Einführender Vortrag zum Kolosserbrief

Kapitel 2

Einführender Vortrag zum Kolosserbrief

„Denn ich will, daß ihr wisset, welch großen Kampf ich habe um euch und die in Laodicäa und so viele mein Angesicht im Fleische nicht gesehen haben, auf daß ihre Herzen getröstet sein mögen, vereinigt in Liebe und zu allem Reichtum der vollen Gewißheit des Verständnisses, zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes, in welchem [in dem Geheimnis] verborgen sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (V. 1–3). Das Geheimnis ist jetzt offenbart, nämlich die Beziehung Christi zur Kirche – das wirkliche Zeugnis der Ratschlüsse Gottes in Christus an solche, die seinen Leib bilden. Als Regel gilt, dass immer das, was Gott gerade tut, einer dringend notwendigen Wahrheit entspricht. Besonderer Mangel mag sich zeigen und in bestimmten Augenblicken Aufmerksamkeit fordern; aber seitdem Christus im Himmel erhöht wurde, ist jenes  die Wahrheit für den Erlösten, und zwar aus einem sehr einfachen und einleuchtenden Grund: Es ist das, was Gott der Vater sich für den Tag der Erlösung vorgesetzt hat. Davon ist Christus der eigentliche Mittelpunkt und das Haupt. Damit befasst sich der Heilige Geist, nachdem Er vom Himmel gesandt wurde. Weil Satan unveränderlich der persönliche und beharrliche Widersacher Christi ist, wird alles, was Gottes Vorsatz in Christus ausmacht, ein besonderes Ziel seines Hasses und seiner Feindschaft.

Folglich war der Apostel Paulus als derjenige, den Gott vor allem damit geehrt hatte, das Geheimnis zu entfalten und auch in inspirierten Worten mitzuteilen, mehr als alle anderen dazu berufen, die Folgen desselben in dieser gegenwärtigen bösen Welt zu erleiden. Sein Wirken war nicht nur unermüdlich, sondern auch begleitet von schwersten Prüfungen und Beängstigungen des Geistes sowie auch beständiger Herabwürdigung durch öffentlichen Hass und Verfolgung. Er musste Tag für Tag durchleben, was das Herz eines heiligen Mannes brechen konnte. Aber auch wenn er seinen Dienst unter beständigen Tränen ausübte, erschien er vor den Menschen als ein solcher, den keine dieser Schwierigkeiten bewegte. Nichtsdestoweniger lässt er hier die Kolosser wissen, was er um ihret- und auch anderer Erlösten willen, die vor seinem Herzen standen, obwohl er sie dem Fleisch nach nicht einmal kannte, durchleben musste. „Dies sage ich aber, auf daß niemand euch verführe durch überredende Worte. Denn wenn ich auch dem Fleische nach abwesend bin, so bin ich doch im Geiste bei euch, mich freuend und sehend eure Ordnung und die Festigkeit eures Glaubens an Christum“ (V. 4–5). Es gab viel Gesegnetes in Kolossä; und der Apostel erkannte es gerne und uneingeschränkt an. „Wie ihr nun den Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so wandelt in ihm, gewurzelt und auferbaut in ihm und befestigt in dem Glauben, so wie ihr gelehrt worden seid, überströmend in demselben mit Danksagung“ (V. 6–7). Tatsächlich lag hierin ihr Fehler: Sie waren nicht mit Christus – und Ihm allein – zufrieden. Sie schätzten seine Herrlichkeit und Fülle nicht richtig; sie sahen nicht, dass das Geheimnis wahrer Weisheit und Glückseligkeit darin liegt, noch mehr von Christus zu erkennen, als sie schon erkannt hatten. Das ist die einzige sichere Wurzel aller Segnung; und vor allem hierin wird wahrer Glaube und echte Geistlichkeit sichtbar. Genügt Christus dem Herzen? Empfinden und wissen wir, dass wir Ihm nichts hinzufügen können? Möchten wir alles nur aus Ihm empfangen?

