Einführender Vortrag zum Kolosserbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Kolosserbrief

Der oberflächlichste Leser wird sofort feststellen, dass der Kolosserbrief ein Gegenstück zum Epheserbrief darstellt. Beide Episteln sind keinesfalls identisch, doch dürfen wir sie als gegenseitige Ergänzung betrachten. Der Epheserbrief entfaltet den Leib [Christi; Übs.] in seinen reichen und mannigfaltigen Vorrechten. Der Kolosserbrief stellt uns das Haupt vor, und nicht allein das, sondern auch die Herrlichkeiten dessen, der diese Beziehung zu der Kirche (Versammlung) einnimmt. Zweifellos gab es in den Bedürfnissen der Erlösten, an die sich die beiden Briefe jeweils richteten, einen Grund für die besonderen Linien der entfalteten Wahrheiten. Auch kann, denke ich, nicht mit Einsicht bezweifelt werden, dass sich die Epheser in einem besseren geistlichen Zustand befanden als die Kolosser.

An die ersteren konnte der Heilige Geist die Fülle unseres Segens in Christus weitläufig ausführen. Der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist unser Gott und Vater; und Er hat gesegnet mit jeder möglichen geistlichen Segnung am höchsten Ort und auf der vollkommensten Grundlage. Im Epheserbrief gab es kein Hindernis für den Heiligen Geist in der Entfaltung der Wahrheit. Zu den Kolossern musste der Geist über ihren Zustand sprechen und im Zusammenhang damit die Wahrheit Christi als Heilmittel dagegen vorstellen. Christus ist hier nicht so sehr der Mittelpunkt von Segnung und Freude in der Gemeinschaft der Erlösten, vielmehr bildet Er die wahre und göttliche Korrektur gegen die Anläufe Satans. Letzterer wollte die Kolosser auf der einen Seite in den Bereich der Überlieferung abziehen und auf der anderen in den der Philosophie. Das sind nur zu häufig gefundene Fallstricke der menschlichen Natur – und die Philosophie insbesondere für gebildete und denkende Menschen. Es ist daher offensichtlich, dass ein Eingehen auf die Vorrechte der Kirche (Versammlung), des Leibes Christi, in keinster Weise dem Übel begegnet wäre, welches der Feind über die Kolosser zu bringen suchte. Sie mussten von jedem anderen Thema oder Gegenstand weggezogen werden zu Christus selbst. Sie hatten nötig, besonders die Nichtigkeit von allem zu erfahren, woran sich der Geist des Menschen erfreut. Sie sollten wissen – ich will nicht sagen, dass allein Christus ausreicht –, sondern dass es eine solche Fülle des Segens und der Herrlichkeit in Christus gibt, dass alles verdunkelt und verurteilt wird, dessen sich das Fleisch rühmen könnte. Darin besteht auch folglich ein Hauptteil des Unterschieds zwischen den beiden Briefen. Es gibt noch manche schöne Züge in den Einzelheiten. Ich habe mich hier indessen auf den grundsätzlichen Gesichtspunkt beschränkt, in dem die beiden Linien der Wahrheit voneinander abweichen. Aus dem Gesagten ist jedoch offensichtlich, dass die beiden Briefe in bemerkenswertester Weise zueinander in Beziehung stehen. Der eine präsentiert uns das Haupt, der andere den Leib. Auf diese Weise gibt es zwischen ihnen eine engere Verbindung als sonst bei den Briefen des Neuen Testaments.

Wir möchten jetzt den Pfad des Geistes Gottes in diesem tief belehrenden Brief verfolgen. – Der Apostel redet die Christen in Kolossä in Ausdrücken an, die im Wesentlichen denen an die Erlösten in Ephesus gleichen. Allerdings stellt er die Tatsache, dass sie „Brüder“ sind, in den Vordergrund. Natürlich galt das auch für die gläubigen Epheser; hier wird es jedoch ausdrücklich gesagt. Die Anrede ist in unserem Brief nicht so unvermischt wie dort, wo Paulus die Erlösten einfach so sieht, wie sie in Christus sind. Der Ausdruck „Brüder“, obwohl er natürlich in Christus seinen Ursprung hat, stellt ihre Beziehung zueinander durch die Gnade in den Vordergrund.

Danach lesen wir von der Danksagung des Apostels. So war es nicht im Epheserbrief. Dort geht eine der reichsten Entfaltungen der göttlichen Wahrheit jeder Anspielung auf die Gläubigen in jener Stadt voraus. Hier beschäftigt er sich unmittelbar nach seiner Danksagung mit ihrem Zustand und natürlich ihrem Bedürfnis. Zunächst anerkennt er, wie üblich, das, was sie von Gott empfangen hatten. „Wir danken dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus allezeit, indem wir für euch beten, nachdem wir gehört haben von eurem Glauben in Christo Jesu und der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt, wegen der Hoffnung, die für euch aufgehoben ist in den Himmeln“ (V. 3–5). Es handelt sich nicht wie im Epheserbrief um die Reichtümer der Herrlichkeit des Erbes Gottes in den Heiligen; vielmehr entspricht die Segnung weitgehend dem vergleichsweise niedrigen Niveau, welches auch im ersten Brief des Petrus vor uns tritt. Es muss wohl kaum gesagt werden, dass beide Darstellungsweisen gleich wahr und jeweils an ihrem Ort durchaus angemessen sind. Dennoch zeigen sie nicht dieselbe geistliche Höhe. Eine Hoffnung, die für uns im Himmel aufgehoben ist, setzt eine Stellung auf der Erde voraus. Der Brief an die Epheser sieht den Erlösten als schon durch Gott in den himmlischen Örtern in Christus Gesegneten an. In dem einen Brief wartet er darauf, tatsächlich in den Himmel hinaufgenommen zu werden, in dem anderen gehört er schon zum Himmel kraft seiner Einheit mit Christus.

Doch es bleibt wahr, dass die Hoffnung für uns im Himmel aufgehoben ist, wie der Apostel sagt, „von welcher ihr zuvor gehört habt in dem Worte der Wahrheit des Evangeliums, das zu euch gekommen, so wie es auch in der ganzen Welt ist, und ist fruchtbringend und wachsend, wie auch unter euch, von dem Tage an, da ihr es gehört und die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt habt.“ Alles ist bedeutungsvoll und gesegnet; doch nichtsdestoweniger spricht es keinesfalls von derselben Fülle des Vorrechts, welches Paulus in seinem Schreiben an die Epheser sofort erörtern konnte. „Wie ihr gelernt habt von Epaphras, unserem geliebten Mitknecht, der ein treuer Diener des Christus für euch ist, der uns auch eure Liebe im Geiste kundgetan hat“ (V. 7–8). Soweit ich mich erinnere, ist das die einzige Anspielung auf den Heiligen Geist in diesem Brief. Sie zeigt den Geist Gottes nicht als eine Person auf der Erde, obwohl Er natürlich eine Person ist, sondern vielmehr als Kennzeichen ihrer Liebe. Ihre Liebe bestand nicht in menschlicher Zuneigung; es war Liebe im Geist. Das ist indessen weit von dem kostbaren Platz entfernt, der seiner persönlichen Gegenwart und Handlungsweise anderswo gegeben wird.

