Einführender Vortrag zum Galaterbrief

Kapitel 4

Einführender Vortrag zum Galaterbrief

Kapitel 4 beschäftigt sich mit einem weiteren Verhältnis – nicht dem Verhältnis von Gesetz und Verheißung, sondern des Christen heute zu den Erlösten der alten Zeit. Ein sehr wichtiges Thema! Hierbei können wir uns kurz fassen. „Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knechte, wiewohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist. Also auch wir, als wir Unmündige waren ...“ (V. 1–3). Der Vergleich umfasst die alttestamentlichen Gläubigen; aber der Ausdruck („also auch wir“) galt ebenso für die damals Lebenden, welche sich in diesem Zustand befanden. „Als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt; als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz, auf daß er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, auf daß wir die Sohnschaft empfingen.“  Der Apostel zeigt, dass Gott weit davon entfernt ist, die Christen zu nehmen und auf den Boden des Alten Testaments zu stellen. Stattdessen leitet Er in Wirklichkeit jene, die in Verbindung zum Alten standen, durch die Erlösung von diesem weg. Paulus bestätigt durchaus, dass der Herr sowohl von einer Frau als auch unter dem Gesetz geboren wurde. Aber welches endgültige Ziel stand vor den Blicken? Die Menschen sollten nicht unter dem Gesetz festgehalten, noch weniger andere unter dasselbe gestellt werden. Im Gegenteil ging es darum, solche zu befreien, die vorher unter demselben standen. Das galt für die Gläubigen des Alten Testaments und viele jüdische Gläubige, die damals lebten. War es dann möglich, dass irgendjemand das Verlangen haben konnte, die Nichtjuden unter das Gesetz zu stellen, da doch die Juden selbst nach dem Willen Gottes durch das Werk Christi und entsprechend dem Zeugnis des Heiligen Geistes aus demselben herausgeführt worden sind? Welch ein Widerspruch! Was für ein Umsturz – nicht nur der Wahrheit Gottes, wie sie im Evangelium offenbart wurde, sondern auch der Erlösung, die dessen Grundlage ist! Denn Christus hat solche, die unter Gesetz waren, losgekauft, damit wir die Sohnschaft empfingen. Er führte aus jener Knechtschaft und Unmündigkeit, die das Gesetz voraussetzte, durch die Gnade in eine Stellung bewussten Heils und verständnisvoller Freude in Verbindung mit unserem Gott und Vater.

Doch was ist mit den Nichtjuden? „Weil ihr aber Söhne seid ...“ (V. 6). Paulus lässt sich nicht herab, über ihre Stellung in diesem Zusammenhang zu diskutieren, sondern stellt sie sofort in ihre wahre Beziehung. Weil sie Söhne sind, sandte Gott jenen gesegneten Beweis und die Kraft ihrer Sohnschaft. Er gibt ihnen umsonst den Heiligen Geist, weil sie den Namen Christi angenommen haben; oder, wie hier geschrieben steht, Er hat „den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!“  Das bedeutet: Sie dürfen, nachdem der Heilige Geist als Siegel ihrer Erlösung und als Freude ihrer Sohnschaft, in der sie nun stehen, gegeben ist, ihre Nähe zu Gott verwirklichen, seine Liebe genießen und „Abba, Vater“  rufen. Das sind die Worte, welche Christus selbst (und in welch anderen Umständen!) zu seinem Vater gerufen hat. „Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott.“