Danach spricht Paulus folglich seine erste ernste Warnung aus. „Sehet zu, daß nicht jemand sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie und durch eitlen Betrug, nach der Überlieferung der Menschen, nach den Elementen der Welt, und nicht nach Christo“ (V. 8). Hier haben wir, wie ich annehme, eine Vermischung der Philosophie des natürlichen Menschen mit der Überlieferung (Tradition) des religiösen Menschen. Beides scheint auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Doch in Wirklichkeit ist es nicht so. Sie mögen anscheinend so weit wie die Erdpole auseinanderliegen. Tatsächlich zeigt indessen nichts die Wirksamkeit eines tätigen Geistes des Bösen in der Welt wie die Art und Weise, in der jener diese beiden Armeen zusammenstellt und vereinigt, die äußerlich einander so feindlich erscheinen. Hast du es nicht schon erfahren? Auf die eine oder andere Weise vereinigen sich in der Realität Freidenker und abergläubische Menschen. Kein Kennzeichen der gegenwärtigen Tage ist bemerkenswerter als der Erfolg, mit dem Satan sozusagen seine Kräfte bündelt. Er bringt diese beiden Parteien, wenn es nötig ist, an einem Punkt zusammen. Dabei meine ich die schweren Truppen der menschlichen Überlieferung und die leichten der Philosophie des Menschen. Das ist der Grund, warum wir in jeder wichtigen Krise finden, dass Ritualisten in der Regel Rationalisten unterstützen und Rationalisten das Vorgehen von Ritualisten zu beschönigen versuchen. Sie mögen den Anschein wahren, als seien sie einander unversöhnlich feind. Doch sie sind beide nur der Wahrheit gegenüber feindlich gesinnt. Beide Parteien sind notwendigerweise und ganz und gar unwissend über Christus. Der Christus indessen, den sie aufgrund ihrer Religion oder ihres Verstandesdenkens missachten, ist jene gesegnete Person, die nicht allein hier auf der Erde lebte und wirkte, sondern die vor allem auch gestorben und auferstanden ist. Sie gebrauchen freizügig seinen Namen. In Worten und äußeren Handlungen erweisen sie Ihm keine geringe Ehre; aber ohne Glaube ist alles nichts wert.

Geliebte! Der Christus, den  wir kennen, gibt keine Glorie dem ersten Menschen, noch legt Er Ehre auf religiöse Gebräuche oder ein menschliches Priestertum. Wie wäre Er hienieden erhöht worden, wenn Er damit einverstanden gewesen wäre, den Heiligenschein seiner Herrlichkeit auf die menschliche Rasse als solche zu werfen! Doch unser Herr ist der Christus, welcher den ersten Menschen verdammte. Durch Ihn wurde die Menschheit in ihrem Gefallensein aufgedeckt und nach Wurzel und Zweig gerichtet. Das können Ihm alle jene nicht vergeben, die am ersten Menschen festhalten, sei es in Hinsicht auf religiöse Anordnungen oder Philosophie. Wie könnte der natürliche Mensch ertragen, dass er und die Welt, die er seit dem Verlust Edens aufgebaut hat, zu nichts wird? Diese Vorstellung ist unmöglich für die menschliche Natur. Er, welcher den Beweis dafür darstellt, ist untragbar für sie. Wir müssen alle Dinge so beurteilen, wie sie sind; und hier finden wir die Wahrheit diesbezüglich; denn Er, der die Wahrheit ist, hat sie verkündigt. Das Kreuz Christi ist die Totenglocke für die Welt in all ihren Anmaßungen vor Gott. Sein Grab ist das Grab der menschlichen Rasse. Liebe Geschwister! Der Christus, den Gott uns verkündigt hat, ist der Christus, den die Menschen verspottet, hinausgeworfen und gekreuzigt haben. Aber Er ist auch der Christus, den Gott aus den Toten auferweckt und in die himmlische Herrlichkeit versetzt hat. Das ist die Wahrheit, welche dem Fleisch in jeder Form so anstößig ist. Sie wird niemals angenommen – weder von der Religion der Welt, noch von ihrer Philosophie.

Wie nutzlos und gefährlich – auf jeden Fall für sie selbst – waren die Bemühungen der Kolosser! Sie versuchten ein Bündnis zu schließen zwischen Christus und der Welt. In ihren Herzen waren sie wirklich schon abgeglitten, sonst hätten sie eine solche Hoffnung nicht pflegen können. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Paulus in Kapitel 1 schreibt: „Wenn ihr anders in dem Glauben gegründet und fest bleibet und nicht abbewegt werdet von der Hoffnung des Evangeliums.“ Sie hatten sich wegbewegt – wenn auch vielleicht nicht so schnell wie die Galater. Sie standen nicht fest im Glauben. Jetzt möchte der Apostel ihnen wieder ins Gedächtnis rufen: „Wandelt in ihm, gewurzelt und auferbaut in ihm.“ Mögen sie sich hüten vor Philosophie und Überlieferung! „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (V. 9). Sie wird nicht in der Überlieferung gefunden und erst recht nicht in der Philosophie.

