Der verheißene König und sein Reich
Kommentar zum Matthäus-Evangelium

Kapitel 11

Der verheißene König und sein Reich

Die Jünger des Johannes bei dem Herrn (11,1-6)

„Und es geschah, als Jesus seine Befehle an seine zwölf Jünger vollendet hatte, ging er von dort weg, um in ihren Städten zu lehren und zu predigen. Als aber Johannes im Gefängnis die Werke des Christus hörte, sandte er durch seine Jünger und ließ ihm sagen: Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten? Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde werden wieder sehend und Lahme gehen umher, Aussätzige werden gereinigt und Taube hören und Tote werden auferweckt und Armen wird gute Botschaft verkündigt; und glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt!“ (11,1-6).

Nachdem der Herr seine Jünger in die Ernte ausgesandt hatte, ging Er selbst aus, um in den Städten zu predigen und zu lehren. Welch wunderbarer Anblick war diese Person, der Sohn Gottes, für den Glauben! Überall unter den Menschen sah man, wie Er das Werk der Gnade Gottes vollbringt. Welche Demut, welche Hingabe und Liebe! Aus der Herrlichkeit herab war Er auf diese Erde gekommen, machte sich selbst zu nichts, nahm Knechtsgestalt an und erniedrigte sich als gehorsamer Mensch, selbst bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,7.8), um solche Sünder wie dich und mich zu retten.

Diese Erniedrigung, die wegen des sündigen Zustandes der Menschen notwendig war, ließ sich mit der Vorstellung der Juden von einem glorreichen Messias nicht vereinbaren. Johannes der Täufer, sein Vorläufer, war schon ins Gefängnis geworfen worden. Das war eine schwere Prüfung für ihn, denn er hatte ja die Herrlichkeit des Messias kennen gelernt. Er hatte gesagt: „Er muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30). Er hatte sich selbst für unwürdig erklärt, den Riemen seiner Sandale zu lösen (Joh 1,27). Während Johannes die Bosheit des Herodes, des gottlosen und unrechtmäßigen Königs erduldete, hörte er zu, wie von dem Wirken des Christus geredet wurde, ohne aber von Ihm, dem doch in Wirklichkeit der Thron Davids zukam, gerettet zu werden.

In einem Augenblick der Schwäche, für die wir Verständnis haben, da auch unsere Herzen so oft schwach im Glauben sind, sandte Johannes seine Jünger zu dem Herrn und ließ Ihm sagen: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Jesus antwortete ihnen: „Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde werden wieder sehend, und Lahme gehen umher, Aussätzige werden gereinigt und Taube hören und Tote werden auferweckt und Armen wird gute Botschaft verkündigt; und glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt!“ Mit dieser Antwort wandte sich der Herr an das Gewissen des Johannes und gab ihm zu verstehen, dass Er in Wahrheit der Messias war, wie auch Jesaja Ihn angekündigt und beschrieben hatte.

Aber man erkannte Ihn nicht an und verwarf Ihn, wie auch sein Vorläufer Johannes schon verworfen worden war. Übrigens war auch das Reich, obwohl es schon angekündigt worden ist, noch nicht aufgerichtet worden. Jesaja hatte, als er von der Zeit sprach, da der Messias auf der Erde sein würde, die Erfüllung der Dinge mit den Worten angezeigt: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden; dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und jubeln wird die Zunge des Stummen“ (Jes 35,5.6; vgl. Jes 29,18.19). Davon waren die Jünger des Johannes jetzt Zeugen und das sollten sie ihrem Meister berichten. Das musste dem Glauben des Johannes genügen. Es war Gnade verbunden mit Macht, die inmitten aller Folgen der Sünde wirkte. Und doch war es noch nicht die Macht, die die Bösen von der Erde vertilgen wird.

Es ist beachtenswert, dass Johannes seine Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ an den Herrn richtete und die Antwort nur von Ihm erwartete. Sicher muss es ihm zu Herzen gegangen sein, mit der Zusicherung, dass Jesus der Messias sei, auch die Worte zu hören: „Glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt!“

Möchten auch wir alle das Vertrauen zum Herrn nicht verlieren, wenn unsere Umstände mit Seiner Liebe nicht im Einklang zu sein scheinen!

