Einführender Vortrag zum Philipperbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Philipperbrief

Im Neuen Testament gibt es keinen Brief, der einer Entwicklung der christlichen Lehre so wenig Raum gibt wie der an die Philipper. Muss ich dazu sagen, dass er gerade aus diesem Grund nichtsdestoweniger seine besondere Aufgabe zu erfüllen hat? Und was ist diese anders als eine Entfaltung der Wahrheit in den Herzen und Wegen der Christen? Obwohl wir nur spärlich Lehre in diesem Brief finden, wird sie nicht vollkommen ausgeschlossen. Sie erscheint gelegentlich als Ergänzung zum allgemeinen Thema. Sie ist untermischt mit praktischen Aufforderungen; und tatsächlich bildet die Hauptentfaltung der Lehre (nämlich im zweiten Kapitel) eine Grundlage der Ermahnung.

Folglich werden wir schon zu Beginn auf eine besondere Note und einen speziellen Charakter eingestimmt. Der Apostel erwähnt in seiner Anrede an die Erlösten in Philippi nicht seine offizielle Stellung. Er verbindet Timotheus mit sich selbst, und zwar nicht wie anderswo – er, ein Apostel, Timotheus, in untergeordneter Beziehung. Sie schreiben gemeinschaftlich: „Paulus und Timotheus, Knechte Jesu Christi“ (V. 1). So nimmt er mit seinem geliebten Kind im Evangelium einen gemeinsamen Platz ein. Dieser Platz ist überall in diesem Brief ein solcher, der die Erfahrungen der Erlösten weiterführt, vergrößert, vertieft und reinigt in Hinsicht auf das, was das Herz des Apostels mit Freude im Herrn erfüllte. Die Bedeutung davon werden wir noch sehen. Das machte ihn fähig, wozu er auch die Heiligen, wie er sie nennt, auffordert, den anderen, wie er sagt, höher zu achten als sich selbst. Ginge es um seine apostolische Würde, hätte er nicht so schreiben können. Doch sogar ein Apostel konnte den Platz eines Gläubigen einnehmen, der anderen diente, welche er in ihrer unmittelbaren Beziehung zu Christus sah. Der Apostel verhielt sich so; und er liebte diese Handlungsweise. Ihnen gegenüber wollte er ausschließlich eine Stellung des Dienstes in Liebe einnehmen. So handelte auch Christus. Das war sein Wesen. Nichts ist so hoch wie unsere Stellung, zu der wir in unserem gesegneten Herrn gebracht worden sind.

So nimmt Paulus hier am Anfang einfach zusammen mit Timotheus den Platz eines Knechtes ein und anerkennt alle Heiligen mit ihren Aufsehern und Dienern an ihrem besonderen Platz. „Allen Heiligen in Christo Jesu, die in Philippi sind, mit den Aufsehern und Dienern.“ Letzteres ist nichts als eine Bestätigung derselben Wahrheit. Es ist keineswegs eine Frage einer kirchlichen Ordnung, in welcher die Führer eine bevorzugte Stellung einnehmen. Der Apostel will das fördern, was niemals vergehen wird, und beginnt folglich mit den „Heiligen in Christo Jesu“ als solchen. Diese Philipper werden im Himmel kaum weniger Heilige sein, wo es solche Ämter wie „Aufseher und Diener“ nicht mehr geben kann. Damit will ich nicht sagen, dass die Früchte eines liebevollen Dienstes irgendeines von ihnen dort vergessen sein werden oder dass die Herrlichkeit nicht einen Stempel dessen trägt, was wirklich durch den Heiligen Geist hienieden bewirkt worden ist. Nichtsdestoweniger handelt es sich um etwas, welches dem zeitlichen Zustand angehört. Dennoch gibt es Dinge, so wie hier, welche allen Wechsel überdauern. Der Apostel liebt es, alles von Gott aus zu sehen und zu werten; und hier geht es darum, Christus in die alltäglichen Umstände hineinzubringen. Er möchte die Herzen bilden mit den Gefühlen und Beurteilungen des Herrn. Der Christ soll durchtränkt werden mit dem, was ewiges Leben bedeutet. Aber dieses Leben, in dem er jetzt lebt, lebt er durch Glauben, „durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2, 20). Darum beginnt Paulus nach der Einleitung nicht sofort mit einer lehrmäßigen Vorbereitung. Stattdessen führt die Einleitung uns, wie üblich, zum allgemeinen Geist, wenn nicht sogar zum besonderen Thema des Briefes. „Ich danke meinem Gott bei aller meiner Erinnerung an euch“, sagt er nach seinem üblichen Gruß und dem Segenswunsch, „allezeit in jedem meiner Gebete, indem ich für euch alle das Gebet mit Freuden tue“ (V. 3–4).

Kein anderer Brief ist so reich an Freude. Das ist umso bemerkenswerter, weil er so ungemein praktisch ist. Wir alle können uns Freude im Genuss des Glaubens vorstellen. Wir empfinden durchaus, wie selbstverständlich Freude für einen Christen sein muss, der sich mit seinem ewigen Teil beschäftigt. Die Übung besteht darin, diese Freude ungetrübt inmitten der Schwierigkeiten und Sorgen, die jeder Tag uns bringt, zu bewahren. Dieser Brief behandelt die täglichen Sorgen und Schwierigkeiten, lässt sie jedoch offensichtlich von der Freude überströmen, welche alle Gefahren, Leiden und Versuchungen umso triumphierender und auffallender überwindet.

