidenschaften – seien sie grob oder verfeinert. Nichts von diesen Dingen fand einen Platz in seinem Herzen, wofür er sich feierlich auf Gott berufen konnte. Der Thessalonicher eigene Gewissen musste es bezeugen. Doch darüber hinaus hatten Liebe und zartfühlende Sorge ihretwegen in ihm gewirkt. „Wir sind in eurer Mitte zart gewesen, wie eine nährende Frau ihre eigenen Kinder pflegt. Also, da wir ein sehnliches Verlangen nach euch haben, gefiel es uns wohl, euch nicht allein das Evangelium Gottes, sondern auch unser eigenes Leben mitzuteilen, weil ihr uns lieb geworden waret“ (V. 7–8). Was für ein Bild gnädiger Anteilnahme für Seelen – und das nicht in Ihm, der die Fülle der göttlichen Liebe war, sondern in einem Menschen von gleichen Gefühlen wie wir! Auch wenn wir für Vollkommenheit immer und ausschließlich auf Christus blicken müssen, ist es doch gut für uns, das Leben und die Liebe Christi in einem Mann zu sehen, der mit denselben Übeln zu kämpfen hatte, die auch wir in unserer Natur mit uns tragen.

Hier sehen wir also das liebliche Bild der Gnade des Apostels, indem er über diese jungen Christen wacht; und das zeigt sich in zwei Formen. Zuerst, als sie sich im Zustand eines Kleinkindes befanden, nährte er sie wie eine Amme. Nachdem sie indessen ein wenig herangewachsen waren, setzte er seinen Dienst fort: „Nacht und Tag arbeitend, um niemand von euch beschwerlich zu fallen, haben wir euch das Evangelium Gottes gepredigt.  . . . Gleichwie ihr wisset, wie wir jeden einzelnen von euch, wie ein Vater seine eigenen Kinder, euch ermahnt und getröstet“ haben (V. 9–11). So wie sie geistig vorankamen, wechselte der Charakter des Dienstes entsprechend ihrem Bedürfnis. Es war jedoch dieselbe Liebe, welche sie wie ein Vater ermahnte, die vorher wie eine Amme für sie gesorgt hatte. Das mag das beau idéal 1 eines wahren Hirten sein. Es ist aber auch das Bild eines wahren Apostels Christi, eines Paulus unter den Thessalonichern, dessen einziges Verlangen darin bestand, dass letztere Gottes würdig wandelten, der sie zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit berufen hatte. „Darum danken wir auch Gott unablässig, daß, als ihr von uns das Wort der Kunde Gottes empfinget, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmet, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt“ (V. 13).

Danach folgt eine Skizzierung jener Leiden, welche der Glaube – früher oder später – nach sich ziehen muss. Paulus hatte sie ermahnt, würdig des Gottes zu wandeln, der sie mit dem Ausblick auf die unsichtbaren und ewigen Dinge ermunterte. Genauso wünschte er jetzt, dass sie durch Beständigkeit und Ausdauer bewiesen, dass es Gottes Wort war, welches so machtvoll in ihnen wirkte trotz allem, was Menschen ihnen zufügen konnten. „Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Versammlungen Gottes geworden, die in Judäa sind in Christo Jesu, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch jene von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten [hier steht nicht „ihre eigenen Propheten“, sondern „die Propheten“] 2 getötet und uns durch Verfolgung weggetrieben haben, und Gott nicht gefallen und allen Menschen entgegen sind, indem sie uns wehren, zu den Nationen zu reden“ (V. 14–16). Welch ein Gegensatz zur Gnade Gottes! Jenes Volk mit dem glanzvollen Vorrecht der [göttlichen; Übs.] Religion konnte nicht ertragen, dass das Evangelium zu den verachteten Heiden, ihren Feinden, ausging. Doch warum waren sie in dieser Hinsicht auf einmal so empfindsam, da sie selbst dem Evangelium nicht glaubten? Woher kam jene plötzliche Anteilnahme am geistlichen Wohlbefinden der Heiden? Was veranlasste diesen unermüdlichen Eifer, andere von dem Evangelium fernzuhalten, das sie selbst verschmähten? Falls das Evangelium nach ihrem an den Tag gelegten Urteil so vernunftwidrig, unmoralisch und wertlos ist, wie kam es, dass sie keine Mühe scheuten, die Leute gegen dasselbe einzunehmen und seine Prediger zu verfolgen? Im Allgemeinen handeln die Menschen nicht so. Sie stellen sich nicht so grimmig und anhaltend gegen etwas, das ihr Gewissen nicht schmerzt. Wir verstehen jene Feindschaft jedoch, wenn wir in ihnen ein Gefühl von etwas Gutem voraussetzen, das sie hingegen nicht bereit waren, für sich selbst nutzbar zu machen. Das rebellische Herz verschafft sich dann Luft in unversöhnlichem Hass, wenn es sieht, wie dieses Gute zu anderen geht, die es vielleicht sogar freudig aufnehmen. Der Mensch ist immer ein Feind, ein beharrlicher Gegner Gottes, und ganz besonders ein Feind seiner Gnade. Aber vor allem ist es der religiöse Mensch – wie der Jude und jeder Mensch mit einer gewissen Kenntnis überlieferter Wahrheit –, welcher die Handlungsweisen Gottes in seiner machtvollen Gnade – hier und überall – äußerst schmerzhaft empfindet.