Daraufhin geht Paulus zu einem anderen Punkt seiner Beweisführung über. Wir dürfen tatsächlich sagen, dass er jetzt auf die Galater, welche unbedingt das Gesetz zu sich heranziehen wollten, herabdonnert. Wussten sie, dass es für den nichtjüdischen Christen dem Grundsatz nach ein Zurückkehren zum Heidentum ist, wenn er jüdische Elemente annimmt? Heidentum! Nun, sie dachten, sie würden auf diese Weise viel frommer und ehrfurchtsvoller in ihrer Würdigung der Heiligen Schrift werden. Sie dachten, dass das Christentum noch weit besser würde, wenn es die alten Formen und schönen Bilder des Gesetzes in sich aufnimmt. „Keinesfalls“, sagt der Apostel, „ihr kehrt geradeswegs in euer altes Heidentum zurück, ohne es selbst zu wissen.“ Denn er hatte schon gezeigt, dass unser Loskauf durch Christus sogar den Juden von seiner Unterwerfung unter das Gesetz befreit hat. Auf der anderen Seite sind die Nichtjuden sofort ohne irgendeine gesetzliche Lehrzeit – welcher Art auch immer – auf den Boden der Gnade gestellt worden. „Aber damals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?“ (V. 8–9). Welche Aussage könnte ernster und nachdrücklicher sein? Es ist unmöglich, sich einen Gluthauch zu denken, der vernichtender alles verzehrte, was sie sich als Ziel gesetzt hatten. Sie waren in den abscheulichen Gräueln der Heiden geboren und aufgewachsen; sie waren den Einrichtungen Israels fremd. Vor Kurzem wurden sie durch die Gnade Gottes in das Christentum hineingeführt, wo sie jüdische Brüder vorfanden, die mit ihnen – wie gesagt wird – in Christus eins geworden sind. Unwissende oder betrügerische Männer veranlassten sie, nach der Beschneidung zu verlangen. Was taten sie damit? Wenn ein nichtjüdischer Christ – beachten wir es! – solche alt-testamentlichen Elemente annimmt, bedeutet es für ihn nach den Gedanken des Heiligen Geistes nicht einfach eine Annahme des Judentums, sondern eine Rückkehr zu seinen heidnischen Götzen – so wenig er auch daran denken mag.

Bei einem Juden wurden jüdische Elemente ertragen. Der Apostel Paulus selbst besteht in Römer 14 darauf, dass ein Nichtjude  mit einem Juden Geduld haben soll, der noch mit seinen Tagen, Speisen und so weiter belastet ist. In dem Augenblick jedoch, wenn ein Nichtjude dieses System übernimmt oder ein Jude es einem Nichtjuden auferlegen will, führt dieses zu nichts anderem als Heidentum. Wer hätte es ohne eine ausdrückliche Bibelstelle gewagt zu sagen, dass die alten jüdischen Formen, wenn sie von einem nichtjüdischen Gläubigen übernommen werden, einen solchen götzendienerischen Charakter haben? Aber wie wahr ist das, wir müssen nur etwas unter die Oberfläche sehen! Tatsächlich wird diese Wahrheit in unseren Tagen den Augen immer sichtbarer. Der Ritualismus ist in der Gegenwart die offenkundigste Veranschaulichung der Erklärung des Apostels. Schon die Verteidigung desselben und die Bedeutung, welche gewisse Menschen den Formen und Zeremonien beimessen, aus denen das äußere Christentum in so großem Ausmaß besteht, beweist unverhüllt das Zurückkehren zum Götzendienst. Denke nicht, dass der Charakter des Götzendienstes geläutert ist, weil die Anbetung Jesus gilt. Das Christentum kann unmöglich mit etwas vermengt werden, das nicht es selbst ist. So zartfühlend und verständnisvoll das Christentum auch ist – nichtsdestoweniger ist es in sich selbst so ausschließend, wie nur irgendetwas sein kann. Die Wahrheit muss notwendigerweise ausschließend sein; und alle, welche die Wahrheit festhalten, müssen in ihrem Anhangen an derselben und Demjenigen, der ihr persönlicher Ausdruck ist, auch ausschließend sein. (Damit meine ich selbstverständlich, Ausschließlichkeit (Exklusivität) in Bezug auf Sünde und Verführung). Kompromisse kann es da nicht geben. Aber eine Exklusivität in irgendeinem Sinn, außer als Ausdruck der Wahrheit in Christus, ist in sich selbst eine durch und durch herzlose Falschheit. Nichts erfordert mehr die Kraft der Gnade; denn sogar die Wahrheit hört, wenn sie von der Gnade getrennt ist, auf, Wahrheit zu sein. Doch wenn letztere in Christus gefunden wird, setzt sie eine Entfaltung der Gnade voraus. Das Licht hingegen wirkt nicht in derselben Weise wie die Wahrheit. „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden“ (vgl. Joh 1,9+17).