So stellt er noch einen anderen bemerkenswerten Wesenszug vor die Philipper: Ihre Gemeinschaft, und zwar ihre Gemeinschaft mit dem Evangelium. Ihre glückliche und strahlende Stellung in Christus verdunkelte nicht ihre Teilnahme an dem Evangelium. Was immer ihre eigene und ihnen angemessene Freude ausmachen mochte, was immer ihr Wohlgefallen an dem, was Gott in der Kirche (Versammlung) bewirkt hatte – sie besaßen dennoch eine völlige und einfältige Gemeinschaft mit der guten Botschaft Gottes. So war es immer bei ihnen gewesen, wie der Apostel uns wissen lässt. Es handelte sich nicht um einen plötzlichen Einfall, falls wir so sagen möchten, noch war es der Einfluss vorübergehender Umstände. Stattdessen handelte es sich um eine ruhige, feststehende und herzliche Gewohnheit ihrer Seelen, welche sie tatsächlich von Anfang an auszeichnete. Diese Aussage war eine der letzten Ausflüsse aus dem Herzen des Apostels, da er fast das Ende seiner aktiven Wirksamkeit erreicht hatte, wenn es nicht vielleicht tatsächlich schon das Ende war. Er befand sich im Gefängnis und war schon lange ausgeschlossen von dem, was seinen freudigen Dienst ausgemacht hatte, obwohl in beständiger jahrelanger Mühe und in Leiden. Aber sein Geist war so heiter wie immer, seine Freude vollkommen frisch, tief und überströmend. Jetzt wünschte er, dass sie auf Christus blickten, damit kein Schleier sich um ihre Herzen legte wegen irgendeiner Sache, die ihm widerfahren mochte. Nichts, was geschah, sei es ihnen selbst, sei es anderen Erlösten, sei es sogar dem Apostel, sollte für einen Augenblick ihr ungetrübtes und überströmendes Vertrauen auf den Herrn unterbrechen. So teilt er ihnen mit, daß er sich immer an sie erinnert „wegen eurer Teilnahme an dem Evangelium vom ersten Tage an bis jetzt, indem ich eben dessen in guter Zuversicht bin, daß der, welcher ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollführen wird bis auf den Tag Jesu Christi“ (V. 5–6).

Paulus zieht nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, dass die Philipper sich von jenem strahlenden Weg des Bewusstseins eines Heilandes, den sie kannten, und eines zunehmenden Genusses seiner Person abwenden könnten. Er vertrat nicht die Theorie, dass die erste Liebe notwendigerweise verblassen und abkühlen müsse – im Gegenteil! Da er selbst ein treffender Zeuge von diesem Gegenteil war, erwartete er auch nichts anderes in jenen Heiligen, die er so von Herzen liebte. In der Tat war ja gerade der praktische Beweis davon, dass die versuchungsreichen Umstände des Apostels insbesondere ihre Zuneigungen zu ihm hervorgerufen hatten, die Grundlage für diesen Brief. Er befand sich weit von ihnen entfernt; darum war ihr Gedenken an seine Worte und Handlungsweisen umso auffallender und legte einen zuchtvollen Ernst auf ihren Wunsch, dem Herrn zu gefallen. „Indem ich eben dessen in guter Zuversicht bin“, sagt er daher, „daß der, welcher ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollführen wird bis auf den Tag Jesu Christi; wie es für mich recht ist, daß ich dies in betreff euer aller denke“ (V. 6–7). Diese Zuversicht pflegte also keineswegs ein Vertrauen auf die Treue des Herrn im Gegensatz zum Augenschein. Auch letzteres Rechnen auf den Herrn kannte der Apostel in Bezug auf Gläubige, bei denen nicht alles in Ordnung war. So war es bei den Korinthern. Ja, es fehlte nicht einmal völlig in Hinsicht auf die Galater, obwohl sie zuließen, dass die Grundlagen der Gnade und des Glaubens in Gefahr gerieten. Die praktischen Wege der Philipper und ihre Gesinnung waren hingegen nicht allein der lebendige Beweis ihres geistlichen Lebens, sondern auch ihrer, sozusagen, kraftvollen Gesundheit in Christus. So war es folglich richtig von ihm, dass er weiterhin das Gute erwartete und nichts Böses; und es ist demnach auch nicht richtig, wenn die autorisierte englische Übersetzung 1 und manche andere 2 hier übersetzen: „Ich habe euch in meinem Herzen.“ Das wäre kein guter Boden für seine Sicherheit ihretwegen. Hingegen zeigen die Worte: „Weil ihr mich im Herzen habt“, dass ihre geistlichen Gefühle echt und gesund waren. Das ist meiner Ansicht nach die richtige Aussage.

Diese Wahrheit ist von größerer praktischer Bedeutung, als viele denken. Kein Kunstgriff Satans ist verbreiteter als jener Versuch, die Kraft des christlichen Zeugnisses durch die Zulassung böser Andeutungen gegen denjenigen, der es verkündigt, zu zerstören. Natürlich wollte der Feind vor allem und um jeden Preis einen solchen Mann wie den Apostel Paulus in der liebenden Wertschätzung der Heiligen Gottes herabsetzen, insbesondere wo sich alles in lieblicher und glücklicher Harmonie befand. Trotz allen Versuchen dieserart hatte die Gnade bisher die Oberhand behalten; und diese Erlösten in Philippi empfanden umso mehr mit dem Apostel, als er ein Gefangener war. Wenn Gott nicht dazwischentritt, neigen die Menschen leicht zu Überlegungen und Schlußfolgerungen. Nicht selten beginnen sie, sich zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, dass ein solcher Mann wirklich für die Kirche (Versammlung) Gottes von Wert sein kann. Würde Gott in einem solchen Fall tatsächlich zulassen, dass Sein Knecht so lange vom Evangelium oder der Kirche entfernt blieb? Sicherlich muss irgendetwas schwerwiegend Verkehrtes und Richtenswertes in ihm sein!