Auf der anderen Seite finden wir zahlreiche Hinweise im Brief an die Epheser. Dort gibt es kein Kapitel, in dem der Heilige Geist nicht eine wichtige und notwendige Stelle einnimmt. Falls wir die Erlösten als Individuen ansehen, so ist Er ihr Siegel und Unterpfand. Auch ist Er die Kraft all ihres Wachstums in ihrem Verständnis der Dinge Gottes. Allein durch Ihn sind die Augen des Herzens erleuchtet, um zu erkennen, was Gott für die Heiligen bewirkt und ihnen gesichert hat. So nahen auch ausschließlich durch Ihn alle, sowohl Juden als Nichtjuden, dem Vater. Im Geist bilden beide Gruppen zusammen die Behausung Gottes. Er hat jetzt das Geheimnis offenbart, welches durch Zeitalter und Geschlechter hindurch verborgen war. Er kräftigt den inneren Menschen, damit er sich durch Christus der ganzen Fülle Gottes erfreue. Nur Er ist die grundsätzliche Kraft der Einheit, die wir zu bewahren ermahnt werden. Er wirkt in den verschiedenen Gaben Christi, indem Er die Erlösten zusammenschweißt, damit sich wirklich Christus in seinem Leib zeigt. Es ist Er, der Heilige Geist Gottes, vor dessen Betrüben wir gewarnt werden. Er erfüllt die Gläubigen, bewahrt sie vor der Aufreizung des Fleisches und leitet sie in jene heilige Freude, welche zu Danksagung und Lobpreis führt; denn die Christen und die Kirche (Versammlung) sollen ihre Psalmen, Loblieder und geistlichen Lieder singen. Schließlich ist Er es, der die Kraft darreicht für alle die heiligen Kämpfe, die wir mit dem Widersacher auszutragen haben. Somit spielt es also keine Rolle, welchen Teil des Epheserbriefes wir betrachten. – Wir haben nun die verschiedenen Gegenstände des Briefes überflogen; und es ist offensichtlich, dass der Heilige Geist ein wesentliches Teil der göttlichen Wahrheit darstellt, die in diesem Brief vom Anfang bis zum Ende entfaltet wird.

Das macht umso auffälliger, dass im Kolosserbrief, der eine Ergänzung zu einem Brief angefüllt mit Hinweisen auf den Heiligen Geist darstellt, diese fast völlig fehlen. Er wird nur einmal 1 erwähnt, und zwar als derjenige, der die Liebe der Erlösten kennzeichnet. Es sei hinzugefügt, dass, wenn wir dieselben Wahrheiten im Kolosserbrief erwähnt finden, sie Christus oder dem Leben, das wir in Christus besitzen, zugeschrieben werden. Den Ephesern wird der Heilige Geist als eine göttliche Person geschildert, die für die Herrlichkeit Christi wirkt, und zwar in den Heiligen und in der Kirche. Der Grund [für diesen Unterschied; Übs.] scheint klar zu sein. Wenn sich die Augen der Menschen von Christus abwenden, kann die Lehre über den Heiligen Geist die Gefahr und Selbsttäuschung nur noch vergrößern. So geschah es in allen Zeitaltern, dass Menschen, die nicht in Christus fest gegründet waren, durch diese Erkenntnis aufgebläht wurden. Denn da der Heilige Geist in der Kirche, d. h. im Menschen, wirkt, verleiht die Wirksamkeit des Geistes sowohl in einer Einzelperson als auch in der Kirche diesen eine gewisse Wichtigkeit, falls das Auge nicht auf Christus und ausschließlich auf Ihn gerichtet ist. In einem solchen Zustand würde die Beschäftigung mit diesen Wirkungen von der Herrlichkeit Christi abziehen. Wenn hingegen Christus allein der Herzensgegenstand des Gläubigen ist, vermag dieser, ohne Schaden zu nehmen, jene Wahrheiten zu kennen, bei ihnen zu verweilen und in dieselben einzudringen. Er versteht dann die verschiedenen Tätigkeiten des Geistes und trägt auf diese Weise umso mehr zur Herrlichkeit Christi bei.

Ein anderer Grund besteht darin, dass die Gegenwart des Geistes Gottes, sowohl in der Einzelperson als auch in der Kirche, einen sehr wichtigen Teil der christlichen Vorrechte ausmacht. Daher diente es, wie wir schon erwähnt haben, nicht zum Wohlbefinden der Seelen, wenn seine Anwesenheit im Kolosserbrief ausführlich entfaltet würde. Das Thema dieses Briefes besteht demnach darin, zu Christus selbst zurückzurufen, weil Böses durch Satans List unter die Kolosser eingeschlichen war. Das notwendige und ausschließliche Heilmittel war ein Wegwenden ihrer Augen von anderen Gegenständen, selbst wenn es sich um ihre Vorrechte handelte, um sie auf Christus zu richten. Obwohl der Heilige Geist sich wirklich auf der Erde befindet und in dem Erlösten und in der Kirche wohnt, hätte eine Beschäftigung des Herzens mit dem gesegneten Geist unter diesen Umständen offensichtlich seinem großen Ziel widersprochen, nämlich Christus zu verherrlichen. Darum ruft Er ungeteilt zu Christus zurück. Wenn die Seele in Frieden von allem anderen entwöhnt ist und ihre ganze Freude und ihren Ruhm in Christus findet, vermag sie uneingeschränkter zu hören. Das heißt nicht, dass es dann keine Gefahr mehr für sie gibt. Nur solange das Auge auf Christus gerichtet ist, gibt es keine Gefahr, weil alles, was nicht mit seinem Namen übereinstimmt, zurückgewiesen wird. Wenn der Heilige Geist die Herrlichkeit Christi gesichert hält, gewinnt Er mehr Freiheit, sich mit anderen Gegenständen zu beschäftigen.

An nächster Stelle haben wir das Gebet des Apostels. „Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tage an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, auf daß ihr erfüllt sein möget mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werke fruchtbringend, und wachsend durch die Erkenntnis Gottes“ (V. 9–10). Es ist offensichtlich: Wie gesegnet auch alles, so werden doch noch Bedürfnisse vorausgesetzt. In einem gewissen Maß gibt es noch Schwachheit, und zwar für den täglichen Wandel des Christen. Paulus spricht von einem Wandel „würdig des Herrn.“ Er konnte jetzt nicht von einem Wandel ihrer Berufung würdig sprechen, wie in seinem Schreiben an die Epheser (Eph 4,1). Er sagt noch nicht einmal „würdig des  Christus“, sondern „des Herrn“. Damit führt er Christi Autorität ein; denn es könnte für den Christen keinen bedeutsameren Irrtum geben, als die Annahme, dass der Ausdruck „Herr“ als solcher für den Erlösten der höherwertige sei. An seinem Platz hat er natürlich seine Bedeutung, doch er richtet sich mehr an Gefühle der Verantwortlichkeit als an solche, wie sie uns als Kinder Gottes kennzeichnen. Wenn jemand Ihn nicht als Herrn anerkennt, dann ist er nichts. Auf der anderen Seite mag jemand sich Ihm als Herrn beugen und doch schmerzhaft gefühllos für die höheren Herrlichkeiten seiner Person und die Tiefen seiner Gnade bleiben. Ach! Viele haben in dieser Hinsicht versagt. Auch ist nichts zur gegenwärtigen Zeit öffentlicher verbreitet. Aber es war schon immer so.

