Lasst uns die Mauer Jerusalems aufbauen!

Die Aufteilung des Volkes

Der Gegenstand des 11. Kapitels ist die Aufteilung des Volkes in der Stadt und in der Landschaft. Als Folge dieser Aufteilung wird Jerusalem von einer gewissen Anzahl der Söhne Judas (V. 4–6) und der Söhne Benjamins (V. 7–9), einer beachtlichen Anzahl Priester (V. 10–14), einigen Leviten (V. 1518) und Türhütern (V. 19) bevölkert. In der Landschaft finden wir dann den Rest von Israel, der sich aus Priestern, Leviten, Nethinim (V. 20.21), den Kindern Juda (V. 25–30) und Benjamin (V. 31–35) zusammensetzt.

Die Verteilung des Volkes über das Land ist wichtig, wenn sie in Verbindung mit den Mauern und Toren gesehen wird, die das große Thema des Buches Nehemia ausmachen. Denn diese Verteilung zeigt klar, dass die Mauern nicht errichtet wurden, um das Volk Gottes abzugrenzen, noch um es auszuschließen. Es gab Angehörige von Juda und Benjamin, und Priester und Leviten, die außerhalb der Mauer wohnten und solche, die sich innerhalb niederließen, und das mit Recht, gemäß den Anordnungen Gottes. Wir müssen uns erinnern, dass es ein Volk war, das in die Gefangenschaft gekommen war, und nicht nur aus den Bewohnern von Jerusalem bestand. Und es war nur ein Überrest dieses Volkes, der zurückkehrte.

Um die Notwendigkeit der Mauern und Tore zu begreifen, müssen wir bedenken, dass Gott in erster Linie einen Überrest seines Volkes aus der Gefangenschaft befreite und ihn unter Serubbabel ins Land zurückbrachte, um das Haus Jehovas wieder aufzubauen (Esra 1,2.3). Nachdem das Haus gebaut war, wurde es nötig, die Mauern zu bauen und die Tore aufzurichten, um die Heiligkeit des Hauses Gottes aufrechtzuerhalten.

Die Mauern und Tore wurden nicht errichtet, damit einige wenige innerhalb der Mauer Alleinrechte auf das Haus Gottes geltend machen konnten, oder um solche außerhalb der Mauern vom Zutritt zum Haus auszuschließen. Hätten jene innerhalb der Mauer solche Rechte geltend gemacht, wäre es nicht nur höchste Vermessenheit, sondern auch der schwerwiegendste Missbrauch der Mauern und Tore gewesen. Sie hätten die Mauern und Tore zu ihrer eigenen Erhöhung benützt, viele aus dem Volk Gottes von ihren Vorrechten ausgeschlossen und die Rechte des Herrn verleugnet.

In den Tagen Hesekiels beanspruchten die Bewohner von Jerusalem tatsächlich diese übermäßig exklusive Stellung. Sie sagten zum „ganzen Haus Israel insgesamt“: „Bleibet fern von Jehova; uns ist das Land zum Besitztum gegeben“ (Hes 11,15). So wurde also in Anspruch genommen, dass nur die Leute innerhalb der Stadt die Vorrechte des Volkes Jehovas besassen.

Die zweifache Weise, in der Jehova ihre Anmaßung – ihre ausschließende und selbstbefriedigende Forderung – scharf tadelte, ist bemerkenswert. Die erste und unmittelbare Folge dieser exklusiven Anmaßung von seiten Jerusalems war, dass „die Herrlichkeit Jehovas sich aus der Mitte der Stadt erhob“ (V. 23). Sie verloren das, was sie für sich allein beanspruchten; denn Gott will seine Herrlichkeit nicht mit dem geistlichen Hochmut und der Anmaßung der Menschen verbinden. Und zweitens sagt der Herr vom „ganzen Haus Israel“ -den Ausgeschlossenen –: „So bin ich ihnen doch ein wenig zum Heiligtum geworden in den Ländern, wohin sie gekommen sind“ (V. 16). Dieses letztere war nur ein vorläufiger Akt der Barmherzigkeit und des Mitleids (aber nicht weniger wirklich); denn es ist der Vorsatz Gottes, sein ganzes Volk „im Land Israel“ zu haben (V. 17), getrennt vom Bösen (V. 18), eins im Herzen (V. 19), dem Wort gehorsam und im Genuss der Gemeinschaft mit Gott (V. 20). Wir wissen, dass dieser Vorsatz schließlich zustande kommen wird.