So fühlten indessen die getreuen Philipper nicht. Geistliches Empfinden ist viel mehr wert als alles Verstandesdenken. Ihre Gefühle waren richtig. Schlussfolgerungen in solchen Angelegenheiten sind im Allgemeinen traurig falsch. Ihre Zuneigungen, welche die Bedrängnisse des Apostels in seinem Werk in ihren Seelen hervorriefen, waren vom Heiligen Geist bewirkt. Auf jeden Fall waren sie ein Trieb jenes Lebens, das Christus entstammte und Ihm entsprechend urteilte und nicht nach dem Augenschein. Sie hatten den Apostel in ihren Herzen, wie er sagt, indem „sowohl in meinen Banden, als auch in der Verantwortung und Bestätigung des Evangeliums, ihr alle meine Mitteilnehmer der Gnade [oder „meiner Gnade“, Fußn.] seid“ (V. 7). „Denn Gott ist mein Zeuge, wie ich mich nach euch allen sehne mit dem Herzen Christi Jesu“ (V. 8). Er besaß ein Herz, das Liebe tief empfand. Folglich war er nicht ein Mann, der entweder die Erlösten von sich abhängig zu machen suchte oder, noch weniger, von den Erlösten in irgendeiner Weise abhängig war in Hinsicht auf die Frucht der Gnade in ihnen. Er wünschte nichts für sich selbst, sondern nur das, was überströmend sein würde für ihre Rechnung auf den Tag Jesu Christi. (Phil 4,17). Falls er ihnen etwas Gutes wünschen wollte, konnte es nur dieses sein. Demnach betete er für sie als solche, die jene wahre und ungeschmälerte Liebe ihm gegenüber als Christi Knecht erwiesen hatten, dass ihre „Liebe noch mehr und mehr überströme“ und zwar in „Erkenntnis und aller Einsicht“ (V. 9).

Darin besteht der große Wert christlicher Erfahrung. Die Liebe wird nicht geringer, sondern sie wächst sogar, und zwar bis zu einem Überströmen in Erkenntnis und Einsicht, die wir in Erlösten, die gerade ihren Lauf beginnen, noch nicht erwarten dürfen. Es besteht keine Notwendigkeit – und wo gibt es einen Brief, der jeden Gedanken an eine Notwendigkeit in dieser Hinsicht völliger widerlegt? –, dass ein Erlöster Rückschritte machen muss. Ein Überströmen in Liebe ist weit von einem Rückschritt entfernt. In Liebe noch „mehr und mehr“ überströmen, indem die Liebe durch von Gott gegebene Weisheit und gottgemäß ausgeübter Einsicht veredelt wird, ist genau das Gegenteil von einem Rückschritt. Vor der Seele des Apostels stand im Gebet für sie stets ihr wahrer und beständiger Fortschritt. Er überließ keineswegs kühl die Erlösten sich selbst, als müsste die neue Natur Tag für Tag schwächer werden – als müssten die Dinge der Welt den Glauben überwinden und die sichtbaren Dinge die unsichtbaren und ewigen überwachsen. Ist das dein Maß der Liebe Christi? Ist Er wirklich so weit von einem jeden entfernt, der Ihn anruft?

So betet Paulus also für die Philipper, und zwar nicht mit dem Ziel, dass sie einfach mehr Erkenntnis bekämen oder dass sie mehr über göttliche Dinge reden konnten; obwohl ich nicht bezweifle, dass es auch in dieser Hinsicht Wachstum geben wird. Stattdessen ist hier alles bemerkenswert praktisch: „Damit ihr prüfen möget, was das Vorzüglichere sei, auf daß ihr lauter und unanstößig seid auf den Tag Christi“ (V. 10). Ein derartiger Gedanke stand vor der Seele des Apostels, wenn er daran dachte, was sich für einen Christen geziemt. Er wünschte sich denselben als einen Menschen, der mit Christus beginnt, mit Christus voranschreitet, dem nichts als Christus vor Augen steht und der seinen Weg ohne Anstoßen bis zum Tag Christi geht. Schon im Denken daran ist es ein gesegnetes und erfrischendes Bild. Oh, dass der Herr es in den Seinen verwirklichen möchte! Gewiss ist es das, was der Apostel hier vor diese Erlösten stellt. „Erfüllt mit der Frucht“, schreibt er, „der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum ist“ (V. 11). Frucht wird vorausgesetzt, nicht vereinzelte Früchte hier oder dort – eine einzige, ganze Frucht, welche die Kraft ihres Wesens in hohem Grad verstärkt. Es muss die „Frucht der Gerechtigkeit“ sein,  „die durch Jesum Christum ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes.“

Darauf wendet er sich nach diesem Anfang nicht der Lehre zu, sondern den Umständen – den Umständen, jedoch erhellt durch Christus. Die allgemeinsten Einzelheiten aus ihnen in ihrer Geringfügigkeit (obwohl in Wahrheit nur ein kleiner Geist diese „geringfügig“ nennt) werden einfach und unverfälscht offengelegt in einer Weise, dass Christus in sie hineingebracht wird. Oh, es ist gesegnet, dass inmitten der Leiden dieser Welt der Heilige Geist auf eine solche Weise den Namen Christi als den lieblichsten Balsam mit dem Leid, wie bitter es auch immer ist, zu vermischen weiß! So wird sogar die Erinnerung an den Kummer erfreuend um Christi willen, der sich herablässt, in alle Umstände mit dem Gläubigen einzutreten. Das war es, was des Apostels Herz in seiner häufigen Einsamkeit und seiner gelegentlichen Verlassenheit so ermunterte, wenn der Anblick eines Bruders ihm neuen Mut ins Herz senkte. Der Blick auf den Herrn ist der Lebensatem der Liebe, aber auch der entscheidende Anteil bei der Wertschätzung brüderlicher Freundlichkeit zu ihrer Zeit. So wissen wir, wie Paulus, als er sich Rom näherte, Mut und Trost fasste, als er jene Brüder sah, die gekommen waren, ihn zu begrüßen (Ap. 28). Doch dort erfuhr er auch bald die Wankelmütigkeit der Brüder; denn in der Stunde seiner Schande und seiner Not fand er niemand, der ihm beistand (2. Tim 4,16). Er musste in allem seinem Meister gleich werden, auch in dieser Hinsicht. Inmitten bitterer Erfahrungen lernte er Christus kennen, wie sogar er Ihn niemals vorher gekannt hatte. Dabei hatte er schon lange die Kraft und Freude Christi für jeden Tag und für alle Umstände desselben erfahren dürfen.