Die Galater standen unwissentlich in Gefahr, die Wahrheit aufzugeben. Nach ihrer Ansicht begannen sie hingegen nur, in Hinsicht auf die Religion der Väter und alle, die Gott auf dieser Erde vor dem Kommen Christi geehrt hatten, eine schickliche Stellung zu beziehen. Eine ehrwürdige Religion! Es war das einzige System irdischen Gottesdienstes, das jemals Gottes Billigung besaß. Warum sollte man das nicht annehmen, was im Christentum fehlte? Worin liegt der Schaden, wenn man das übernimmt, dem sich die Heiligen der alten Zeit unterwarfen? „Nein“, erwidert der Apostel, „ihr kehrt zum Heidentum zurück.“ Sie waren Götzendiener gewesen, bevor sie Christen wurden; und die Annahme jüdischer Grundsätze zusätzlich zu Christus war ein Zurückwenden zu ihren weggeworfenen Götzen.

Als Nächstes wird uns gesagt, worin dieses Zurückwenden bestand. „Ihr beobachtet Tage und Monate und Zeiten und Jahre“ (V. 10). Was! Ist das alles! Ich kannte einen kirchlichen Theologen, der ein System entwickelt hat, diese Worte als Motto und Rechtfertigung zu verwenden. Und kein Wunder! Die Christenheit ist auf solchen Grundlagen aufgebaut. Sie denkt, dass es insbesondere für die Kirche völlig richtig sei, Tage für diesen oder jenen Heiligen einzurichten – dass es gewisse Zeiten gibt, sich der Fleischwerdung (Inkarnation), des Dienstes, der Kreuzigung, der Auferstehung und der Himmelfahrt des Herrn und so weiter zu erinnern. Dabei wähle ich nur die besten Beispiele aus, denn ich möchte jetzt nicht den Missbrauch aufstöbern. Alles dieses wird als eine große, weise und sinnliche Hilfe für die religiöse Verehrung angesehen. Nun, das Wort „sinnlich“ sagt schon, dass das Fleisch angesprochen wird. Es ist jedoch eine „sinnliche Hilfe“ für Götzendienst, nicht für den lebendigen Glauben. Das ist genau das Übel, welches der Geist Gottes so ernst und energisch durch den Apostel hier brandmarkt. Er klagt sie nicht irgendeiner offenen Anstößigkeit oder Unsittlichkeit an. Aber welch einen Beweis sehen wir hier, dass die Wahrheit Gottes und die Gnade Christi alles ausschließt außer sich selbst! Auch gibt es keinen größeren Beweis von der zarten und rücksichtsvollen Sorge Gottes für uns als in dieser Wahrheit; denn Er kennt unsere Neigung, das Gesetz in der einen oder anderen Form oder in unterschiedlichem Maß mit der Gnade zu vermengen. Daher beschäftigt Er sich mit dem, was von den Vätern lange vor Mose her stammt, als einen Fremdkörper, der nachteilig für die Christen ist. So wie Gott für uns am Kreuz gewirkt und uns in Christus von jedem Atom der Sünde befreit hat, so erlaubt Er uns jetzt nicht, ein einziges irdisches oder gesetzliches Element mit der Offenbarung seiner Gnade zu vermengen, die Er uns in der Erlösung geschenkt hat. Das verkündete Er uns durch den Heiligen Geist, den Er vom Himmel hernieder sandte.

Daran schließt der Apostel eine weitere Zurechtweisung für sie an. „Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe“ (V. 11). Das folgt unmittelbar auf seinen Tadel hinsichtlich ihrem Beachten von Zeiten und Zeitpunkten. „Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder, ich bitte euch“ (V. 12). Sie wussten genau, dass er nichts mit dem Gesetz oder seinen Anordnungen zu tun hatte. „Seid wie ich!“  Damit meint er ganz klar: Frei vom Gesetz. „Denn auch ich bin wie ihr.“ Auf jeden Fall waren sie keine Juden; und als solche hätten sie nichts mit dem Gesetz zu tun haben sollen. So fordert er sie auf, genauso frei vom Gesetz zu sein wie er selbst. Denn er, obwohl ein Jude, war völlig mit dem Gesetz und allem, was zu demselben gehört, fertig. „Denn auch ich bin wie ihr, ... ihr habt mir nichts zuleide getan.“  Das heißt: Der Apostel betrachtete seine verachtete Freiheit vom Gesetz nicht als einen gerechten Vorwurf, sondern frohlockte darin. Wenn sie ihm vorwarfen, dass er das Gesetz nicht als für den Christen gültig anerkenne, sah er darin keine Schmähung oder Kränkung.

