Einführender Vortrag zum Galaterbrief

Kapitel 6

Einführender Vortrag zum Galaterbrief

Damit gelangen wir zum abschließenden 6. Kapitel.

Hier ruft der Geist Gottes zu Zartgefühl auf im Umgang mit solchen, die von einem Fehltritt übereilt worden sind. „Bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geiste der Sanftmut, indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht werdest“ (V. 1). Darüber hinaus lesen wir noch von einer mehr täglichen Pflicht. „Einer trage des anderen Lasten!“ (V. 2). Es geht nicht nur darum, in Liebe einem gefallenen Bruder nachzugehen, sondern auch anderen gegenüber ein Beistand in ihren Schwierigkeiten zu sein. Die Liebe findet ihr Wirkungsfeld in der Sorge für solche, die niedergeworfen sind – „und also erfüllet das Gesetz des Christus!“  Möchtest du ein Gesetz haben? Ist dieses nicht gerade das richtige Gesetz für dich? Es  ist das Gesetz Christi. So lebte und bewegte Er sich hier auf der Erde. Das Gesetz Moses fordert einen Menschen auf, an seinem Platz seine Pflicht zu tun. Das Gesetz Christi macht sozusagen das Hinausgehen in Liebe zu anderen zur Freude eines Erlösten. Genauso handelte Christus auf der Erde; und die höchste Berufung für einen Christen besteht darin, eine Darstellung Christi zu sein.

Aber hier finden wir noch mehr für uns. Paulus zeigt, dass Gott uns von unserer eigenen Wichtigkeit frei machen will; und welch eine Barmherzigkeit liegt darin, so gesegnet zu sein, dass wir es uns erlauben können, uns selbst zu vergessen! Andererseits verleiht das Gesetz stets dem gefallenen Menschen Wichtigkeit. Sein Grundsatz kann nicht anders sein. Das Gesetz stellt notwendigerweise den Menschen und sein Tun in den Vordergrund. Demnach ist die Wirkung des Gesetzes mit all seinen Verästelungen auf den Menschen überall dieselbe. So wirkte es auch unter den Galatern. Ungeachtet all ihres Geredes über das Gesetz, „bissen“ und „fraßen“ sie einander (Gal 5,15). War dies die Liebe, welche das Gesetz forderte? Wären sie mit Christus beschäftigt gewesen, dann hätten sie wirklich einander geliebt und auch in anderer Hinsicht das Gesetz erfüllt, ohne an sich selbst oder das Gesetz besonders zu denken. Das ist die Wirkung des Christentums; und das war Christus in Vollkommenheit. Aber trotz – oder vielmehr gerade wegen – ihrer Anwendung des Gesetzes nahmen sie sich wichtig und waren sie ohne heilige Kraft. Sie richteten einander, anstatt sich zu lieben. Wie missraten ist der Mensch in den Dingen Gottes! „Denn wenn jemand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk, und dann wird er an sich selbst allein und nicht an dem anderen Ruhm haben; denn ein jeder wird seine eigene Last tragen“ (V. 3–5). Welcher Einsatz auch immer in Liebe Seelen suchen mag – nichts ist dem Christentum gleich, um eine persönliche Verantwortlichkeit wirksam zu erhalten.

Wie wohltuend ist die Sprache hier! „Ein jeder wird seine eigene Last tragen.“  Die Verantwortlichkeit entspricht immer der Beziehung, in der man steht, und dem Maß der Erkenntnis, das jemand hat oder haben sollte. Das möchte ich allen Anwesenden auf das Herz legen, die sich heute Abend hier befinden 1. Als Mensch bin ich als ein solcher verantwortlich. Da ich einer gefallenen Menschheit angehöre und selbst sündig bin, müsste eigentlich alles im Gericht enden. Als Christ bin ich entsprechend meiner Stellung und ihren Vorrechten verantwortlich. Meine Verantwortlichkeit wird durch den Platz bestimmt, auf dem ich mich befinde. Falls ich einfach nur ein Mensch, ein Sünder, bin, erwartet mich notwendigerweise (denn die Verantwortlichkeit bedeutet keineswegs Kraft, die ohnehin durch die Sünde vernichtet ist) das ewige Gericht Gottes. Falls ich ein Christ bin, habe ich eine neue Art von Verantwortlichkeit. Es ist meine Pflicht, in Übereinstimmung mit dieser Stellung, in welche mich die Gnade versetzt hat, zu handeln. Wir dürfen diese beiden [Stellung und Verantwortlichkeit (Übs.)] niemals durcheinanderbringen. Einer der gefährlichsten Irrtümer in der Christenheit besteht darin, dass diese beiden in einen Topf geworfen werden. Die Wahrheit ist der besondere Segen und das spezielle Kennzeichen des Christentums. Heute wird vieles miteinander verwechselt, das sich eigentlich unterscheidet. Auf diese Weise finden wir mehr oder weniger Irrtum in der ganzen Christenheit in allen ihren Teilen. Ich kenne nichts, das verderblicher wäre. Die größte Schwierigkeit im Christentum besteht für die Menschen darin, zu verstehen, was es bedeutet, ein Christ zu sein und diese Stellung persönlich durch den Glauben Christi einzunehmen. Das heißt: Gerade die einfachste und offensichtlichste Wahrheit ist das Letzte, woran ein Mensch denkt. Und kein Wunder! Satan wünscht, dass die Menschen sich nicht als das ansehen, was sie sind und dass sie ständig in das hineingleiten, was sie nicht sind. Daraus folgt, dass weder Gott seinen wahren Platz erhält noch die Christen. Alles ist Verwirrung. Christus wird vergessen.