Das Zeugnis des Herrn über Johannes (11,7-19)

„Als diese aber hingingen, fing Jesus an, zu den Volksmengen über Johannes zu reden: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen? Ein Schilfrohr, vom Wind hin und her bewegt? Aber was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Menschen, mit weichen Kleidern bekleidet? Siehe, die die weichen Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Aber was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, sage ich euch, sogar mehr als einen Propheten. Dieser ist es, von dem geschrieben steht: 'Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird.' Wahrlich, ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer; der Kleinste aber im Reich der Himmel ist größer als er. Aber von den Tagen Johannes' des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reißen es an sich. Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes. Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der kommen soll. Wer Ohren hat, [zu hören,] der höre! Wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist Kindern gleich, die auf den Märkten sitzen und den anderen zurufen und sagen: Wir haben euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht gewehklagt. Denn Johannes ist gekommen, der weder aß noch trank, und sie sagen: Er hat einen Dämon. Der Sohn des Menschen ist gekommen, der isst und trinkt, und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern. - Und die Weisheit ist gerechtfertigt worden von ihren Kindern“ (11,7-19).

Als die Jünger des Johannes fortgegangen waren, wandte sich Jesus an das Gewissen der Volksmengen und gab seinem geliebten Diener Zeugnis. Trotz der vorher in Erscheinung getretenen, vorübergehenden Schwachheit des Johannes sollte das Volk genau wissen, wer Johannes war, um so den überaus wichtigen Charakter der Zeit zu verstehen, in der sie sich befanden. Denn ihre Segnung hing von der Annahme oder der Verwerfung des Herrn und seines Vorläufers ab. Aber wie man aus dem weiteren Verlauf der Dinge erkennt, hatten sie ihre Wahl schon getroffen und blieben deshalb unter den Folgen ihres Unglaubens.

Der Herr bezeugte, dass Johannes, den sie in der Wüste in einer so bescheidenen Weise gesehen hatten, wirklich ein Prophet und sogar mehr als ein Prophet war. Denn von ihm stand geschrieben: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird“ (vgl. Mal 3,1). Kein Prophet, sagt der Herr, war größer als Johannes. Denn von allen Propheten, die die Ankunft Christi vorhergesagt hatten, war er der einzige, der das große Vorrecht hatte, Ihn selbst zu sehen. Johannes schätzte dieses Vorrecht, denn er sagte: „Der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, ist hocherfreut über die Stimme des Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt“ (Joh 3, 29).

Hier, im Matthäus-Evangelium, fügt der Herr hinzu: „Der Kleinste aber im Reich der Himmel ist größer als er.“ Damit sagt Er: Alle, die an dem Reich teilhaben werden, genießen ein größeres Vorrecht als die, die es angekündigt haben. Das trifft vor allem auf die heutigen Gläubigen zu. Denn wenn das Reich aufgerichtet ist, werden sie mit Christus herrschen, wie sie auch während der Zeit seiner Verwerfung mit Ihm gelitten haben. Im Gegensatz zur Welt, die Ihn verachtet, haben sie seine Rechte als König anerkannt.

Dann sagt Er weiter: „Aber von den Tagen Johannes' des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reißen es an sich.“ Bis auf Johannes, also unter der Haushaltung des Gesetzes und der Propheten, war ganz Israel das Volk Gottes. Aber wegen des Zustandes der Gottlosigkeit unter dem Volk wurde dann durch Johannes Buße gepredigt, die zum Eintritt in das angekündigte Reich erforderlich war. Die hochmütigen Juden sagten: „Wir haben Abraham zum Vater“ (Lk 3,8; Joh 8,39), denn sie wollten nichts von einem Reich wissen, das mit einer solchen Bedingung eingeführt wurde. Sie verleiteten sogar das Volk, ihren König zu verwerfen. Wer unter dem Volk das Wort des Johannes und das des Herrn annahm, musste daher allem, was ihn umgab, Gewalt antun, in Übereinstimmung mit jenem anderen Wort des Herrn: „Ringt danach, durch die enge Tür einzugehen!“ (Lk 13,24).

Heute trifft das auch für uns zu, die wir in einer Welt leben, die Christus verworfen hat. Lasst uns daher auf dem schmalen Weg, der zum Leben führt, mit Standhaftigkeit vorangehen!

Die Juden waren darüber unterrichtet, dass Johannes der verheißene Elia war, der vor der Aufrichtung des Reiches und vor den Gerichten, die dieser Aufrichtung vorangehen werden, kommen sollte, um in den Herzen des Volkes den Weg des Messias zuzubereiten. Johannes der Täufer hatte ihnen dies mitgeteilt und auch der Herr selbst sagte es jetzt den Volksmengen, indem Er eine Stelle aus Maleachi anführte (vgl. Lk 1,17).