Des Weiteren weist Paulus in sehr ergreifender Weise auf einige persönliche Umstände hin, nämlich wie er schon in seinem eigenen Leib ein Zeuge davon war, dass er mit dem Fleisch nichts zu tun hatte. Denn Gott gefiel es, den Apostel in seinem Dienst des Evangeliums nicht mit großer natürlicher Kraft, sondern mit einem Makel auszurüsten, der ihn beim Predigen verächtlich machte. Offensichtlich war der „Dorn im Fleisch“ etwas, das ihn der Geringschätzung aussetzte und es wirklich jedem schwer machte zu verstehen, wie ein Mann, der zum Apostel berufen war, derartige Schwierigkeiten haben sollte, seine Predigtbotschaft mitzuteilen. Es ist klar ersichtlich, dass es irgendeine Art Hindernis gab. Es scheint etwas gewesen zu sein, das auch seine Sprechweise beeinflusste und ihn dem Spott und nachteiligen Kommentaren von fleischlich gesinnten Menschen aussetzte. Doch hierin konnte er sich rühmen. Es war bitter zu ertragen. Anfangs hatte er zum Herrn gebetet, dieses wegzunehmen. Aber, nein! Obwohl er dreimal gebetet hatte (so wie auch sein Herr in anderen und wunderbaren Umständen), so sollte er auch auf diese Weise Gemeinschaft mit Christus haben und lernen, dass es Besseres gibt als die Wegnahme dessen, was das Fleisch zu nichts macht. Die Kraft des Christus sollte über ihm wohnen (2. Kor 12,7–9). Es scheint demnach, dass die Galater in gleicher Weise wie die Korinther bewegt wurden. Das veranlasst Paulus, von einer anderen Übung zu sprechen. Als sie ihn zuerst kennenlernten, gab es wegen seines Makels keine Schwierigkeiten. Sie hörten ihm wie einem Engel Gottes zu. Sie hatten sich verändert, nicht er. Sie waren es, welche die Gnade Christi und die Lieblichkeit und Frische derselben so vollständig aus den Augen verloren hatten, dass Paulus ihretwegen „abermals Geburtswehen“ erlitt (V. 19). Seine Seele musste erneut das durchleben, was ihn bewegte, als sie sich bekehrten.

Danach versetzt er denen einen letzten Schlag, die in das Gesetz vernarrt waren. Er sagt zu solchen, die unter dem Gesetz sein wollten: „Warum hört ihr nicht auf das Gesetz? Schaut Abraham und sein Haus an! Blickt auf die Magd Hagar! Seht Isaak und Ismael! Da habt ihr in einem Bild die beiden Menschengruppen, die auch heute noch auf der Erde zu finden sind.“ Die Gesetzes-Partei symbolisiert Ismael, das Kind des Fleisches. Diejenigen, welche der Gnade Gottes anhangen, finden ihr Muster in Isaak, dem Kind der Verheißung. Was sagt nun Gott dazu? Dieses: „Abraham hatte zwei Söhne, einen von der Magd und einen von der Freien“ (V. 22). Der Apostel argumentiert ausdrücklich von Abraham her, da sie sich immer bemühten, Abraham, den Vater der Beschneidung, anzuführen. Ihre Hauptstütze, wie sie dachten, Abraham, hatte zwei Söhne. Doch sie standen nach der Schrift auf zwei völlig verschiedenen Grundsätzen. „Der von der Magd war nach dem Fleische geboren, der aber von der Freien durch die Verheißung“ (V. 23). Wie passend ist diese Verdeutlichung, um die Judaisierer bloßzustellen! Dieser Fall war ganz aus dem Leben gegriffen. Welcher Sohn verkörperte die Gläubigen? Unter welches Sinnbild fielen sie – Ismael oder Isaak? Welcher Sohn entsprach dem Grundsatz, auf dem sie standen?