Danach folgt noch eine weitere Ermahnung; und wir sollten sicherlich nicht vergessen, dass es nicht nur die gewöhnlichen Beziehungen der Liebe und den Willen einander beizustehen gibt, wie wir es hier beginnend mit einem außergewöhnlichen Fall und endend mit einem allgemeineren betrachtet haben. Denn wir lesen ferner: „Wer in dem Worte unterwiesen wird, teile aber von allerlei Gutem dem mit, der ihn unterweist“ (V. 6). Das ist indessen nicht alles. Wir sehen die allgemeine Verantwortlichkeit des Erlösten, und zwar in sehr ernster Weise. Wir sind nicht nur dahin gestellt, wo wir ein Zeugnis von der Gnade in allen ihren Ausflüssen sein können, sondern befinden uns auch noch auf dem Schauplatz, wo das Fleisch sich zeigt. Das ist ein allgemeiner Grundsatz. Wenn ich für das Fleisch säe, werde ich vom Fleisch Verderben ernten. Wenn ich für den Geist säe, ernte ich ewiges Leben. Ewiges Leben ist über jeden Zweifel eine Gabe der göttlichen Gnade. Aber außerdem ist das ewige Leben, welches ich jetzt durch reinen und einfältigen Glauben an den Herrn Jesus Christus besitze, etwas, das ich sowohl am Ende wie auch am Anfang meines Weges finde. In der Heiligen Schrift wird keineswegs verschwiegen, dass wir durch geduldiges Ausharren im Gutestun nach dem ewigen Leben trachten sollen. Sie spricht in dieser zweifachen Weise vom ewigen Leben (Röm 6,22–23). Ich weise nachdrücklich darauf hin als auf eine Wahrheit von nicht geringer Bedeutung, die dennoch zu oft vergessen wird.

Danach wird auf einen weiteren Punkt die Aufmerksamkeit gerichtet: Paulus hat den Brief eigenhändig geschrieben. Das war sehr ungewöhnlich. Soweit ich weiß, schrieb der Apostel keinen weiteren Brief an eine Versammlung von Gläubigen eigenhändig. Der Brief an die Galater war eine Ausnahme. Der Brief an die Römer wurde entweder abgeschrieben oder, auf jeden Fall, von jemand anderem geschrieben. Gewöhnlich bestätigte Paulus die Briefe durch seine Unterschrift am Ende derselben, d. h. mit seinem Namen, um ihre Echtheit zu belegen. Er schrieb sie indessen nicht nieder. Das Schreiben war in jener Zeit eine aufwendige Tätigkeit; und es war vor Erfindung des Buchdrucks ein Beruf, als Schreiber oder Abschreiber zu arbeiten. Nun war der Apostel beim Schreiben an die Galater so in Liebe bewegt und durch die Gefahr, in der sie standen, so voller ernstem Eifer ihretwegen, dass er diesen Brief mit eigener Hand schrieb. Darauf legte er besonderen Wert, bevor er seine Ausführungen abschloss. „Sehet, welch einen langen Brief ich euch geschrieben habe mit eigener Hand!“ So sprach diese Tatsache von der Glut seiner Liebe und seines Kummers. Der Ernst seines Vorhabens konnte in diesem Fall die Einschaltung einer Mittelsperson nicht ertragen. Paulus hatte gezeigt, wie Gott in seiner Liebe für die Menschen die Verheißung unmittelbar gegeben hat. Genauso handelte er jetzt selbst in seiner Sorge um die Erlösten Gottes, als alle Grundlagen in Gefahr standen.