Alle, die sich den Dienst des Johannes nicht zunutze machten, teilten das Los mit dem ungläubigen Volk. In der kommenden Zeit, nämlich vor der Ankunft des Herrn in Herrlichkeit, wird wiederum ein Elia gesandt werden, wie aus Maleachi 3,23 hervorgeht: „Siehe, ich sende euch Elia, den Propheten, ehe der Tag des HERRN kommt, der große und furchtbare.“ Und auch dann werden die Gerichte alle die treffen, die den Herrn nicht angenommen haben.

Deshalb sagt der Herr: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Diese Worte sind für die heutige Zeit ebenso feierlich ernst, wie sie auch damals schon waren, denn „also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort“ (Röm 10,17).

Das Volk war ohne Entschuldigung. Gott hatte alle notwendigen Mittel angewandt, damit alle sich der durch die Gegenwart des Messias verheißenen Segnungen erfreuen könnten, aber ohne Erfolg. Das Volk glich den auf dem Markt sitzenden Kindern, die die Vorschläge ihrer Kameraden niemals für gut heißen. Als Johannes der Täufer erschien, streng und enthaltsam wie die Propheten, abgesondert von den Sündern, aber zur Buße auffordernd, sagten sie: „Er hat einen Dämon.“ Der Sohn des Menschen war in Gnade gekommen, um Sünder zu suchen, wo sie sich auch fanden, und hatte sich nicht gescheut, mit den Beflecktesten der Menschen in Verbindung zu treten, weil Er ja gekommen war, „zu suchen und zu erretten was verloren ist“. Sie aber sagten: „Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.“

Die Gläubigen inmitten dieses Geschlechtes nennt der Herr „Kinder der Weisheit“, weil sie der Stimme der Weisheit, also der Stimme Gottes, Gehör schenkten und die Einfältigen auffordern, das Wort anzunehmen (vgl. Spr 8; 9,1-6). Die Weisheit hat sie gefunden und ist durch sie gerechtfertigt worden, diese Weisheit Gottes, die in den Augen der Weisen und Klugen dieser Welt Torheit ist. Wie herrlich sind die ewigen Ergebnisse für alle, die die Weisheit annehmen, im Gegensatz zu denen, die sie verwerfen (Spr 8,35.36).

Gericht über die Städte am See von Galiläa (11,20-24)

„Dann fing er an, die Städte zu schelten, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, weil sie nicht Buße getan hatten: Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären, die unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und Asche Buße getan. Doch ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als euch. Und du, Kapernaum, die du bis zum Himmel erhöht worden bist, bis zum Hades wirst du hinabgestoßen werden; denn wenn in Sodom die Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind, es wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich sage euch: Dem Land von Sodom wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als dir“ (11,20-24).

Wie musste der Herr beim Anblick der Blindheit und des Unglaubens der Menschen leiden, die Ihn verwarfen, obwohl sie Zeugen seiner wunderbaren Gnade waren und sich diese Gnade ausdrücklich an sie wandte! In dem schmerzlichen Gefühl der Folgen, die der Unglaube gerade für die am meisten begünstigten Städte nach sich zog, richtete der Herr ernste Vorwürfe an sie und sagte das Unglück voraus, das sie am Tag des Gerichts treffen wird. Die hochmütigen, heidnischen Städte Tyrus und Sidon hätten Buße getan, wenn ihnen die Vorrechte geschenkt worden wären, die die Städte am Galiläischen Meer gehabt hatten, und auch Sodom würde noch bestehen. Deshalb wird es diesen am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als den Städten, in denen der Herr die meisten seiner Wunderwerke getan hat. Denn die ewigen Strafen werden nicht nur den begangenen Sünden, sondern auch den empfangenen Vorrechten entsprechen. Alles wird nach der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes beurteilt werden.

Diese wichtige Wahrheit sollte alle nachdenklich machen, die das Wort wohl gehört, aber nicht im Glauben in ihren Herzen aufgenommen haben. Denn wenn die Verantwortung der Städte von Palästina am Tag des Gerichts groß sein wird, wie groß wird dann erst die der christlichen Länder sein und ganz besonders derer, die schon von Jugend an die Unterweisungen des Evangeliums vernommen, aber sich diese nicht zu eigen gemacht haben! Von all den Unglücklichen, die die Ewigkeit in der äußersten Finsternis zubringen werden, wird keiner größere Qualen erleiden, als wer sich an alle Mahnrufe erinnern muss, die er von Seiten seiner Angehörigen, seiner Freunde, der Diener des Herrn oder von irgendeiner anderen Seite vernommen, aber nicht beachtet hat.

Welche Qual, sich ewiglich anklagen zu müssen, durch eigene Schuld fern von Gott zu sein, weil man seine Liebe während der langen Zeit seiner Geduld verachtet und die trügerischen Eitelkeiten des gegenwärtigen Zeitalters vorgezogen hat!