Diesbezüglich kann es keinen Zweifel geben. „Saget mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, höret ihr das Gesetz nicht?“ (V. 21). „Was einen bildlichen Sinn hat; denn diese sind zwei Bündnisse: eines vom Berge Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist. Denn Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft; aber das Jerusalem droben ist frei, welches unsere Mutter ist. Denn es steht geschrieben: „Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und schreie, die du keine Geburtswehen hast! denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als derjenigen, die den Mann hat“ (V. 24–27). Diese Anwendung ist genauso klar wie überzeugend für jene, die sich auf Abraham bezogen und dem Wort Gottes beugten. Anstatt sich zu dem Jerusalem auf der Erde zu wenden und ein Band zum Gesetz oder irgendetwas hienieden herzustellen, sucht das Evangelium keine solchen Verbündeten; es weist sie vielmehr zurück. Jetzt gilt vielmehr ein System, das dem alten völlig entgegengesetzt ist. Unser wahres Band besteht zum Jerusalem droben. Unser Gegenbild ist Isaak, das Kind der Freien,  ihr Muster hingegen Ismael, der Sklavensohn.

Nach Erwähnung des Namens Jerusalems leitet der Heilige Geist Paulus zur Anführung einer Prophezeiung Jesajas, welche Israel im Tausendjährigen Reich zeigt, nachdem es sich gewandelt und seine Selbstgerechtigkeit aufgegeben hat und durch Gottes Gnade in Christus frei geworden ist. Israel wird dann zurückblicken und jene sich zuzählen, die heutzutage als Christen herzugebracht worden sind. Es wird finden, dass viel mehr Kinder durch das Evangelium während der Zeit seiner Verlassenheit gezeugt worden sind, als zu der Zeit, in der es vormals geblüht und alles, was irdische Macht und Herrlichkeit geben konnte, besessen hatte. So wird dem Grundsatz einer Verbindung zum Gesetz ein entscheidender Schlag versetzt; und es wird klar, dass jene Widersacher in Wirklichkeit das Gesetz nicht hörten. Ihre Ohren waren schwer und ihre Augen geblendet durch ihre Gesetzlichkeit.

Ebensowenig verstanden sie die Propheten. Es war verhängnisvoll für Jerusalem, unter dem Gesetz zu stehen. Alles, was es damals verloren hat, soll es erst wiedergewinnen, wenn die Verheißung zur Ausführung kommt. Bis zur Zerstörung Jerusalems herrschte das Gesetz. Aber jetzt, zur Zeit des Christentums, ist Jerusalem rebellisch und verspottet wie Ismael die Verheißung. Darum wurde es hinausgetrieben und hat gar nichts. Es ist verlassen. Es befindet sich nicht mehr in dem Zustand der verheirateten Frau, sondern der flüchtigen Sklavin. Es ist wie eine Frau, die keinen Mann hat. Wie wunderbar indessen, dass dann, wenn Jerusalem bald verlangen wird, unter die Gnade gestellt zu werden, alle jene, welche jetzt durch die Verheißung herzugebracht worden sind, Jerusalem als Kinder zugerechnet werden. Das ist also die Beweisführung, in welcher der Apostel diese bemerkenswerte Prophetie anwendet. Wenn es durch die Barmherzigkeit Gottes gedemütigt ist und sich seinem Messias und dem neuen Bund zuwendet, wird auch Jerusalem auf das Gesetz hören. Die Verheißungen der Propheten werden dann zu seiner Segnung erfüllt; und in der Größe der Liebe werden zusätzlich die gegenwärtigen Kinder der Verheißung (das sind die Christen, welche in einer gewissen geheimnisvollen Weise Kinder Jerusalems sind) sein Ruhm sein. Das ist indessen das Jerusalem unter Verheißung und Freiheit – und nicht unter dem Gesetz –, welches durch die Gnade wiederhergestellt ist, nachdem es durch das Gesetz alles verloren hatte und zur völligen Verwüstung erniedrigt worden war. Für uns fügt der Apostel jedoch sorgfältig den Grundsatz unseres himmlischen Charakters hinzu. Uns gehört das Jerusalem droben und nicht eine Stadt auf der Erde. Das heißt: Er bezieht sich auf das himmlische Wesen des Jerusalems für uns, bevor er auf den verwüsteten Ort jenes Jerusalems nach dem Fleisch eingeht. Er spricht von der vorhergesagten Umwandlung der Herzen und der Segnung in Gnade, wenn Jerusalem glücklich sein wird, die Christen, welche jetzt nach dem Geist geboren sind, sich sozusagen anzueignen. Damit ist des Apostels Beweisführung abgeschlossen.

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