So zeigt uns also der Apostel Personen als Ziele des Evangeliums sowie die beständige Anteilnahme der Christen an der Gnade im Gegensatz zu jenen, welche hindern wollten, weil sie die Gnade Gottes hassten. Jetzt schreibt er den Thessalonichern auch von seinen liebevollen Wünschen, die nicht abnahmen, weil er nicht bei ihnen war. Das Gegenteil war der Fall. „Wir aber, Brüder, da wir für kurze Zeit von euch verwaist waren, dem Angesicht, nicht dem Herzen nach, haben uns umsomehr befleißigt, euer Angesicht zu sehen, mit großem Verlangen“ (V. 17). Nichts ist so voller Wirklichkeit auf der Erde wie die Liebe Christi, welche durch den Heiligen Geist in einem Christen hervorgerufen wird. „Deshalb wollten wir zu euch kommen, (ich, Paulus, nämlich), einmal und zweimal, und der Satan hat uns verhindert“ (V. 18). In Satan, dem großen persönlichen Feind, ist in einem gewissen Sinn die Wirklichkeit des Bösen, so wie in Christus die des Guten. Vergessen wir dieses nicht!

Auf der anderen Seite – was ist eine Ermutigung für leidende Liebe und die Mühe auf dem Weg? „Wer ist unsere Hoffnung oder Freude oder Krone des Ruhmes?“ (V. 19). Bezüglich des wahren Dienstes in der Gnade Christi sind die Umstände von geringer Bedeutung. Schwierigkeiten zeigen nur, wie sehr dieser Dienst über den Umständen steht. Leibliche An- oder Abwesenheit sind nur eine Erprobung. Leiden prüfen seine Kraft. Eine örtliche Trennung gibt Raum für seine Entfaltung hinsichtlich Abwesender. Der unfehlbare und allein angemessene Trost liegt in der Gewissheit, dass diejenigen, welche dienen, und jene, welchen gedient wurde, an dem Tag, an welchem aller Widerstand vergangen ist, sich an derselben himmlischen Tafel vereinigen. Dort werden alle Früchte wahren Dienstes in der Freude unseres Herrn genossen – handle es sich um die Tätigkeit einer Amme oder eines Vaters, der solche ermahnte, die schon in der Wahrheit herangewachsen waren. Die Apostel und ihre Gefährten in der Arbeit waren bereit, auf die Belohnung für ihre liebende Aufsicht, die sie über die Erlösten Gottes ausübten, zu warten.

Fußnoten

  • 1 „schönes Ideal“ (franz., Übs.)
  • 2 So in der englischen „Authorized Version“ („King-James-Bible“); vgl. auch ältere Ausgaben der „Lutherbibel“! (Übs.)
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