Die Offenbarung des Vaters (11,25-27)

„Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn und wem irgend der Sohn ihn offenbaren will“ (11,25-27).

„Jene Zeit“ bezieht sich auf die Tage, in denen der Herr mit Schmerz seine vollständige Verwerfung seitens des Volkes Israel feststellen musste. Wie sehr hatte Er doch gewünscht, von seinem Volk angenommen zu werden! Aber Er musste ausrufen: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37). Nichts ist schmerzlicher für ein Herz als missverstandene, zurückgewiesene Liebe.

Aber in vollkommener Unterwürfigkeit stellt der Herr diese Ablehnung seinem Vater, dem Herrn über Himmel und Erde, anheim. Er richtet seine Gedanken auf die Segnungen, die seiner Verwerfung durch das arme und blinde Volk, das durch die „Weisen und Verständigen“ verführt worden ist, folgen werden. Diese Segnungen fallen nun anderen, den „Unmündigen“, d. h. den Glaubenden zu, wo sie sich auch finden mögen. Ein jeder, ohne Ausnahme, kann daran teilhaben, wenn er nur die Stellung der „Unmündigen“ einnimmt und in aller Einfalt glaubt. Wenn man dazu menschliche Weisheit und Klugheit besitzen müsste, könnten viele nicht errettet werden.

Schon ein Kindlein, das glaubt, was Gott sagt, das den Herrn Jesus als seinen Heiland annimmt, empfängt die Offenbarung der Gedanken Gottes, von denen die Menschen dieses Zeitlaufs nichts verstehen, da sie sich nur von ihren Vernunftschlüssen leiten lassen. Die Gedanken Gottes sind ihnen verborgen. Nur dem werden sie offenbart, der den Herrn Jesus in der Einfalt seines kindlichen Glaubens als seinen persönlichen Heiland annimmt.

Aus der Verwerfung und Erniedrigung Jesu strahlt seine Herrlichkeit hervor. Obwohl Er stets der unterwürfige, gehorsame Mensch war, blieb Er sich doch ständig seiner Herrlichkeit als des Sohnes Gottes bewusst. Das lässt die Schönheit seiner Demut um so mehr hervortreten. „Alles ist mir übergeben von meinem Vater“, sagte Er. Wenn Er in seiner demütigen Abhängigkeit seinen Vater kurz vorher den „Herrn des Himmels und der Erde“ nannte, so war Er sich dabei bewusst, dass der Vater alles seinen Händen übergeben hat. „Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,9-11).

Die Herrlichkeit seiner Person, in der Vereinigung seiner vollkommenen Menschheit mit seiner absoluten Göttlichkeit, ist so groß, so unergründlich, dass niemand Ihn wirklich erkennt, als nur der Vater. Auch wer sich in der Gegenwart des Sohnes Gottes auf der Erde befand, konnte die Herrlichkeit seiner Person nicht erkennen. Aber wenn der Herr in dieser Herrlichkeit nur vom Vater erkannt werden konnte, so vermochte bis dahin auch niemand den Vater zu erkennen. Weder das Gesetz noch die Propheten hatten den Vater geoffenbart. Nur Er konnte den Vater offenbaren, der von den Menschen nicht erkannt wurde. Nur der konnte den Vater offenbaren, der hier auf der Erde „der eingeborene Sohn ist, der im Schoß des Vaters ist“ (Joh 1,18) und der trotzdem unter den Menschen umherging wie einer von ihnen. Gerade um Gott in seinem Charakter als Vater den Sündern zu offenbaren, die Ihn nicht hätten sehen können ohne dabei zu sterben, ist der Herr in seiner unerforschlichen Menschheit gekommen. Das drückt der Herr mit den Worten aus: „Noch erkennt jemand den Vater, als nur der Sohn, und wem irgend der Sohn ihn offenbaren will.“ Weil sein Volk Ihn nicht erkannte und Ihn als Messias verwarf, wird Er sein Werk der Gnade fortsetzen und die Fülle der Liebe Gottes, des Vaters, offenbaren wem irgend Er will. Ja, die Liebe ist unumschränkt!

Ruhe für die Seele (11,28-30)

„Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (11,28-30).

Man wird die Frage stellen: Wem will der Sohn den Vater offenbaren? Der Herr gibt selbst die Antwort: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben.“ Der teure Heiland sah in der Mitte seines schuldigen Volkes, wie auch in der ganzen Welt, mühselige und beladene Seelen. Er weiß, dass der Sünder, der sich selbst zu befreien sucht, sich umsonst abmüht. Was tut man nicht alles, um die Last der Sünde, die das Gewissen drückt, los zu werden! Aber alle Anstrengungen sind vergeblich, der Zustand verschlimmert sich nur. Niemand kann einer so gequälten Seele Ruhe geben, als allein der Sohn Gottes.