Die Philosophie ist ein abgöttisches Bild vom Menschen oder der Natur, ein blinder Ersatz für die Erkenntnis Gottes. Sie ist falsch und verderblich – unabhängig davon, ob sie Gott miteinbezieht oder nicht – sei es, dass sie den wahren Gott leugnet oder alle Dinge zu einem Scheingott macht. Atheismus und Pantheismus 1 sind letztlich die Ergebnisse der Philosophie; und beide setzen in Wirklichkeit Gott beiseite. In  Bezug auf die Überlieferung (Tradition) muss gesagt werden, dass sie unveränderlich den Menschen, soweit sie kann, von Gott entfernt und das Ergebnis „Religion“ nennt. Die Wahrheit in Christus besteht nicht allein darin, dass Gott zu dem Menschen in Liebe herabkam, sondern auch dass der Mensch, der Gläubige in Christus, jetzt in Ihm tot und auferweckt ist. Befindet Christus sich in der herrlichen Gegenwart Gottes? Der Christ ist eins mit Ihm. Folglich führt Paulus in diesem Zusammenhang die zweifache Wahrheit ein: „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“; und: „Ihr seid vollendet in ihm.“  Wie gesegnet! Wenn Er die Fülle ist, dann bist du in Ihm vollendet, „welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist.“ Weg mit jeder Anmaßung, Ihm etwas hinzufügen zu wollen! Weg mit allen möglichen Kunstgriffen, Christus Glanz zu verleihen! „Welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist; in welchem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches [denn das ist die Denkrichtung], in der Beschneidung des Christus, mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid“ (V. 10–12).

In Bezug auf den Gedankengang weist dieser Vers, wie ich denke, auf das große Zeichen des Todes Christi hin. Dieses besteht mehr in der Taufe als in Christus selbst. Daher auch die Worte in unserer Übersetzung: Nicht: „in Dem“, sondern: „in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes.“ Somit ist die Taufe nicht auf ein Bild vom Tod eingegrenzt. Sie ist indessen niemals einfach das Symbol von Leben oder Blutvergießen, sondern vielmehr von einem Zustand oder Vorrecht, das über denselben steht. Als der Apostel aufgefordert wurde, seine Sünden abwaschen zu lassen, indem er den Namen des Herrn anrief, ging es anscheinend nicht um das Blut, sondern um Wasser (Apg 22, 16). Denn die Taufe ist nicht so sehr ein Bild von dem, was Sühnung bewirkt, sondern was reinigt. Aber sowohl Reinigung als auch Sühnung geschehen durch den Tod Christi, aus dessen Seite beides hervorfloss (Joh 19,34).

Hier führt uns die Lehre ein wenig weiter als in Römer 6 oder 1. Petrus 3. Dort geht es um Tod und Begrabensein von all dem, was wir waren. Hier hingegen lesen wir auf jeden Fall von Auferstehung mit Christus – Tod und Auferstehung. Im Römerbrief ist der bestimmt dargestellte Gesichtspunkt der Tod, denn die Beweisführung des Apostels in Kapitel 6 erlaubt nicht, über die Wahrheit hinauszugehen, dass der getaufte Gläubige ein Lebender aus den Toten ist. Genau genommen geht es nicht um die Auferstehung, sondern um unser Lebendigsein für Gott. Im Kolosserbrief erfordert der Gedankengang, dass unsere Auferstehung mit Christus genauso klar festgestellt wird wie der Tod und das Begrabensein. Das finden wir hier. „Mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat.“

Paulus wendet die vor ihm stehende Lehre in folgender Weise an: „Und euch, als ihr tot waret in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat; als er ausgetilgt die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen“ (V. 13–14). Er sagt nicht: „Euch entgegenstehende Satzungen“; denn die Erlösten in Kolossä hatten in Wirklichkeit niemals unter dem Gesetz und seinen Satzungen gestanden; sie waren Heiden. Während Paulus vorher geschrieben hatte: „Euch, als ihr tot waret, ... hat er mitlebendig gemacht“, so sagt er jetzt: „„Ausgetilgt die  uns entgegenstehende Handschrift.“ Denn alle Dinge, deren wir armen Juden uns rühmen konnten – die Satzungen –, waren gegen uns und nicht für uns; und diese sind nun vergangen.“