Ein solcher Mann – ein wahrer Knecht Jesu Christi und auch ihr Knecht, weil er sein Knecht war, nämlich ihr Knecht um Jesu willen – schrieb von Rom aus an die geprüften Heiligen in Philippi. Keineswegs befand er sich ohne tiefe Empfindungen in den Umständen, von denen er schrieb. Aber er hatte Christus für alles kennengelernt; und das ist der Grundton des Briefes vom Anfang bis zum Ende, obwohl er erst am Ende ausdrücklich ausgesprochen wird. Er hatte praktisch erfahren, was Christus ist und was Er tut und wozu Er den Geringsten befähigen kann; denn Paulus bezeichnet sich selbst als den „Allergeringsten von allen Heiligen“ (Eph 3,8). Das galt umso mehr, weil Paulus in seinen Augen wirklich der Geringste war.

So schrieb er also, indem er ihnen mitteilt: „Ich will aber, daß ihr wisset, Brüder, daß meine Umstände mehr zur Förderung des Evangeliums geraten sind“ (V. 12). Er wusste sehr gut, welch eine Prüfung der Bericht von seiner Gefangenschaft für sie war – und auch, dass er bisher nicht befreit worden war. Doch er selbst hatte die Prüfung überwunden. Er hatte alles erwogen; er hatte es in die Gegenwart Gottes gebracht. Darum hatte er alles sozusagen in die Hand Christi gelegt, der ihm seinen Trost gab. „Ich will aber, daß ihr wisset, Brüder, daß meine Umstände mehr zur Förderung des Evangeliums geraten sind.“ Sobald wir richtig von Christus denken, finden wir auch das rechte Verhältnis zu allem anderen – jedenfalls solange Er vor unseren Blicken steht. Andererseits ist nichts wirklich in Ordnung, wenn Christus nicht der Gegenstand unserer Seelen ist. In Gemeinschaft mit Ihm denken wir richtig über das Evangelium, über die Kirche (Versammlung), über die Lehre, den Wandel und den Dienst. Keines von diesen Dingen vermöchte nicht in sich selbst ein echter Fallstrick für uns zu werden; und das ist umso gefährlicher, weil sie so vorzüglich erscheinen. Was sieht besser aus als die Heiligen Gottes? Als der Dienst Christi? Als das Zeugnis für Gott? Welche Themen wären hörenswerter? Doch keines von diesen ist nicht trotzdem zum Verderben von Seelen geworden; und niemand sollte das besser wissen als jene, zu denen ich heute abend rede 3. Wer besäße traurigere Beweise von der Gefahr, Erlöste praktisch an die Stelle Christi zu setzen? Wo gäbe es ein fühlbareres Zeugnis davon, dass anstelle Christi der Dienst zum Herzensgegenstand werden kann? Ist das nicht der Felsen, an dem so manche prachtvolle Barke Schiffbruch erlitten hat?

Aber jetzt war der Apostel offensichtlich von jeder Arbeit ausgeschlossen. Sicherlich musste vor allem er den Wechsel empfinden – jener Mann, der die Nichtjuden in sein Herz aufgenommen und der jenen ganzen Länderkreis von Jerusalem bis Illyrikum 4 durchzogen hatte (Röm 15,19), der sich nach Spanien sehnte und weiter und weiter reisen wollte in seinem grenzenlosen Verlangen nach Errettung von Seelen. Er war schon eine beträchtliche Zeit lang ein Gefangener. Er befand sich in Rom, das ohne Zweifel ein Ziel seiner Sehnsucht war. Er hatte indessen keinesfalls erwartet, es in Fesseln zu besuchen; und ob er jemals dort etwas anderes als ein Gefangener war, kann kein Mensch sagen. Er war ein Gefangener; und mehr sagt die Heilige Schrift nicht von ihm in jener Stadt. Wir können die sittliche Übereinstimmung dieses Loses mit Paulus' Zeugnis erkennen und wie passend es war, dass er, der vor allen anderen Menschen mit dem Evangelium der Herrlichkeit Christi identifiziert wurde, gerade in Rom ein Gefangener und nichts als ein Gefangener war. Jedenfalls ist dieses das Bild, welches der Heilige Geist hier von ihm gibt. Und nun, da er Christus vor seiner Seele stehen hatte, empfand er, dass durch diese Umstände das Evangelium nur umso mehr verbreitet wurde. Jene Eitelkeit, die Wert darauf legte, in dieser Weltstadt als Allererster das Evangelium zu predigen, lag dem Apostel fern. Über dem Evangelium vergaß er sich selbst. Sein höchster Wunsch ging dahin, dass der Name Christi ausgebreitet wurde. Allein dieses war ihm wichtig – mochte Gott benutzen, wen Er wollte. Das, was ihn selbst betraf, konnte er folglich in Ruhe und Klarheit beurteilen. Was einigen wie ein Todesstoß für das Evangelium erschien, geriet in Wirklichkeit zu einer besonderen Förderung desselben.