Der Geist Gottes beginnt wie in der Apostelgeschichte mit dem einfachsten Bekenntnis des Namens Christi. So handelt Er gewöhnlich. Es war die Predigt davon, dass Jesus zum Herrn gemacht worden war, und der Glaube daran, welche am Pfingsttag und danach Tausende in die Versammlung führte. Aber nicht wenige, die von den ersten bis zu späteren Tagen getauft worden sind, erwiesen sich als untreu gegen die Herrlichkeit Christi. Wir können gut verstehen, dass der Heilige Geist damals nicht die Fülle der Herrlichkeit Christi herausstellte, sondern nur das, was nötig war. Es sei auch nicht geleugnet, dass einige Seelen eine bemerkenswerte Reife des Verständnisses erreichten, sodass sie von Anfang an Jesus in einer höheren Herrlichkeit sahen, an Ihn glaubten und Ihn predigten als der des Herr-Seins. Nach unserem Empfinden wuchs in dieser Hinsicht niemand so schnell und auffallend wie der Apostel Paulus. Doch darin war der Apostel einzigartig; denn selbst diejenigen, die wussten, dass Christus im höchsten und ewigen Sinn der Sohn des lebendigen Gottes ist, scheinen diese Wahrheit nur wenig gepredigt zu haben – jedenfalls in ihrem frühen Zeugnis. Als die zerstörende böse Saat Satans eindrang, nahm der Wert dessen, an dem ihr Herz hing, einen zunehmenden Teil ihres Zeugnisses ein, bis zuletzt die volle und unverkürzte sowie zunehmend strahlendere Wahrheit von der göttlichen Herrlichkeit des Herrn in ihrer ganzen Fülle herausgestellt wurde. Da letztere die Wahrheit ist und auch einigen von Anfang an bekannt war, gestattete der Heilige Geist nicht, dass sie verborgen blieb. Auf diese Weise begegnete Er der Unverfrorenheit des Menschen und der Verschlagenheit des Feindes, welche die niedrigere Herrlichkeit Christi nutzten, um jede höhere zu leugnen, nämlich seine Gottheit und ewige Sohnschaft.

Mir scheint, dass im Brief an die Kolosser die Ausdrücke, die der Geist Gottes verwendet, klare Hinweise liefern, dass die Seelen in Kolossä keineswegs auf derselben festen und erhabenen Grundlage ruhten, die im Epheserbrief betrachtet wird. Folglich konnte der Apostel sich in ihrem Fall nicht an dieselben starken Beweggründe wenden, welche durch die Inspiration des Heiligen Geistes in seinem Herzen aufstiegen, als er jenen ähnlichen Brief schrieb. Er legt den Nachdruck darauf: „Um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werke fruchtbringend.“ Das Christentum ist nämlich keineswegs gekennzeichnet durch „Tue dies!“ und „Tue jenes nicht!“ Es enthält ein Wachstum, da es in Leben und Kraft aus dem Heiligen Geist entspringt. Wenn durch dasselbe wirklich geistliche Wesen in voller Bewaffnung sowie in der Fülle von Weisheit und Kraft entstehen würden, wie die Menschen erdichtet haben, wäre es kein Christentum. „Kindlein“ (Säuglinge), „Jünglinge“ und „Väter“ – das ist der göttliche Weg mit uns in Gnade und seiner Natur nach (1. Joh 2). Es hat Gott gefallen, die Kirche einen „Leib“ zu nennen; und ein solcher ist sie in Wahrheit. So wie ein Christ als Einzelperson ein Sohn Gottes ist, so soll auch ein Wachstum zu Christus hin in allen Dingen erfolgen. Wenig ist anstößiger als ein Kind, welches wie ein alter Mann blickt, spricht und handelt. Jede richtig empfindende Person empört sich gegen ein solches Kind als ein Zerrbild und ein Muster an Affektiertheit oder Schauspielerei. So ist es auch in geistlichen Dingen. Die bloße Übernahme und Wiedergabe von tieferen oder höheren Gedanken, ohne dass diese durch Erfahrung sich bewährt haben, kann nicht die Frucht der Belehrung des Geistes Gottes sein. Nichts ist lieblicher, sowohl in geistlicher als auch in natürlicher Hinsicht, als wenn jeder genau das ist, wozu Gott ihn gemacht hat. Allerdings sollte er darauf aufbauend sorgfältig durch die Wirksamkeit der Gnade Gottes nach einem Anwachsen der inneren Kraft trachten. Das ist ein gesundes Fortschreiten im Herrn. Zweifellos gibt es auf allen Seiten Dinge, die abgehauen oder beschnitten werden müssen. Trotzdem sollte sich das göttliche Leben in den Heiligen Gottes zunehmend entwickeln. Dieses geschieht mittels des Gebrauchs der Wahrheit durch den Heiligen Geist und kann keineswegs auf einmal erfolgen. Darin gibt es keine Ausnahmefälle.

Der Wunsch für diese Erlösten war also, dass sie ständig  wachsen  möchten. Letzteres ist nicht der Fall in der Wissenschaft von den Dingen dieser Welt, genauso wenig in Lehrschulen. Dort handelt es sich um einen fest umrissenen Stoff innerhalb bekannter Grenzen, der genug definiert ist, um den Vorstellungen des Menschen zu entsprechen. Alles, was man in den einzelnen Unterbereichen lernen kann, gewinnt man nach einem nicht allzu langem Studium. Der Geist Gottes hingegen greift die Wahrheit von Jesus Christus auf, welche allen solchen menschlichen Gedanken widersteht. Die Kolosser, die mit der Überlieferung und der Philosophie liebäugelten, waren in dieser Hinsicht in Gefahr. So sagt Paulus: „In jedem guten Werke fruchtbringend, und wachsend [genau gesagt nicht „in der“, sondern] durch die Erkenntnis Gottes.“ Auf jeden Fall wird Wachstum vorausgesetzt. Wie könnte dieses anders geschehen als durch die Erkenntnis Gottes? Er ist die einzige göttliche Quelle, der Bereich und das Mittel für ein wahres Wachstum der Seele. Doch es gibt noch weit mehr als nur Wachstum in der Erkenntnis oder sogar durch die Erkenntnis Gottes. Das wäre die besinnliche Seite; es besteht auch noch eine tätige. Diese macht den Erlösten wirklich passiv. Wir werden nämlich gekräftigt, und zwar in der Hauptsache nicht um zu handeln, sondern um in einer Welt, die Christus nicht kennt, zu leiden. So werden wir „gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu allem Ausharren und aller Langmut mit Freuden“ (V. 11).

Wie gut und gewaltig sind die Gedanken des Geistes Gottes! Wer hätte jemals einen solchen Platz für den Menschen mit der Herrlichkeit Gottes vereinbaren können? Ich will nicht nur sagen, dass kein Mensch etwas davon ahnte, sondern dass auch niemand an ein solches Teil für Seelen auf der Erde gedacht hätte. Siehe nun, wie und für welchen Gegenstand der Apostel erneut dankt! Obwohl es Schwierigkeiten und Hindernisse gab, fühlte er, wie viel Anlass zum Preisen unseres Gottes und Vaters vorlag. „Danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat“ – und beachten wir gut: Wir lesen nicht von der Gewissheit bezüglich seines  Willens, sondern von der friedevollen Sicherheit, dass Er uns schon „fähig gemacht  hat“„zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte“ (V. 12). Menschliche Worte reichen nicht aus, einen solchen Gedanken zu vertiefen. Seine Gnade hat uns jetzt schon für seine Herrlichkeit fähig gemacht. Das ist, soweit auch diese Gedanken gehen, eindeutig die Bedeutung der Worte des Heiligen Geistes. Er blickt nicht auf einige fortgeschrittene Seelen zu Kolossä, sondern auf alle Erlösten dort. Böses musste entfernt, vor Gefahren gewarnt werden; aber wenn der Apostel daran dachte, was der Vater für sie in Aussicht und mit ihnen in Hinsicht auf seine Herrlichkeit vorhatte, konnte er weder weniger, noch mehr schreiben. Der Vater hatte sie schon fähig gemacht zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht; und das geschah, nicht ohne den schrecklichen Zustand der heidnischen Welt und die persönliche Schlechtigkeit der Kolosser zu der Zeit, als sie im Namen des Herrn Jesus zu Gott gezogen wurden, vollkommen zu berücksichtigen. „Der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe, in welchem wir die Erlösung haben [an die Epheser wird „durch sein Blut“ hinzugefügt; Eph 1,7] die Vergebung der Sünden“ (V. 13–14).