„Ausgetilgt die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen, die wider uns war, hat er sie auch aus der Mitte weggenommen, indem er sie an das Kreuz nagelte; als er die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hatte, stellte er sie öffentlich zur Schau, indem er durch dasselbe über sie einen Triumph hielt. So richte euch nun niemand über Speise oder Trank, oder in Ansehung eines Festes oder Neumondes oder von Sabbathen, die ein Schatten der zukünftigen Dinge sind, der Körper aber ist Christi“ (V. 14–17). So sehen wir also zuallererst, dass kraft des gestorbenen und auferstandenen Christus, an welchen sie glaubten, die Kolosser lebendig gemacht worden und ihre Vergehungen vergeben sind. Beide Wahrheiten werden hier auffallend miteinander verbunden. Gerade das Leben, welches ich in Christus besitze, bezeugt, dass meine Sünden vergeben sind. Es ist nicht nur das Leben eines Christus, der in dieser Welt gelebt hat, sondern auch das Leben dessen, der am Kreuz erhöht wurde und dort meine Sünden trug; und nun ist das Werk vollbracht und die Sühnung angenommen worden, sodass mir in dem Auferstandenen neues Leben mitgeteilt werden konnte.

Wir können folglich nicht mit Christus lebendig gemacht worden sein, ohne dass unsere Vergehungen – ja,  alle Vergehungen (denn wenn nicht alle, dann gar keine) – vergeben sind. Die Schuld, welche ein gebrochenes Gesetz auf das Gewissen legte, ist weggenommen worden durch eine Tat, die Gott unendlich mehr verherrlicht hat, als es die persönliche Gerechtigkeit aller Menschen, die jemals lebten, hätte bewirken können. Dabei spreche ich nicht von der bewusst gemachten Vergebung, welche jenen gesichert ist, welche dieselbe besitzen. Hattest du irgendetwas mit dem Gesetz zu tun? Das gewaltige Werk Christi hat dich davon ganz und gar befreit. Der Urteilsspruch ist ausgelöscht; die Macht Satans öffentlich vernichtet. Der auferstandene Christus triumphiert über alles. Es gibt keine neuen Gnadenmittel mehr. Es gibt keine Weiterentwicklung, noch weniger eine Ergänzung zu Christus. Ein und derselbe Christus hat für alles die feste Grundlage gelegt.

Als Muster für die jüdischen Zeremonien und Feste, welche einige Männer wieder einzuführen versuchten, nimmt Paulus den Sabbat. Diese Beweisführung ist umso kraftvoller, weil jener Festtag mit dem ersten Menschen begann, als er noch nicht gefallen war -  und natürlich lange vor dem jüdischen Volk.  „So richte euch nun niemand!“, lautet die Ermahnung. Diese Dinge waren Schatten. „Besitzt ihr nicht die Wirklichkeit? Warum rennt ihr von der Wirklichkeit zum Schatten?“ „Laßt niemand euch um den Kampfpreis bringen, der seinen eigenen Willen tut in Demut und Anbetung der Engel, indem er auf Dinge eingeht, die er nicht gesehen hat, eitler Weise aufgeblasen von dem Sinne seines Fleisches, und nicht festhaltend das Haupt“ (V. 18–19). Folglich ist das neugierige Eindringenwollen in Dinge, die Gott nicht offenbart und ein Mensch nicht gesehen hat, wie z. B. Spekulationen über Engel, ein offenkundiger Beweis, dass dem Herzen sein Erbteil nicht wirklich genügt. Das ist nicht ein Festhalten des Hauptes. Wer Christus in bewusster Einheit mit Ihm festhält, kümmert sich nicht besonders um Engel. In Christus stehen die Gläubigen über ihnen und überlassen diese ohne Furcht oder Neid Gott. Wir wissen gut, dass Gott sie für seine Absichten benutzt und dass es tatsächlich für uns ein Verlust und Verwirrung bedeutet, wenn wir in diese Dinge einzudringen versuchen. „Nicht festhaltend das Haupt, aus welchem der ganze Leib, durch die Gelenke und Bande Darreichung empfangend und zusammengefügt, das Wachstum Gottes wächst.“