So konnten weder die Bewohner von Jerusalem exklusive Ansprüche auf die Vorrechte der Gegenwart Jehovas erheben (in Wirklichkeit verlässt sie diese Gegenwart), noch das Volk Jehovas anderswo dieser Gegenwart beraubt werden, nachdem diese erste Herrlichkeit Jerusalem einmal verlassen hatte.

Lasst uns also klar erkennen, dass das Volk ins Land zurückgebracht wurde, um das Haus zu bauen, und dass die Mauer nötig wurde, als das Haus gebaut war, um seine Heiligkeit aufrechtzuerhalten. Ohne Mauer war es unmöglich, das Haus in der Heiligkeit zu erhalten, die dem Haus Gottes auf ewig gebührt. Ohne das Haus hätte die Mauer nur eine ausgewählte Gruppe umschlossen, die ihre eigene Verherrlichung durch den Ausschluss anderer sucht. Bei richtiger Verwendung halten die Mauern die Heiligkeit des Hauses Gottes aufrecht und sichern so seinem ganzen Volk die Vorrechte des Hauses Gottes. Bei Missbrauch werden sie einfach zum Abzeichen einer Partei und zur Sicherheit einer Sekte.

So ist das richtige Erfassen dieses Teiles des Buches Nehemia von der grössten Wichtigkeit für jene, die in unsern Tagen von den menschlichen Systemen befreit worden sind, um noch einmal zu versuchen, die Grundsätze des Hauses Gottes aufrechtzuerhalten. Wer die Lektionen der Geschichte dieses Überrests beachtet, wird vor mancher Falle bewahrt, in die man so leicht gerät. Wir sollten wirklich begreifen, dass es ohne Absonderung unmöglich ist, die Heiligkeit des Hauses Gottes aufrechtzuerhalten. Aber wir sollten auch die ernste Gefahr klar erkennen, die darin besteht, die unbestrittene Wahrheit der Absonderung zu missbrauchen, um eine auserlesene Gruppe zu bilden, die viele Angehörige des Volkes Gottes ausschließt, die Rechte des Herrn verleugnet und schlussendlich die eigentliche Wahrheit vom Hause Gottes verliert, die durch eine wahre Absonderung vom Bösen bewahrt würde.

Das ist die wichtige Lektion, die wir von der Aufteilung des Volkes lernen können. Die Art und Weise dieses Verteilens hat uns auch etwas zu sagen. Es erinnert uns daran, dass, wenn wir bestrebt sind, im Licht des Hauses Gottes zu wandeln, wir bereit sein müssen, gleich dem Überrest in Nehemias Tagen, Umstände großer Schwachheit anzunehmen. Die Verteilung durch das Los ist ein Zeugnis dieser Schwachheit. Dass eine solche Methode nötig war, offenbart, wie klein die Zahl derer war, die in das Land Israel zurückgekehrt waren. Wir haben schon gehört, dass „die Stadt geräumig und groß war, und das Volk darin spärlich“ (7,4). Und doch, obwohl klein an Zahl, war ihr Eifer für das Haus Gottes groß. So geschah es, dass diejenigen außerhalb der Stadt – „das übrige Volk“ – in ihrem Wunsch, das Haus und die Stadt zu unterstützen, vom Los Gebrauch machten und in Selbstverleugnung jeden zehnten Mann stellten, um innerhalb der Mauern zu leben. Weiter äußerten sie ihren guten Willen, indem sie die segneten, „die sich freiwillig erboten, in Jerusalem zu wohnen“.