An diesem Punkt gelangen wir zu einem der ihn kennzeichnenden Hauptthemen des Briefes. Wer oder was ist der Sohn seiner Liebe, in dem wir die Erlösung haben? Wie wenig verstanden die Kolosser, dass ihr Bemühen, etwas zu der Wahrheit des Evangeliums hinzuzufügen, in Wirklichkeit von der Herrlichkeit des Sohnes wegnahm! Ihr Verlangen war so wohlmeinend, dessen dürfen wir sicher sein, wie jeder Irrtum nur sein kann. Wie viele andere mochten sie erwogen haben: Wenn das Christentum in der Hand von Fischern, Zöllnern und ähnlichen Männern (die nach dem Maßstab der Welt und menschlicher Lehrschulen wenig galten) so viel erreicht hat – was würde nicht alles bewirkt, wenn es sich mit der Weisheit der Philosophie verschönert, wenn es den Schmuck von Literatur und Wissenschaft an sich hat und wenn es seinen siegreichen Lauf mit Dingen verbindet, welche die Gefühle der Menschheit anziehen und ihren Verstand regieren? Der Heilige Geist stellt das vor, was alle solche Spekulationen vollkommen richtet und beiseitesetzt. Niemand und nichts kann zur Macht, zum Glanz oder zum Wert Christi in irgendeiner Hinsicht etwas hinzufügen. Falls du Ihn besser kennen würdest, müsstest du es empfinden. Der Gedanke eines Menschen, Christus eine neue Würde zu geben, ist sinnloser als ein Versuch Davids, in der Waffenrüstung Sauls Goliath zu begegnen. Tatsächlich sind die Verzierungen, nach denen die Menschen so laut rufen, echte Hindernisse für Christus; und genau in dem Maß, in denen sie gepriesen werden, erniedrigen sie ihre Verfechter zur Sklaverei und den Glauben, welchen jene bekennen, auf den Nullpunkt. Beurteile diese Dinge in rechter Weise, und sie mögen für die Herrlichkeit Gottes einen gewissen Wert gewinnen! Wenn man sie indessen als erstrebenswerte Mittel ansieht, um die Welt anzuziehen, oder als Gegenstände, die aus sich selbst heraus von Christen geschätzt werden sollten, dann können sie als Eindringlinge, die sie sind, sich nur als unpassend und der Herrlichkeit Christi feindlich erweisen.

Christus ist das Bild Gottes in Fülle und Vollkommenheit. Ausschließlich Er offenbart den unsichtbaren Gott. Die Überlieferung kann niemals den wahren Gott offenbaren. Die Philosophie hingegen macht alles noch schlimmer sowie in gleicher Weise die Hilfsquellen menschlicher Religion. Christus – und Christus allein – hat wahrhaft Gott den Menschen vorgestellt, da Er der allein vollkommene Mensch vor Gott war; und so wie Er das Bild des unsichtbaren Gottes ist, so ist Er auch der Erstgeborene aller Schöpfung; denn der Heilige Geist stellt hier eine Art von Antithese hinsichtlich Christus in Bezug auf Gott und auf das Geschaffene zusammen. Er ist das Bild von Gott. Das gilt nicht im ausschließlichen, doch sicherlich im allein angemessenen Sinn. Auch andere mögen, wie wir wissen, ein solches Bild sein – ein Christ zum Beispiel und der Mensch in einer bestimmten und wirklichen Form als Geschöpf. Aber ausschließlich Christus macht Gott in einer wahren und vollkommenen Weise bekannt. Er ist die Wahrheit. Er ist der Ausdruck dessen, was Gott ist. Das ist die Quelle aller wahren Erkenntnis; und somit ist Christus die Wahrheit über alles und jeden. In diesem Ausdruck bezieht sich jedoch alles, was der Apostel vorbringt, auf den unsichtbaren Gott. Es ist ganz und gar unmöglich, dass der Mensch Ihn, den Unsichtbaren, sehen sollte. Er benötigte jemand, der Gott zu ihm herabbrachte, um seine Worte und Wege zu entfalten; und Christus ist jenes  eine Bild des unsichtbaren Gottes.

Doch außerdem ist Christus der Erstgeborene aller Schöpfung. Das heißt natürlich keinesfalls, dass Er wie Adam der Erste auf der Erde war. In zeitlicher Hinsicht war die Erde schon verhältnismäßig alt, als Jesus erschien. Wie konnte also Er, der viertausend Jahre nach der Erschaffung Adams kam und inmitten der Menschen gesehen wurde – wie konnte Er in irgendeinem Sinn der Erstgeborene aller Schöpfung sein? Wir brauchen uns keine Begründung dafür auszudenken, denn der Heilige Geist liefert uns seine eigene; und wie wir finden, wird Er alle anderen Begründungen beiseitesetzen. Jeder Gedanke des Menschen ist in Gegenwart der Weisheit Gottes wertlos. Jesus ist der Erstgeborene ohne Bezug darauf, wann Er erschien. Wäre es möglich und mit anderen Plänen Gottes in Übereinstimmung gewesen (und das war nicht der Fall), dass Er in Wirklichkeit als der letzte hienieden geboren worden wäre, so wäre Er trotzdem unveränderlich der Erstgeborene geblieben. Er konnte unmöglich etwas anderes sein als der Erstgeborene. Und warum? Weil Er der Größte, der Beste, der Heiligste war? Keiner dieser Gründe ist eine Antwort, obwohl Er alle diese Bedingungen und noch viele mehr erfüllte. Noch weniger ist Er der Erstgeborene aufgrund irgendwelcher Dinge, die auf Ihn übertragen worden sind – sei es Macht oder Amt. Das sind nicht die Grundlagen – weder einzeln, noch zusammengenommen – dafür, dass Er der Erstgeborene ist. Das Wort Gottes kennzeichnet jemanden, der größer ist als alles; und das ist der wahre und einzige Schlüssel zur Person und zum Werk Christi: „Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden“ (V. 16).

Welch eine Majestät! Wie ist dieses den Bedürfnissen angepasst entsprechend der Wahrheit Gottes! Es muss nur von einem Herzen, das von der Gnade berührt ist, gehört werden, um zu überzeugen. Aber ach!, in dem gefallenen Menschen als solchem wohnt ein Wille, der die Wahrheit hasst und die Gnade Gottes verachtet. Erweist sich nicht beides, indem er auf die Herrlichkeit Christi eifersüchtig ist? Es bleibt jedoch bestehen: Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung, weil Er der Schöpfer aller Dinge droben und hienieden, stofflich und geistlich ist. „Durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren.“  Es geht dabei nicht allein um die niedrigeren Rangstufen der Schöpfung, es werden auch die höchsten berücksichtigt – „es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: alle Dinge sind durch ihn ... geschaffen.“  Sagst du: „Jawohl! Aber warum sollte Gott nicht durch das höchste Geschöpf als Mittelsperson erschaffen?“ Auch an dieser Stelle wird noch mehr gesagt, um die volle Herrlichkeit Christi aufrechtzuerhalten. Alle Dinge wurden zweifellos durch Ihn erschaffen. Sie wurden indessen auch  für Ihn erschaffen – und nicht durch Ihn für den Vater. Sie wurden  durch Ihn und  für Ihn in gleicher Weise wie für den Vater erschaffen; und als sei dieses noch nicht genug, wird uns weiter gesagt, dass Er vor allen Dingen war und dass letztere durch (ἐν) Ihn bestehen. Er ist der Träger der ganzen Schöpfung, sodass sogar das Universum Gottes kraft seiner Person existiert. Ohne Ihn würde alles sofort in Auflösung versinken.