Zuletzt schließt er alles ab, indem er das Urteil des Todes, wenn ich so sagen darf, auf die Beschneidung und jene, die sie übernehmen möchten, legt. Er deutet außerdem an, wie nutzlos jegliche Gesetzlichkeit ist; denn solche, die für die Beschneidung eintraten, folgten keinesfalls völlig ihrem eigenen Grundsatz. Führe einen Bestandteil des Gesetzes ein, und du gerätst unter die Autorität des Ganzen! Du bist verpflichtet, es ständig zu erfüllen. Jene Gegner dachten niemals daran, so zu handeln. Der Feind hatte sie umgarnt, indem sie die Beschneidung priesen, und wollte sie zu einer Verbindung mit dem Judentum verleiten. Sie dachten jedoch niemals daran, die wirkliche Bürde des Gesetzes auf sich zu nehmen. Paulus rühmte sich ausschließlich des Kreuzes. „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (V. 14). Das Kreuz ist begleitet von einer neuen Schöpfung. Wie gesegnet und von allergrößter Wichtigkeit für unsere Seelen! Das Kreuz hat die Welt verurteilt; und gerade dieses Urteil über die Welt ist unsere Befreiung von der Welt. Durch die Gnade sind wir ihr gekreuzigt, so wie die Welt für uns gekreuzigt ist durch das Gericht. Das Urteil über die Welt ist noch nicht vollzogen worden. Ebenso sind die großen Ergebnisse der Gnade für die Erlösten in ihrer Fülle noch nicht erschienen. Die Ausführung des Gerichts Christi erwartet die Menschen am Tag des Herrn. Aber vor Gott ist alles schon entschieden; und es ist außerordentlich bedeutungsvoll, sich daran zu erinnern. Das Christentum führt alles zu einem Scheitelpunkt und beantwortet auch alle Fragen. Der Christ hat durch das Kreuz Christi seine Beziehungen zum Fleisch, zur Welt und zum Gesetz beendet. Er wurde in eine andere Stellung versetzt. Und welche ist das? Er ist eine neue Schöpfung in Christus. Es ist also kein Wunder, wenn er sagt: „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus.“

Gleichzeitig wird gezeigt, dass das Kreuz nicht nur, wie es aussehen mag, eine negative Macht darstellt, sondern es begleitet auch die neue Schöpfung, in welche uns die Gnade verwandelt hat. „Denn weder Beschneidung noch Vorhaut ist etwas, sondern eine neue Schöpfung“ (V. 15) in Christus Jesus. Die Nichtjuden mochten sich ihrer Freiheit rühmen. Welchen Grund hatten sie dafür? Lasst uns ausschließlich in Christus, in seinem Kreuz, uns rühmen und in der neuen Schöpfung, die durch Christus gekommen ist! Daher fügt der Apostel hinzu: „Und so viele nach dieser Richtschnur [das ist die Richtschnur des neuen Lebens] wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!“ (V. 16). Solche, die nach dieser Regel wandeln, sind Heilige im allgemeinen Sinn. Der Ausdruck „Israel Gottes“  meint, wie ich annehme, dass der einzige Teil Israels, den Gott jetzt anerkennt, aus denen besteht, die wirklich aus Glauben sind und Jesus angenommen haben. Es ist kein allgemeiner, unbestimmter Ausdruck für alle Gläubigen. Er deutet an, dass das Israel nach dem Fleisch zur gegenwärtigen Zeit keine Bedeutung hat. Diejenigen aus Israel, die an den Gekreuzigten glauben, sind Gottes Israel. Bald werden alle an Christus glauben; und dann wird ganz Israel errettet (Röm 11,26). Das ist jedoch ein prophetisches Bild der Zukunft, um das es hier nicht geht. Die neue Schöpfung ist eine gegenwärtige Segnung, welche die Seele jetzt schon genießt. Es ist ein derzeitiges Ergebnis des Kreuzes Christi. Folglich finden wir keine Anspielung auf das Kommen des Herrn in diesem Brief an die Galater. Er widmet sich der Befreiung der Erlösten von dieser gegenwärtigen bösen Welt durch das Kreuz Christi. Damit in Verbindung steht die Stärkung der neuen Natur und unserer Stellung der Gnade – der neuen Schöpfung in Christus Jesus.

Möchte die Wahrheit Gottes tief in unsere Herzen hinabdringen! Dann gelangt alles an seinen rechten Platz; und der Heilige Geist kann uns im Herzen mit allem in Verbindung bringen, was Gott tut und tun wird zur Verherrlichung Christi. Der Apostel wusste genug von der Beschneidung. Hinfort war sie ihm anstößig. Er sollte nun ein ganz anderes Merkmal an seinem Leib tragen, nämlich „die Malzeichen des Herrn Jesus“ (V. 17). Das sind die Narben des einzigen Kampfes, der in den Augen Gottes des Vaters kostbar ist. Zuletzt wünschte Paulus seinen Brüdern: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geiste“ (V. 18). Nichts passte mehr zu den Bedürfnissen derjenigen, an die er schrieb und welche sich so schnell von der Gnade Christi einem anderen Evangelium zugewandt hatten.

Fußnoten

  • 1 Wir müssen daran denken, dass es sich bei dem Text um die Wiedergabe von öffentlichen Abendvorträgen handelt. (Übs)
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