Auch die Art und Weise, wie alles geschah, schien weit davon entfernt, das Evangelium zu fördern. Doch hier führt Paulus wieder Christus ein. Das vertreibt alle Wolken von der Seele. Es erfüllte ihn mit Sonnenschein. Darum wollte er, dass auch andere Gläubige sich desselben strahlenden Lichtes erfreuten, welches der Name Christi auf jeden Gegenstand wirft. Und beachten wir: Es ist nicht der Genuss des Lichtes mit Christus im Himmel, sondern sein Licht jetzt schon, während Er vom Himmel aus in das Herz und auf die Umstände unseres Weges hienieden scheint. Er sagt, dass seine Umstände viel mehr zur Förderung des Evangeliums ausgeschlagen seien, „sodaß meine Bande in Christo offenbar geworden sind“ (V. 13). In dieser Weise blickt er auf sie: Es sind „meine Bande in Christo.“ O, wie ehrenwert, wie lieblich und kostbar ist es, Bande in Christus zu haben! Andere Menschen hätten einfach an Bande unter dem römischen Kaiser gedacht und Bande jener großen Stadt in ihnen gesehen, welche über die Könige der Erde herrschte. Nicht so Paulus! Sie waren Bande in Christus; wie konnte er also in ihnen ungeduldig werden? Wie konnte jemand murren, der glaubte, dass es wirklich Bande in Christus waren? „Meine Bande in Christo (sind) offenbar geworden in dem ganzen Prätorium.“ Seltsame Wege Gottes! Aber auf diese Weise geschah es, dass das Evangelium, die gute Botschaft seiner Gnade, auch die höchsten Kreise erreichte. Seine Bande waren „offenbar geworden in dem ganzen Prätorium und allen anderen“; und die Folge war, „daß die meisten der Brüder, indem sie im Herrn Vertrauen gewonnen haben durch meine Bande, viel mehr sich erkühnen, das Wort Gottes zu reden ohne Furcht“ (V. 14).

Glückselig ist dieses Vertrauen auf Christus; und wunderbar sind seine Wege! Wer hätte erwartet, dass der ängstliche Mann Nikodemus und der ehrenwerte Ratsherr Joseph von Arimathia gerade zu jener Zeit hervortreten würden, als selbst die Apostel, zitternd vor Furcht, geflohen waren? Doch sie waren die Zeugen von Christus, die Gott am Ende auftreten lässt; denn dieses Zeugnis kam offensichtlich von Ihm. Gott versagt niemals; und gerade die Schwierigkeiten, welche anscheinend alle Hoffnung für die Herrlichkeit Christi auf der Erde zerstören, sind genau die Gelegenheiten, in welchen Gott beweist, dass es letztendlich ausschließlich Er ist, der triumphiert. Die Menschen hingegen versagen immer, selbst wenn es sich um Apostel handelt. Der Schwächste der Erlösten jedoch (wieviel mehr der Größte der Apostel!) kann nicht anders als ein Überwinder sein – ja, mehr als ein Überwinder –, wenn das Herz von Christus erfüllt ist. Paulus' Glaube erhielt den Sieg durch die Gnade Gottes; und so konnte er auch alles um sich her in jenem strahlenden Licht betrachten und deuten. Hätte er sich mit den Personen beschäftigt, welche in solchen Umständen das Evangelium verkündigten – wie mutlos hätte er sein müssen! Wie hätten du und ich darüber gedacht? Wäre es zu viel gesagt, wenn ich annehme, dass mehr als ein Seufzer von einem jeden von uns, die hier versammelt sind, aufgestiegen wäre? Stattdessen kam von diesem gesegneten Mann Gottes in Rom ein Lied der Freude und der Danksagung; denn er sagt weiter: „Etliche zwar predigen Christum auch aus Neid und Streit, etliche aber auch aus gutem Willen. Diese aus Liebe, indem sie wissen, daß ich zur Verantwortung des Evangeliums gesetzt bin; jene aus Streitsucht verkündigen Christum nicht lauter,“ – und nicht nur das, sondern auch – „indem sie meinen Banden Trübsal zu erwecken gedenken“ (V. 15–17).

Es war nicht nur ein völlig falscher Geist in das Werk eingedrungen, welcher sich gegen solche richtete, die wirklich zu dieser Arbeit beauftragt waren, sondern es fehlte auch nicht an der Absicht, dem Apostel, der von einem solchen Dienst ausgeschlossen war, persönlich Leid und Schmerz zuzufügen. „Jene aus Streitsucht verkündigen Christum nicht lauter, indem sie meinen Banden Trübsal zu erwecken gedenken. Was denn? Wird doch auf alle Weise, sei es aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt.“ Christus ist der für jede Wunde hinreichende Balsam; und es war die Freude des Apostels – egal, was in den Herzen der Menschen vorging –, sich nicht nur an Christus zu erfreuen, sondern auch daran, dass sein Name fern und nah von vielen Lippen verkündigt wurde, damit Seelen hören und leben möchten. Welche Beweggründe auch immer vorlagen, welche Handlungsweise – der Herr wird sich gewiss an seinem Tag damit beschäftigen. Aber auf jeden Fall wurde jetzt Christus gepredigt; und Gott würde es sowohl zu seiner Herrlichkeit als auch zur Errettung von Seelen benutzen.