Doch das ist noch nicht alles. Er ist das Haupt des Leibes – eines der Oberthemen dieses Briefes. Darin besteht Christi Beziehung zur Kirche (Versammlung). Und wie ist Er das Haupt des Leibes? Nicht einfach als der Erstgeborene der Schöpfung! Keineswegs!  Noch weil Er der Schöpfer von allem ist! Weder sein Wesen als Haupt über alle Schöpfung als der Erbe aller Dinge, noch seine Rechte als Schöpfer geben in sich selbst ein ausreichendes Anrecht, das Haupt des Leibes zu sein. Darin liegt eine völlig andere Art der Segnung und der Herrlichkeit. Für diese erschien eine neue Ordnung der Dinge; und da wir nicht die geringsten aller Wesen sind, sollten wir diesen Unterschied verstehen. Wer wäre so tiefgreifend von dieser Wahrheit betroffen wie der Christ? Denn wenn wir irgendein Teil oder Los in Christus haben, wenn wir zur Kirche Gottes gehören, sollten wir gut den Charakter unserer Segnung kennen. Wie auch alles andere bestimmt Christus diese Segnung. Doch ein Unterschied liegt darin, dass Er „der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten“ – nicht einfach der Erstgeborene  der Toten, sondern der Erstgeborene  aus den Toten. Er ist der Erstgeborene aus den Toten heraus sowie das Haupt und der erstgeborene Erbe der ganzen existierenden Schöpfung. Auf diese Weise erweckt Er Menschen in einen neuen Zustand hinein. Er lässt das hinter sich, was unter die Vergänglichkeit bzw. den Tod gefallen ist durch das sündigende Haupt, den ersten Adam. Christus machte zunichte die Macht dessen, der die Macht des  Todes hat – jenes Wort, das so schrecklich für das Herz des Menschen tönt und ganz gewiss den Gedanken und dem Herzen unseres Gottes und Vaters fremd ist, obwohl eine ernste Notwendigkeit, die durch die Rebellion des Menschen in die Schöpfung eindrang.

Wo der Mensch die Sünde brachte, brachte Christus die Gnade; und die Herrlichkeit seiner Person ermöglichte es Ihm, in Gnade und Gehorsam in Tiefen hinabzusteigen, die niemals vorher ausgelotet worden waren. Von einem solchen Schauplatz – nicht allein aus einer Ihn verwerfenden, schuldigen Welt, sondern auch aus dem Reich des Todes (und eines solchen Todes!) – stieg Jesus wieder herauf. Und jetzt ist Er von den Toten auferstanden als der Anfang einer gänzlich neuen Ordnung der Wirklichkeit. So wie Er das Haupt ist, ist die Kirche sein Leib. Sie ist in der Tat auf Christus gegründet – aber auf einem toten und auferstandenen Christus. Als solcher – nicht einfach aufgrund seiner Geburt, sondern als Auferstandener aus den Toten – ist Er der Anfang. Folglich werden alle Fragen nach dem, was vor seinem Tod und seiner Auferstehung bestand, sofort ausgeschlossen. Wer unserem Vers glaubt, versteht, dass diese Wahrheit während der Zeiten des Alten Testaments ein unenthülltes Geheimnis war. Die Handlungsweisen Gottes damals beruhten nicht auf dem Grundsatz eines Leibes auf der Erde, verbunden mit einem verherrlichten Haupt, das einst tot war und jetzt auferstanden ist. Sie sind sogar mit dem gegenwärtigen Zustand unvereinbar. Wer immer durch den Glauben die Kunde dieses Verses – sowie auch einer großen Anzahl weiterer Schriftstellen – annimmt, für den ist auf solche Weise diese völlig sinnlose Auseinandersetzung beendet. Er weiß und ist sich durch göttliche Belehrung sicher, dass Christus nicht nur der Höchste in jener Schöpfung ist, welche schon bestand, sondern auch der Anfang von etwas Neuem, und zwar als sein Haupt. Es gefiel Ihm, damit in seiner Auferstehung von den Toten zu beginnen. Es handelt sich keinesfalls um das Alte, welches durch die Herablassung dessen, der in dieses hinabstieg, erhöht wurde, sondern um einen neuen Zustand, von dem der auferstandene Christus sowohl Haupt als auch Anfang ist. So wird gesagt: „Welcher der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten, auf daß er in allem den Vorrang habe.“

Das zeigt uns den neuen Zustand, die neue Stellung und die Beziehung, in denen sich die herrliche Person des Herrn Jesus befindet. Ähnlich erhalten wir als Nächstes einen Blick auf sein Werk, wie es dem Thema des Briefes angemessen ist: „Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen.“ Ich nehme mir die Freiheit, den Vers in korrekter Form wiederzugeben, so wie ihn inzwischen die meisten meiner anwesenden 2 Geschwister kennen. Doch es mögen einige hier sein, wie anzunehmen ist, die sich nicht bewusst sind, dass die Einfügung der Worte „des Vaters“ (wie in der „Authorized Version“ in Kursivschrift) die Herrlichkeit des Sohnes ohne Grund und in gefährlicher Weise schmälert. Es war nicht der Vater, sondern die Gottheit. [vgl. Kap. 2,9; Übs.]. Es war das Wohlgefallen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. So gefiel es der Fülle der Gottheit, in Ihm zu wohnen. Aber sogar dieses konnte den Menschen nicht mit Gott versöhnen – im Gegenteil! Es erwies, dass der Mensch unversöhnbar war, soweit es ihn selbst betraf.

Wenn es einer göttlichen Person gefiel, auf der Erde zu erscheinen und eine unausdenkbare Güte und Macht mit sich zu bringen, um sich mit jeder Not und einem jeden zu beschäftigen, mit dem sie in Berührung kam und Ihre gnädigen Handlungen suchte bzw. annahm, dann sollte man doch erwarten, dass der Mensch einer solchen bereitwilligen Liebe und unmessbaren Kraft nicht widerstehen konnte. Das wirkliche Ergebnis zeigte indessen über jeden Zweifel erhaben, dass sich niemals vorher ein solcher von Herzen kommender, allgemeiner und grundloser Hass offenbart hat wie der gegen Jesus, den Sohn Gottes. In Ihm bestand kein Mangel an Anziehungskraft bezüglich seiner Liebe und Macht (denn das konnte nicht sein), da Er doch umherging, Gutes zu tun (Apg 10,38); und dennoch wandten die elenden Herzen sich Ihm nicht zu außer dort, wo die Gnade Gottes des Vaters zu dem einzig angemessenen Ausdruck seiner selbst zog. Niemand kann behaupten, dass Er jemals eine einzige Seele zurückwies. Niemand kann sagen, dass solche Menschen leer von Ihm weggingen. Ihre Beweggründe waren jedoch häufig weit davon entfernt, gut zu sein. Sie kamen zu Ihm, um von Ihm, was irgend zu bekommen war, mitzunehmen. Aber auf die Länge gesehen, suchten sie weder Ihn, noch das, was Er nach seinen Bedingungen zu geben hatte. Sie waren mit Ihm fertig; und soweit ihr Wille betroffen war, waren sie mit Ihm für immer fertig. Das Kreuz beendete jenes schreckliche Ringen und jenen herzzerbrechenden Anblick des Menschen, der auf solche Weise offensichtlich vom Teufel für dessen Willen gefangen geführt wird. (2. Tim 2,26).