Eine katholische Frau lag im Sterben. Die Last ihrer Sünden drückte ihr Herz zu Boden. Man ließ einen Priester kommen, der ihr die kirchlichen Sakramente verabreichte. Aber diese brachten ihrem Gewissen keine Erleichterung, obwohl der Priester ihr in Bezug auf den Wert der Sakramente volle Zusicherung gab. Je näher ihr Ende herannahte, desto größer wurde ihre Seelenangst. Endlich, am Ende seiner Hilfsquellen angelangt, sagte der Priester zu der armen Frau: „Blicken Sie auf Jesus, der am Kreuz für Sie starb!“ Er war sich dabei nicht bewusst, dass er damit ihre Blicke auf die einzige Quelle des Friedens und der Ruhe richtete. Da erfüllte tiefer Friede das Herz der Sterbenden, doch wurde es dem Priester nicht klar, warum. Erst lange Zeit danach, als er selbst den Wert des Kreuzes erfahren hatte, verstand er, was in dem Herzen der Frau vorgegangen war.

Dieser wunderbaren Worte richten sich auch noch heute noch an die ganze Welt: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben.“ Wenn der Herr den Sünder von der Last seiner Sünden befreit, so wissen wir, dass dies nur möglich ist, weil Er selbst ihre Last am Kreuz unter dem Gericht Gottes auf sich genommen hat. Da hat Gott die Sünden für immer vor seinem Angesicht hinweggetan und sie von dem Haupt jedes Schuldigen, der an den Wert dieses Opfers glaubt, weggenommen. Erst nach Ausführung dieses vollkommenen Werkes ist der geliebte Heiland in die Herrlichkeit zurückgekehrt. Von dort her lädt Er noch heute durch sein Wort jeden Mühseligen und Beladenen ein, zu Ihm zu kommen, um seine Ruhe zu genießen.

Der Herr sprach noch von einer anderen Ruhe, die man findet, wenn man sein Joch auf sich nimmt. Wenn der Gläubige die Vergebung seiner Sünden empfangen hat, muss er eine Welt durchschreiten, in der ihm manche Schwierigkeiten und Prüfungen begegnen. Er stößt auf Widerstand und wird beunruhigt, weil er die Umstände nicht ändern kann. Aber der Herr unterweist uns, wie wir in den größten Prüfungen vorangehen können und wir uns trotz allem dieser Ruhe erfreuen können. Er, der sanftmütig und von Herzen demütig war, kann uns in der rechten Weise belehren. Denn Er selbst ist im Gehorsam gegen Gott als Erster den Weg der Leiden gegangen.

Als Er in die Welt kam, sprach Er: „Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun“ (Heb 10,9 ). Auf seinem Weg hier auf der Erde hat Er stets alles aus der Hand seines Vaters angenommen, selbst den schrecklichen Kelch von Gethsemane. Auch dort sagte er gleichsam: „Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir.“ Er möchte uns lehren, uns in allen Umständen, auch in solchen, die unserem Willen entgegen sind und unser Herz niederbeugen, so zu verhalten, wie Er es tat. Er möchte, dass wir mit Ihm hindurchgehen und auch unserseits sagen: „Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.“ Er ruft uns zu: „Nehmt auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Unter seinem Joch haben wir die Unterwerfung unter den Willen des Vaters zu verstehen. Für das wiedergeborene Herz ist dieses Joch sanft und seine Last leicht. Es ist sein Joch und seine Last. Er trägt mit uns, und so genießen wir in den Prüfungen seine Gemeinschaft. Unter solchen Umständen lernen wir Ihn immer besser kennen, weit besser als in äußerem Wohlergehen. Wir können dann ununterbrochen die Ruhe der Gemeinschaft mit Ihm genießen, wie schwer auch die Umstände sein mögen.

Welch vollkommenen Heiland besitzen wir doch in unserem Herrn! Möchten wir alle, die wir zu Ihm gekommen und von der Last unserer Sünden befreit sind, Ihn immer besser kennen lernen! Und möchten wir auch jeden Tag von Ihm lernen, was der Weg der Unterwürfigkeit unter den Willen des Vaters ist, um so trotz der Widerwärtigkeiten der Wüste die Ruhe der Seele zu genießen, indem wir auf den Augenblick warten, wo wir vielleicht sogar schon bald in die ewige Ruhe Gottes eingehen werden!

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