Folglich sagt Paulus: „Darüber freue ich mich, ja, ich werde mich auch freuen; denn ich weiß, daß dies mir zur Seligkeit ausschlagen wird durch euer Gebet und durch Darreichung des Geistes Jesu Christi“ (V. 18–19). Wir müssen sorgfältig bei der Beschäftigung mit diesem Brief daran denken, dass hier „Seligkeit“ an keiner Stelle „Annahme“ bedeutet. Wenn dieses im Gedächtnis behalten wird, verschwindet ein großer Teil der Schwierigkeiten, die manche Leser gefunden haben, vollständig. Es ist unmöglich, dass irgendetwas, das andere Erlöste getan haben, mehr zur persönlichen Annahme bei Gott führen könnte als das eigene Tun. Der Apostel verwendet das Wort „Seligkeit“ im Brief an die Philipper (ohne sich auf diesen Bibelteil zu beschränken) im Sinn eines vollständigen und abschließenden Triumphs über die ganze Macht Satans. So können wir auch feststellen, dass es im Philipperbrief nicht um die Lüste oder das Fleisch geht. Das Fleisch wird nicht erwähnt außer in religiöser Hinsicht – nicht im Zusammenhang mit anstößigen Sünden, welche auch die Welt verurteilt, sondern in seiner religiösen Anmaßung. Siehe zum Beispiel Kapitel 3! Daher lesen wir hier nichts vom Kampf mit dem innerlichen Bösen, sondern mit Satan. Für diesen Kampf benötigen wir die Macht des Herrn und die ganze Waffenrüstung Gottes. Aber diese Macht entfaltet sich nicht in unserer Kraft oder Weisheit sowie irgendwelchen verliehenen Hilfsquellen. Die „Darreichung des Geistes Jesu Christi“ zeigt sich in Abhängigkeit; und diese drückt sich daher im Gebet zu Gott aus. Beachten wir auch, dass der Apostel den Wert der Gebete anderer tief empfand! Sie trugen zu seinem Sieg über den Feind bei. Wie lieblich, dass sogar ein solcher Mann nicht nur von seinen eigenen Gebeten spricht, sondern auch von ihren, und alles unter einen solchen Gesichtspunkt stellt! „Dies (wird) mir zur Seligkeit ausschlagen durch euer Gebet und durch Darreichung des Geistes Jesu Christi.“ Nichts ist so ungekünstelt demütig wie wahrer Glaube und vor allem jene Art des Glaubens, welchem Christus genügt und der infolgedessen Christus auslebt. Das war der Glaube des Apostels. Für ihn war das Leben Christus.

„Nach meiner sehnlichen Erwartung und Hoffnung, daß ich in nichts werde zu Schanden werden“ (V. 20). Wenn er für die Philipper wünschte, dass sie ohne jegliches Straucheln bis zum Tag Christi leben möchten, so war dieses auch sein Wunsch für sich selbst, mit dem die Gnade „seine Lenden umgürtet“ hatte. Auf „daß ich in nichts werde zu Schanden werden.“ Was für ein Wort! Und wie ist es dazu angetan, uns zu beschämen! Das ist nicht die Annahme in Christus. Nein, es geht um die Praxis. Es geht um den täglichen Zustand und die tägliche Erfahrung des Apostels, auf die sich seine Hoffnung richtete, damit er in nichts zu Schanden würde; „sondern mit aller Freimütigkeit, wie allezeit, so auch jetzt Christus hoch erhoben werden wird an meinem Leibe, sei es durch Leben oder durch Tod.“

Was gab einem Menschen solch eine Hoffnung, der sich selbst als den Ersten der Sünder und weniger als den Geringsten von allen Heiligen anerkannte (1. Tim 1, 15; Eph 3, 8)? Es gibt nur eine Quelle der Kraft, nämlich Christus. Und, lasst mich anmerken, es geht nicht nur darum, dass Christus mein Leben ist. Wie lieblich und wunderbar, dass wir sagen dürfen: Christus ist unser Leben! Doch die eigentliche Frage besteht darin: Wie leben wir? Leben wir jenes Leben auch aus, das wir besitzen? Wird dieses Leben in unserer Praxis verwirklicht, oder finden sich bei uns gemischte Handlungsweisen und Beweggründe? Erkennen wir manchmal einen Kampf des alten Lebens mit den Kennzeichen eines neuen? Sind wir damit zufrieden? Oder offenbaren wir normalerweise Christus auf der Grundlage eines feststehenden Gerichts über das alte Leben als ganz und gar und ausschließlich aus dem Ich und der Sünde hervorkommend? Besitzen wir jene gesegnete Person als Hoffnung, Beweggrund, Anfang, Ende, Weg und Macht von allem, welche uns von Tag zu Tag ausfüllt? So war es jedenfalls bei dem Apostel. Möge es auch bei uns so sein! Möge jeder von uns aufrichtig sagen: „Das Leben ist für mich Christus“ (V. 21).

Überall in diesem Brief pflegt der Apostel in der ersten Person zu reden (d. i., „ich“, „mir“, „mein“, „mich“; Übs.), doch bedeutet dieses etwas ganz anderes als in Römer 7. Dort ging es um ein unglückliches Ich, obwohl es sich nicht um das Fleisch handelte. „Ich elender Mensch!“ Im Philipperbrief müsste es heißen: „Ich glücklicher Mensch!“ Paulus' Freude kommt einzig und allein von Christus und besteht in Ihm. Als er sie zum ersten Mal kostete, fand er diese so lieblich, dass er nichts anderes mehr wünschte. Es war die Kraft des Geistes Gottes, die ihn in allem, was er Tag für Tag zu durchleben hatte, darauf achten ließ, dass alles – was es auch sein mochte – für Christus getan wurde und somit auch alles durch Christus. Der Heilige Geist bewirkte es sozusagen in seiner Seele, damit er in Einfalt und Festigkeit in allem, was geschah, eine Gelegenheit erhielt, Christus als Gegenstand seines Lebens und Dienstes zu genießen. Dabei spielte es keine Rolle, was ihm im Lauf seiner Pflichterfüllung begegnen mochte. „Denn das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn.“ Auf jeden Fall ist das Sterben tatsächlich ein Gewinn für den Christen. Doch derjenige konnte davon am besten reden, der auch sagen konnte: „Das Leben ist für mich Christus“ – der so nicht nur aufgrund seines Glauben an Ihn sprechen konnte, sondern auch wegen seiner einfältigen, uneingeschränkten und unmittelbaren Freude an Christus auf seinen täglichen Wegen.