Was war nun zu tun? Ach! Das war die ernste Frage; und Gott wartete darauf, diese zu beantworten. Er wollte den Menschen, obwohl er seinem Heil im Weg stand, versöhnen. Er wollte mit seiner Liebe dessen Hass besiegen. Mag der Mensch unverbesserlich sein, mag seine Feindschaft alle Vorstellungen übertreffen – Gott erfüllte in der Ruhe seiner Weisheit und in der Kraft seiner unermüdlichen Liebe seine Absichten der erlösenden Liebe zu gerade der Zeit, als der Mensch seine Bosheit zur Vollendung brachte. Das erfolgte am Kreuz Christi. So geschah es, dass, als alles verloren zu sein schien, alles gewonnen wurde. Die Fülle der Gottheit wohnte in Jesus. Doch der Mensch wollte nichts davon und bewies es vor allem im Kreuz. Dennoch war das Kreuz der festgelegte und alleinige Ort, wo die Grundlage, welche unerschütterlich ist, gelegt wurde. So sagt Paulus: „Indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes – durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln“ (V. 20).

Zuerst stellt der Apostel alle Dinge als ein Ganzes vor, nämlich das allgemeine Erschaffene – irdisch und himmlisch. Auf diese Weise gibt er uns eine angemessene Vorstellung von dem vollkommenen Triumph Gottes zu dem Zeitpunkt, an dem es so aussah, als sei Satan durch den Menschen vollständig gegen die Ratschlüsse Gottes erfolgreich gewesen. Aber ist das alles? Liegt der Wert jenes Werkes einzig und allein darin, dass das Universum im Kreuz des Herrn Jesus eine Grundlage für seine Versöhnung gefunden hat? Es gibt schon ein gegenwärtiges Zeugnis vom Sieg Jesu. Im Universum hingegen läuft alles weiter wie bisher. Auf jeden Fall ist die niedrigere Schöpfung immer noch der Nichtigkeit unterworfen. Gott indessen (und das entspricht seinem Wesen) beeilt sich, seinen Sieg zu nutzen, obwohl zur Zeit noch nicht in Hinsicht auf äußere Dinge. Letzteres bleibt für den Tag der Herrlichkeit Christi aufbewahrt und wird noch einen sehr wichtigen Teil in den Vorhaben Gottes ausfüllen. Aber sogar jetzt schon liegt im Herzen Gottes eine weit größere Absicht verborgen. Was könnte gewaltiger sein, als die Versöhnung aller Dinge im Himmel und auf der Erde? Gerade die Opfer Satans, die offenen Feinde Christi, die Wütendsten gegen Ihn – mögen sie auch machtlos sein, ihrem Willen nach sind sie die Zügellosesten in ihrem Widerstand gegen Gott – sind die Gegenstände der Versöhnung Gottes mit sich selbst 3. Letztere geschah auf dem Schauplatz, auf dem unmittelbar vorher Satan erschienen war, um einen Sieg zu erringen, indem er sie anleitete, Christus zu kreuzigen. Auf diesem Blutfeld, wo sein altes Volk sich mit den götzendienerischen Nichtjuden zusammen fand und letztere tatsächlich veranlasste, ein Kreuz für ihren eigenen Messias aufzurichten – dort ist es, wo Gottes Gnade eine gerechte Befreiung für jene bewirkte, die Er versöhnt hat.

Augenscheinlich ist es Satan erlaubt voranzuschreiten, als hätte er den Endsieg errungen. Gott jedoch stellt die Wahrheit vor von dem, was  Er in jene Herzen gelegt hat, in denen Satan vorher sein Werk der Verführung am meisten ausüben konnte. „Euch, die ihr einst entfremdet und Feinde waret nach der Gesinnung“, sagt Paulus (denn er stellt ihnen die volle Wahrheit hinsichtlich ihres Zustandes vor), „die ihr einst entfremdet und Feinde waret nach der Gesinnung in den bösen Werken, hat er aber nun versöhnt in dem Leibe seines Fleisches durch den Tod“ (V. 21–22). Während des Lebens des Herrn Jesus konnte dieses Werk in keinster Weise erfüllt werden. Die Fleischwerdung (Inkarnation) – so gesegnet und kostbar sie auch ist – versöhnte niemals einen Menschen mit Gott. Sie stellte uns nur die Person dessen vor, welcher versöhnen sollte. Damit war sie in sich selbst zwar ein sehr wichtiger Schritt in Richtung auf die Versöhnung, aber in Wirklichkeit brachte sie nicht einer einzigen Seele eine solche. Erst das Kreuz Christi bewirkte dieses alles. „In dem Leibe seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und tadellos und unsträflich vor sich hinzustellen.“  Welch ein Wechsel!

Doch er fügt hinzu: „Wenn ihr anders in dem Glauben gegründet und fest bleibet“ (V. 23). Das dürfen wir nicht abschwächen. Hier steht nicht: „Wenn ihr ... bleibet.“ Die Heilige Schrift darf nicht gewaltsam behandelt werden zu unserem scheinbaren Trost. Außerdem ist es keinesfalls ein Zeichen eines starken Glaubens, sondern eines schwachen, wenn ein Mensch leichtfertig über die wahre Kraft einer Aussage der Schrift hinweggeht, um dort Trost zu entnehmen, wo Gott warnen will. Gott wird sicherlich kein Vertrauen entgegengebracht, wenn wir mit der bestimmten Absicht an sie herantreten, ein Wort derselben zu ändern oder auszuwechseln, um sie uns angenehmer zu machen – oder mit welchem anderen Vorwand auch immer. Und doch ist nichts üblicher. Genau so handeln heutzutage viele Menschen – und manchmal in nicht geringem Maß sogar Christen – und was haben sie davon?

Der Schlag eines Vaters, der den Irrenden züchtigt, ist eine Barmherzigkeit. Wenn wir einen treuen Schlag vonseiten unseres besten Freundes aus Gottes eigenem Wort empfangen, dann mag das nicht wie der unmittelbare Weg zum Trost aussehen. Aber der Trost, den wir am Ende von demjenigen erhalten, der auf diese Weise schlägt, ist sowohl wirksam als auch beständig und reich an Gewinn für die Seele. Der Apostel wollte diesen Erlösten aus Kolossä nicht so sehr Trost zukommen lassen, als vielmehr Warnung. Sie benötigten Tadel; und sie werden gewarnt, dass der Weg, den sie betreten hatten, schlüpfrig und gefährlich war. Ein Trachten nach der Tradition oder der Philosophie als Pfropfreis auf das Christentum führt stets etwas in letzteres ein, was die Quellen der Wahrheit vergiftet; und beide heben immer die Gnade auf. Daher war es angemessen, wenn Paulus sagt: „Wenn ihr ... bleibet.“