Als nächstes wird die Lehre noch nachdrücklicher angewandt. „Wenn ihr“, sagt Paulus, „mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid [das ist einer der großer Gesichtspunkte seines Themas], was unterwerfet ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“  Natürlich handelt es sich hier keineswegs um ein Gestorbensein demgegenüber, was ein Mensch als natürliches Leben in der Welt besitzt. Solcherart ist das christliche Leben nicht, welches in Wahrheit das Leben dessen ist, der starb und wieder auferstand. Er starb – das ist hier der Punkt – und darum bin auch ich tot. Doch wenn ich tot bin, was habe ich dann mit jenen Dingen zu tun, mit denen die Menschen nur in Berührung kommen, so lange sie leben? Sicherlich gehen diese mich nichts mehr an, da ich jetzt mit Christus auferstanden bin. Ein Mensch, der noch für diese Welt lebendig ist, befindet sich unter jenen Satzungen und anerkennt sie. Das war die Stellung Israels. Es war ein Volk, das in der Welt lebte; und das ganze System des Judentums setzte ein Volk innerhalb der Welt voraus und beschäftigte sich mit ihm.

Der sittlichen Wahrheit nach und als buchstäbliche Tatsache überschattete der Vorhang, der noch nicht von der unsichtbaren Welt aufgehoben war, Israels Zustand. Aber das erste kennzeichnende Ergebnis des Werkes Christi am Kreuz war, dass der Vorhang, der das Allerheiligste verschloss, von oben bis unten zerrissen wurde. Somit beginnt diese Enthüllung nicht mit der Menschwerdung (Inkarnation) (denn die Sünde war damit noch nicht gerichtet, noch der Mensch zu Gott gebracht), sondern mit dem Kreuz, mit der Erlösung. Es gab kein Christentum, d. h. keine Befreiung des Menschen und seine Darstellung in dem Zweiten Menschen, bevor Christus der Erstgeborene aus den Toten geworden war. Offensichtlich beruht demnach das Kennzeichnende des neuen Systems zuerst auf der Gottheit des menschgewordenen Heilands und zweitens auf der herrlichen Wahrheit seines Sühnungstodes und seiner Auferstehung. In dieser Weise sollen wir Ihn festhalten, und zwar nicht nur in anderen Aspekten, sondern vor allem in seiner besonderen Beziehung als das „Haupt“.

So sagt der Apostel: „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“  Danach gibt er dafür ein Beispiel: „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!“ (V. 21). Das ist nicht ein Kennzeichen des Christen-, sondern des Judentums. Es gehört zu einem Leben in dieser Welt, wenn wir sagen: „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!“ Das passt gut zu einem Juden, weil er solche Enthaltsamkeitsgebote empfangen hat. Aber Gott handelt mit einem Christen keinesfalls auf eine solche Weise. Wir sind keine Juden. Wir haben unsere Stellung in einem toten und auferstandenen Christus – oder wir sind gar nichts. Solche verbietenden Anordnungen hatten ihren Tag gehabt; jetzt ist die Zeit der Neugestaltung gekommen. Es geht nun um Wahrheit und Heiligkeit im Geist – kurz gesagt, um Christus. Jene Verbote betrafen Essen und Trinken und ähnliche Dinge, welche im Gebrauch verzehrt werden. Ein Christ stand niemals auf irgendeiner solchen fleischlichen Grundlage. Er ist mit Christus gestorben; folglich ist er aus dem Bereich herausgetreten, zu dem solche Handlungsweisen gehören. „Welche (Dinge) zwar einen Schein von Weisheit haben, in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut und im Nichtverschonen des Leibes, und nicht in einer gewissen Ehre, zur Befriedigung des Fleisches“ (V. 23). Die stolze, gefallene Natur des Menschen ist schon mit solchen Versuchen zufrieden, den Leib niederzuhalten. Hingegen will Gott, dass auch der Leib an seinem Platz eine gewisse Ehre genießt; und der Leib des Christen ist ein Tempel des Heiligen Geistes. So ist demnach das Zeremoniensystem in jeder Hinsicht falsch und übt Verrat an demjenigen, der am Kreuz gestorben ist.

Fußnoten

  • 1 Ath.: Leugnung der Existenz eines Gottes; Panth.: Die Lehre, dass Gott und die Welt (Natur) eins sind. (Übs.)
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