Jetzt geht Paulus weiter und gibt dafür eine Begründung. Er spricht von seiner persönlichen Erfahrung; und das ist der Grund, warum wir hier so oft von „ich“ lesen. Das ist keine gesetzliche Erfahrung. Für diese müssen wir uns zu dem erwähnten Kapitel, Römer 7, wenden – das einzige Kapitel im Neuen Testament, soweit ich weiß (jedenfalls in den Briefen), das uns ein wenig die Erfahrungen eines Erlösten unter dem Gesetz vorstellt. Im Philipperbrief geht es indessen um die angemessenen Erfahrungen eines Christen. Der Apostel berichtet uns, womit sein Herz beschäftigt war, als er nicht in tätigem Werk hinausgehen konnte und es so aussah, als hätte er nichts zu tun. Nun wissen wir, dass das Leben vergleichsweise leicht ist in Zeiten, wenn ein Mensch von der Spitze einer Welle getragen wird, wenn der Wind die Segel füllt und alles erfolgreich vorangeht, wenn das Herz in seinen Sorgen erfreut wird und man Tag für Tag die Freude einer neuen Befreiung aus Schwierigkeiten erlebt. Aber für einen Mann, der von einem solchen Werk abgeschnitten war, musste letzteres, wenigstens dem Anschein nach, eine schwere Bürde und eine außergewöhnliche Übung sein. Christus verändert indessen alles für uns. Sein Joch ist sanft und seine Last leicht. Es ist Christus und ausschließlich Christus der Kummer und Druck auf diese Weise wegnimmt; und folglich konnte sein Knecht sagen: „Wenn aber das Leben im Fleische mein Los ist, das ist für mich der Mühe wert“ (V. 22).

Es ist sinnlos, alle Kommentare zu diesen Worten im Einzelnen aufzuführen 5. Sie besagen in Wirklichkeit soviel wie: „der Mühe wert“. Das ist auch eine wohlbekannte lateinische Redewendung. Paulus überlässt die Beurteilung und Entscheidung einfach Christus. „Wenn aber das Leben im Fleische mein Los ist, das ist für mich der Mühe wert.“ Aber wenn nicht – was dann? Was soll's? Es war Gewinn. Soweit es ihn betraf, warum sollte er wählen? In einem gewissen Sinn konnte er nicht wählen und in einem anderen wollte er nicht. Christus stand so wirklich vor seinem Herzen, dass tatsächlich kein ungerichtetes Ich vorhanden war, um die Wahl zu verdrehen. Das führte ihn, wenn wir so sagen dürfen, in einen Zwiespalt der Liebe. Falls er diese Welt verließe, wäre er bei Christus; falls er noch länger in dieser Welt leben sollte, wäre Christus bei ihm. Kurz gesagt: Paulus lebte so sehr Christus aus, dass es nur noch um die Frage „Christus hier oder Christus dort?“, ging. Auf jeden Fall war es besser, Christus wählen zu lassen, als selbst zu wählen. Doch in dem Augenblick, in welchem er auf diese Weise Christus vor sich stellt, urteilt er nach den Zuneigungen Christi und sieht die Bedürfnisse der Erlösten hienieden vor sich.

Die Frage wird sofort zum Gegenstand des Glaubens erklärt. Obwohl Paulus gerade vorher nicht wusste, welche von den beiden Möglichkeiten er wählen sollte, sagte er, als sich die Bedürfnisse der Seelen vor ihm erhoben, dass er weiterleben und noch nicht in den Tod gehen würde. Durch den wunderbaren Blick auf die Liebe Christi wurden für seinen Glauben die Frage beantwortet und alle Umstände beiseitegesetzt. Augenschein, Verfolger, Richter, Kaiser, jedermann – alles wurde für ihn tatsächlich bedeutungslos. Anderswo sagt er: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4, 13). Auf diese Weise konnte er hinsichtlich Leben und Tod zur Ruhe kommen. „Ich werde aber“, sagt er, „von beidem bedrängt [wie er schon vorher dargelegt hat], indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser; das Bleiben im Fleische aber ist nötiger um euretwillen. Und in dieser Zuversicht weiß ich, daß ich bleiben und mit und bei euch allen bleiben werde zu eurer Förderung und Freude im Glauben, auf daß euer Rühmen in Christo Jesu meinethalben überströme durch meine Wiederkunft zu euch“ (V. 23–26).