Alle Glückseligkeit, welche Christus bewirkt hat, ist für jene, die glauben. Das bedeutet natürlich, dass diese Ihn festhalten. Daher geht der Gedankengang weiter. „Wenn ihr anders in dem Glauben gegründet und fest bleibet und nicht abbewegt werdet von der Hoffnung des Evangeliums, welches ihr gehört habt, das gepredigt worden in der ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist.“ Die Ausdrucksweise enthält nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es für einen Gläubigen Anlass zur Ungewissheit gibt. Wir dürfen niemals zulassen, dass eine Wahrheit von einer anderen aufgehoben oder abgeschwächt wird. Aber dann müssen wir uns auch daran erinnern, dass es solche Menschen gibt und immer gegeben hat, die scheinbar gut begannen und doch als Feinde Christi und der Kirche endeten. Auch die Antichristen stammen ihrem Ursprung nach nicht von draußen. „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns“ (1. Joh 2,19). Keine Feinde sind so gefährlich wie jene, die so viel von der Wahrheit aufnehmen, dass sie das innere Gleichgewicht verlieren und diese zu ihrer eigenen Selbsterhöhung missbrauchen. Dann wenden sie sich zurück und möchten die Kirche (Versammlung) Gottes zerreißen – gerade jenen Ort, wo sie alles gelernt haben, was ihnen die Kraft gibt, besonders unheilvoll zu sein. Der Apostel  konnte nicht anders, als vor der abschüssigen Bahn zu warnen, auf der die Kolosser sich befanden, und das umso mehr, als sie selbst sich keineswegs fürchteten, sondern im Gegenteil sehr viel von dem hielten, was ihren Verstand anzog. Da eine Gefahr bestand, war es sicherlich Liebe, die sie ermahnte; und in diesem Geist schreibt Paulus folglich: „Wenn ihr anders in dem Glauben gegründet und fest bleibet.“

In Bezug auf sich selbst stellt der Apostel ihnen einen anderen Gesichtspunkt vor. Er war sowohl ein Diener des Evangeliums als auch, wie er ein wenig später schreibt, der Kirche (Versammlung) – zwei sehr verschiedene Bereiche, deren Dienst selten in einer einzigen Person vereinigt ist. Er war Diener beider, und zwar der letzteren, wie es scheint, in einem ganz besonderen und gewichtigen Sinn. Er diente nicht nur der Kirche, sondern war auch das Werkzeug, das Gott verwendet hatte, um uns ihr Wesen und ihre Berufung besser bekannt zu machen als irgendein anderer Schreiber. Tatsächlich dürfen wir sagen, dass Paulus das Evangelium als die Entfaltung der göttlichen Gerechtigkeit vorstellt, die alles übertrifft, indem ausschließlich er in seinen Briefen das Geheimnis „Christus und die Kirche“ ausführlich darlegt. Das mag wie eine starke Behauptung aussehen; und ich wundere mich nicht, dass manche darüber verwundert sind, bis sie diese in rechter Weise anhand der Heiligen Schrift geprüft haben. Denn selbstverständlich kann niemand einer Lehre glauben, es sei denn, er habe ihre Wahrheit geprüft.

Ich muss jedoch wiederholen, dass kein einziger Apostel so viel von der Rechtfertigung durch Glauben spricht wie der Apostel der Nichtjuden. Jakobus stellt gewöhnlich jene Wahrheit vor, die den meisten hart erscheint, obwohl sie nach meinem Urteil durchaus mit dem Erwähnten vereinbar, genauso von Gott inspiriert und für den Menschen sehr wichtig ist. Es handelt sich indessen nicht um dieselbe Wahrheit; und sie soll auch nicht dasselbe bewirken. Es mag auf den ersten Blick etwas erstaunlich sein, wenn wir uns diese Tatsache vergegenwärtigen. Doch wenn es eine Tatsache ist, wie ich uneingeschränkt versichere – ist es dann nicht von großer Bedeutung, sie zu verstehen? Weder Jakobus und Petrus noch Johannes und Judas befassen sich mit der Rechtfertigung vor Gott durch den Glauben an Jesus. Wer tut es? Einzig und allein Paulus! Ich bin weit davon entfernt, versteckt andeuten zu wollen, dass Petrus, Jakobus, Johannes, Judas und alle übrigen keine Rechtfertigung durch den Glauben predigten. Aber es war Paulus und ausschließlich Paulus gegeben, diese große Wahrheit in Briefen mitzuteilen; und nur er gebraucht diesen wohlbekannten Ausdruck. Niemand anderes hat diese Wahrheit erwähnt – kein einziger. Sie haben zweifellos Lehren verkündigt, die mit derselben übereinstimmen und sie voraussetzen. Sie haben den Nachdruck auf andere Wahrheiten gelegt, die indessen mit nichts außer der Rechtfertigung aus Glauben vereinbar sind. Das verkündigt Paulus uns häufig und offen.

So herrscht also vollkommenste Harmonie zwischen allen Aposteln. Dennoch war Paulus ausdrücklich der Diener des Evangeliums und der Kirche (Versammlung). Nicht nur, dass er das Evangelium predigte und über die Versammlung lehrte (was die anderen Apostel zweifellos ebenso taten), sondern er hat auch das Evangelium wie niemand sonst in inspirierten Schriften übermittelt. Dazu hat allein er die Lehre über die Kirche in ausführlichster Weise bekannt gemacht. Er durfte daher wohl sagen (und was für eine ernste Angelegenheit für die Kolosser, dass er als eine Ermahnung darauf hinweisen musste!), dass er ein Diener beider geworden war. Trotzdem mangelte es damals nicht an Menschen, die leugneten, dass er ein Apostel war. Die geehrtesten Knechte Gottes rufen unveränderlich den kühnsten Widerspruch seitens des Menschen hervor. Aber „wehe“ solchen frevelhaften und undankbaren Widersachern! Sie sind umso schlimmer, weil sie den Namen des Herrn nennen. Einige von ihnen in alter Zeit waren weder Juden noch Heiden, sondern getaufte Männer und Frauen. Sie waren es, welche sich solchen feindlichen Gefühlen hingaben. Sie mochten Paulus' persönlichen Qualitäten wenig oder gar nicht zu schaden suchen. Es mochte ihnen sogar gefallen, sich ihm freundlich zuzuwenden und ihn zu unterstützen. Doch das Ziel ihres Widerstands war gerade dasjenige, für welches sie vor allem hätten anerkennen sollen, wie viel sie ihm vor Gott schuldeten. Satan wusste sehr gut, was er wollte, als er viele Christen diesem gesegneten Mann Gottes entfremdete und seinen Dienst und das Zeugnis, das er zu bringen hatte, kritisieren ließ.

Der Apostel spricht in Bezug auf seinen Dienst von diesen beiden Themen: Von dem Evangelium, das in seiner Reichweite allumfassend für jedes Geschöpf unter dem Himmel ist, und von der Kirche, welche einen besonderen und auserwählten Leib bildet. Hinsichtlich des Evangeliums geht es nicht darum, ob jedes Geschöpf es hört, sondern um seine Reichweite; und zweifellos wäre der Apostel glücklich gewesen, wenn er es jeder einzelnen Person in der Welt hätte predigen können. Das war jedenfalls seine Mission. Keine Menschengruppe war ausgeschlossen; die Strahlen dieses himmlischen Lichts waren für alle da. Wie die natürlichen Lichtstrahlen vom Himmel, die Sonne, ihrem eigenen Wesen nach nicht nur für einen bestimmten Teil der Welt, sondern für alle Weltgegenden leuchtet, so gilt auch das Wort Gottes in Hinsicht auf die Kirche allumfassend. So sagt Paulus unmittelbar danach: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und ergänze in meinem Fleische, was noch rückständig ist von den Drangsalen des Christus für seinen Leib, das ist die Versammlung, deren Diener ich geworden bin nach der Verwaltung Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden.“