Paulus wünschte allerdings, dass ihr Wandel so sei, wie er dem Evangelium Christi entsprach. Vor ihm stand nicht nur die Tatsache ihrer Berufung in Christus, ihr Christsein, sondern auch ein Wandel, der zum Evangelium passte. Es ging nicht allein darum, dass sie die Gegenstände des Evangeliums waren. Sie sollten Gemeinschaft damit haben. Ihre Herzen sollten damit beschäftigt sein und sich mit allen Prüfungen und Schwierigkeiten eins machen, die dasselbe in seinem Lauf durch diese Welt zu ertragen hatte. „Wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus!“ (V. 27). So ist ein glühendes Verlangen in Bezug auf andere das glückselige Kennzeichen einer jeden Seele, wenn dieser Wunsch mit einer angemessenen Kenntnis ihrer selbst verbunden ist. Doch wie kann dieses sein, solange das Herz nicht in Hinsicht auf sich selbst völlig zur Ruhe gekommen ist? „Wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus!“ Lasst mich diese Wahrheit ernstlich auf eure Herzen legen, denn, ach!, es besteht keine geringe Neigung dazu, wo Menschen das Evangelium gut kennen, sich niederzusetzen, als sei dieses alles, was sie mit dieser Angelegenheit zu tun haben. Die Philipper handelten anders. Sie wollten umso mehr tun, weil Christus alles für ihre Seelen getan hatte. Sie standen mit dem Evangelium in all seinen Kämpfen und Fortschritten in Verbindung. Das geschah nicht wegen ihres eigenen persönlichen Interesses in dieser Sache, obwohl es groß und lebendig war; sie verlangten zudem, dass das Evangelium voranschreite. Darum machten sie sich auch mit allen jenen eins, die es überall in der Welt verkündeten. Folglich wünschte der Apostel, dass ihr Wandel einem solchen Eifer entsprach. „Auf daß, sei es daß ich komme und euch sehe, oder abwesend bin, ich von euch höre, daß ihr feststehet in einem Geiste, indem ihr mit einer Seele mitkämpfet mit dem Glauben des Evangeliums, und in nichts euch erschrecken lasset von den Widersachern; was für sie ein Beweis des Verderbens ist, aber eures Heils, und das von Gott.“

Das ist umso wichtiger, weil eine solche Furcht die Hauptwaffe Satans ist. Es ist stets die Macht Satans, die hier vor den Blicken steht. Er wird als der wahre Widersacher gesehen, der natürlich durch menschliche Mittelspersonen wirkt. Doch nichtsdestoweniger ist es seine Macht. An dieser Stelle sei angemerkt, dass aufgrund einer häufig missverstandenen Stelle im 2. Kapitel es so scheinen mag, als wünschte der Apostel das Vertrauen der Philipper irgendwie zu schwächen. Der Unglaube legt so aus, aber er ist mit Sicherheit im Irrtum. Der Apostel fordert in jenem Kapitel „Furcht und Zittern“ seitens der Erlösten (Phil 2,12). Darin liegt indessen kein Atom einer grauenvollen Angst oder eines Zweifels. Er wollte nur, dass sie sich den Ernst des ablaufenden Kampfes richtig vorstellten. Er verlangte nicht Furcht aufgrund dessen, dass dieser abläuft, sondern echte Tiefe des Geistes, indem die Philipper empfanden, dass es sich hier um eine Frage zwischen Gott und dem Teufel handelt. Wir haben nämlich mit diesem Kampf in unmittelbarster Weise zu tun. Wir müssen uns auf Gott stützen, die Quelle und den einzigen Geber der Kraft, welche dem Teufel widerstehen kann. Zur gleichen Zeit erfordert die Überzeugung, dass wir dem Teufel in Gottes Kraft entgegentreten müssen, durchaus „Furcht und Zittern.“ Das muss so sein, damit wir in einer solchen Auseinandersetzung nicht irgendetwas aus uns selbst zulassen, was sofort dem Teufel eine Handhabe gegen uns gibt. Zu Ihm, der das vollkommene Muster in demselben Kampf darstellt, den Er völlig allein ausfocht und in dem Er für die Herrlichkeit Gottes und uns den Sieg errang, kam, wie wir wissen, der Fürst dieser Welt und fand nichts – absolut nichts – in Ihm. Bei uns ist das ganz anders; und einzig und allein insoweit wir in Gemeinschaft mit Christus leben, vermögen wir sozusagen der Hand des Feindes das zu versagen, was ihm sonst ausreichend Gelegenheit über uns gibt.

Der Apostel lebte selbst weitgehend nach diesem Maßstab. Es war das eine, das er tat (Phil 3, 14); und er möchte auch, dass die Erlösten so leben. „In nichts“, sagt er, „euch erschrecken lasset von den Widersachern [das ist die andere Seite]; was für sie ein Beweis des Verderbens ist, aber eures Heils, und das von Gott. Denn euch ist es in Bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden“ (V. 28–29). So ist gerade das Leiden, welches der Unglaube so leicht missdeutet und als ernste Züchtigung betrachtet und das Herz niederbeugt, anstatt vor Gott Trost zu fassen – gerade das Leiden um Christi willen ist ein Geschenk seiner Liebe. Es ist genauso ein Geschenk wie der Glaube an Christus zur Errettung der Seele; denn tatsächlich wird den ganzen Brief hindurch die Errettung als ein Vorgang betrachtet, der vom Anfang bis zum Ende unseres Weges abläuft und noch nicht vollendet ist. Als vollkommen wird sie erst gesehen, wenn der Kampf mit Satan völlig zu einem Ende gelangt. Darum geht es hier. Deshalb spricht Paulus von dem Kampf, welchen sie einst an ihm gesehen hatten und von dem sie jetzt in Bezug auf ihn hörten.

Fußnoten

  • 1 „King-James-Bible“ („Authorized Version“) und Fußnote in der „Elberfelder Übersetzung“. (Übs.)
  • 2 vgl. „Luther-Bibel“ (Übs.)
  • 3 Der Anlass zu dieser Äußerung an die Hörer des Vortrags ist dem Übersetzer unbekannt.
  • 4 nordwestlicher Teil der Balkanhalbinsel einschließlich der Adriaküste. (Übs)
  • 5 Der griechische Ausdruck lautet in deutscher Übersetzung: „Frucht meiner Arbeit“. So wird er auch in vielen Bibelübersetzungen sinngemäß wiedergegeben. Kelly und die Übersetzer der alten „Elberfelder Bibel“ bevorzugten stattdessen die Redewendung „für mich der Mühe wert.“ (Übs.)
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