Raum dafür war vorhanden. Eine Offenbarung darüber fehlte noch. Gott hatte das Gesetz gegeben. Er hatte seine vergangenen Wege in der inspirierten Geschichte seines Volkes verkörpert. Er hatte Propheten gesandt, um Zukünftiges zu verkündigen. Dennoch blieb eine Lücke, von der wir nach ihrer Auffüllung mehr oder weniger Vorbilder entdecken können. Diese Lücke gehört nicht zur Geschichte und erfüllt keine Weissagungen. Wie konnte sie aufgefüllt werden? Unser Herr selbst kennzeichnete jene Unterbrechung beim Lesen des Jesaja-Buches in der Synagoge von Nazareth. Beachte dieselbe auch in den berühmten siebzig Wochen Daniels! Auf diese Zwischenzeit stößt man von Zeit zu Zeit beim Lesen der Propheten. Paulus war es, den Gott erweckte, um die Lücke aufzufüllen. Das heißt nicht, dass nicht andere das eine oder andere beigetragen hätten. Wie wir wissen, ist die Kirche nicht auf der Grundlage eines Paulus, sondern auf Gottes heilige Apostel und Propheten aufgebaut. Obwohl Markus und Lukas keine Apostel waren, waren sie sicherlich Propheten. Die „Grundlage der Apostel und Propheten“ umfasst allgemein gesehen alle Schreiber des Neuen Testaments. Der Apostel Paulus trug seinen eigenen, besonderen Teil dazu bei. Das war kein Evangelium, noch eine erhabene Serie prophetischer Visionen. Seine Aufgabe bestand darin, das Wort Gottes zu vollenden, nämlich „das Geheimnis, welches von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden ist, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses sei unter den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.“

Daraus lernen wir – es ist wohl angemessen, darauf hinzuweisen –, dass die Gestalt, welche dem Geheimnis hier gegeben wird, nicht von Christus erhöht im Himmel spricht. Wir sehen auch nicht die Kirche, wie sie durch den herniedergesandten Heiligen Geist mit Ihm als dem Haupt droben verbunden ist. Das ist die Lehre des Epheserbriefes. Jetzt erfahren wir die andere Seite: Christus in oder unter euch Nichtjuden – „die Hoffnung der Herrlichkeit.“  Im Kolosserbrief ist die Herrlichkeit immer jene, auf die wir noch warten. Wir finden hier kein Sitzen in den himmlischen Örtern. Es ist eine himmlische Herrlichkeit, die wir erwarten, aber nur in Hoffnung. Christus war jetzt in diesen Nichtjuden, welche an die Hoffnung einer himmlischen Herrlichkeit glaubten, die ihnen in Aussicht stand. Das ist ein anderer Gesichtspunkt des Geheimnisses. Er ist jedoch an seinem Platz genauso wahr wie der, den wir im Epheserbrief finden. Er ist nicht so erhaben, aber doch in sich selbst kostbar; und er unterscheidet sich keinesfalls weniger von den Erwartungen, die das Alte Testament erweckte. Dort lesen wir, dass Christus nach seinem Kommen sein Königreich aufrichten wird, in welchem die Juden nach der ihnen gegebenen Verheißung die besonders bevorzugten Untertanen sein sollten. Sie werden nicht wirklich mit Ihm herrschen. Kein Mensch hatte ihnen dieses zu irgendeiner Zeit zugesagt. Aber sie sollten das Volk sein, in dessen Mitte die Herrlichkeit Jahwes ihren Wohnsitz nehmen wird. Hier spricht der Apostel von einem ganz anderen System. Christus kam, ohne dass die Herrlichkeit erschien – sie kommt erst noch. Inzwischen erfreuen sich die Juden keineswegs der Herrlichkeit mit Christus in ihrer Mitte. Da Er von den Juden verworfen ist, wohnt Er in den Nichtjuden; und jene, die seinen Namen angenommen haben, warten auf die himmlische Herrlichkeit mit Ihm. Das ist ein völlig anderer Zustand als derjenige, welchen wir dem Alten Testament entnehmen können. Kein Prophet, nicht einmal der kleinste Zipfel irgendeiner Prophetie offenbart eine solche Wahrheit. Sie ist absolut neu und steht im Gegensatz zu der alten und zum Tausendjährigen Reich gehörenden Ordnung. Aber sie unterscheidet sich auch von derjenigen im Epheserbrief. Trotzdem bilden beide Wahrheiten wesentliche Teile des Geheimnisses.

So umschließt also das Geheimnis zuerst Christus als das Haupt im Himmel; und wir sind, obwohl noch auf der Erde, durch den Heiligen Geist mit Ihm, dem Verherrlichten, verbunden. Als Zweites ist Christus gleichzeitig in oder unter uns, den Nichtjuden, hienieden. Wäre Er unter den Juden, dann bedeutete dieses die Einführung der verheißenen irdischen Herrlichkeit. Aber es ist nicht so. Die Juden sind Feinde und ungläubig. Die besonderen Gegenstände der gegenwärtigen Wege Gottes sind die Nichtjuden. Indem sie Christus bei sich haben, ist die himmlische Herrlichkeit ihre Hoffnung, nämlich die Hoffnung, jene Herrlichkeit mit Ihm zu teilen. Diese Wahrheit offenbart also in einem gewissen Sinn Christus in den Nichtjuden auf der Erde, so wie im Epheserbrief Christus in der Höhe gesehen wird und wir in Ihm. Dort sind Juden und Nichtjuden völlig gleich; und jene, die dem Evangelium glauben, werden durch den Geist zu Ihm hin als seinem Leib vereinigt. Im Kolosserbrief besitzen die Erlösten insbesondere Christus als in sich wohnend. Das ist das Pfand davon, dass sie bald an seiner himmlischen Herrlichkeit teilnehmen werden. Das war eine so gesegnete und ungewohnte Wahrheit, dass der Apostel auf den Ernst dieser Wahrheit für ihn selbst nachdrücklich hinweist – „den wir verkündigen, indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen lehren in aller Weisheit, auf daß wir jeden Menschen vollkommen in Christo darstellen“ (V. 28).

Wir finden hier keine Nachlässigkeit. Es wird nicht sorglos vorausgesetzt, dass, da wir Glieder des Leibes Christi sind, alles andere gut ist und sich selbst überlassen bleiben kann; denn er, der am besten die treue Liebe Christi kannte, sprach nichtsdestoweniger drängend zu „jeden Menschen“  persönlich. Daher sein unermüdlicher Einsatz in seiner Arbeit. Daher auch das Verzehren seines Herzens in dem Gedanken, dass „jeder Mensch“ auf diese Weise auferbaut werde in der Wahrheit. Das galt besonders für die himmlische Wahrheit von Christus, welche Paulus' Verwaltung und Dienst anvertraut war, „indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen lehren in aller Weisheit, auf daß wir jeden Menschen vollkommen in Christo darstellen.“ Das ist die Bedeutung des Wortes „vollkommen“. Es bezieht sich nicht auf eine Frage des Bösen im Innern, sondern auf ein Erreichen der Reife in Christus, anstatt Säugling zu bleiben, der bei der Vergebung stehen bleibt und in ihr ruht. „Wozu ich mich auch bemühe, indem ich kämpfend ringe gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir wirkt in Kraft“ (V. 29). So bemühte der Apostel sich keineswegs ausschließlich auf den Wegen des Evangeliums. Sein Dienst enthielt viel mehr. Er beeinflusste ihn tief und ununterbrochen in all seinen Beängstigungen der Liebe.

Fußnoten

  • 1 Anm. d. Übs.: Möglicherweise bezieht sich auch Kol 2,5 auf den Heiligen Geist.
  • 2 Wir müssen daran denken, dass es sich bei dem Text um die Wiedergabe von öffentlichen Vorträgen handelt. (Übs.)
  • 3 Kelly meint hier wohl die Menschen als Klasse erschaffener Wesen im Unterschied zu z. B. den Dämonen. (Übs)
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