Wie anders wird es in den zukünftigen Tagen der Herrlichkeit Jerusalems sein! Dann wird die Stadt wirklich immer noch weit und groß sein, aber es werden nicht länger nur wenige darin wohnen. In jenen Tagen wird das Land zu eng werden für die Bewohner; und von der Stadt werden sie sagen: „Der Raum ist mir zu eng; mache mir Platz, dass ich wohnen möge“ (Jes 49,14–21). Das erinnert uns daran, dass Besserung, Wiederherstellung und Erweckungen, so glänzend und gesegnet sie auch sein mögen, die kommende Herrlichkeit nie erreichen. Es gab Zeiten der Besserung in den Tagen der Könige; es gab Wiederherstellung unter Esra und Nehemia, und diese wiederhergestellten Heiligen erfreuten sich ihrer Wiederbelebungen. Aber ob es nun Besserung, Wiederherstellung oder Erweckung war, es geschah immer in Umständen äußerer Schwachheit. Heute ist es nicht anders. Das Christentum hatte auch seine Reformation; auch wir haben Wiederherstellung und Aufleben miterlebt, aber immer in Umständen der Schwachheit. Denn Gottes Gebiet mag noch so weit sein, es ist immer zu eng für das religiöse Fleisch. Obwohl das Haus Gottes sein ganzes Volk umfasst, werden es immer nur wenige sein, die bereit sind, seinen Grundsätzen entsprechend zu wandeln und sich so seiner Vorrechte zu erfreuen.

Es ist gut für uns, wenn wir die Zustände äusserer Schwachheit erkennen und annehmen. Dann werden wir nicht vom Pfad der Absonderung abgelenkt werden, wenn die Zahl derer, die diesen Pfad gehen, nur gering ist. Wir werden dann im Licht der zukünftigen Herrlichkeit vorangehen, wissend dass, wenn wir die Wahrheit festhalten und im Licht des Hauses Gottes wandeln, wir das aufrechthalten, was im neuen Himmel und der neuen Erde zur vollen Entfaltung kommen wird. Dort werden wir in Wirklichkeit die Hütte Gottes in der Schönheit ihrer Heiligkeit finden. Alle Schwachheit wird für immer verschwunden sein. Die Schwachheit wird vorbeigehen, aber das Haus wird bleiben. Ermutigt und stärkt es uns nicht, wenn wir daran denken, dass das, was wir in Schwachheit festhalten, in Herrlichkeit geoffenbart wird?

Und weiter, können wir nicht sagen, dass sogar die Mauern und Tore nicht bleibend sind? Sie werden sicher immer nötig sein, solang das Haus Gottes in einer bösen Welt ist. Aber das Haus wird fortbestehen, wenn die Mauern nicht länger benötigt werden.

Es ist wahr, dass die himmlische Stadt eine mit Edelsteinen geschmückte Mauer und Perlentore hat. Denn obwohl die Stadt die Versammlung Gottes in Herrlichkeit darstellt, wird sie doch in Verbindung mit einer Welt gezeigt, in der das Böse, auch wenn es zurückgehalten wird, immer noch vorhanden sein wird. Aber in einem Gesicht führt uns Johannes über die Tage des Tausendjährigen Reiches hinaus in die liebliche Szene, wo alles Frühere vergangen sein wird. Er sieht die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herniederkommen. Aber was er tatsächlich auf der neuen Erde sieht, ist nicht eine Stadt, sondern ein Wohnplatz Gottes. „Siehe“, sagt eine laute Stimme aus dem Himmel, „die Hütte Gottes bei den Menschen!“ Das Zelt Gottes ist dort, aber Stadtmauern und Tore sind für ewig abgeschafft. Wo es nichts Böses mehr gibt, das ausgeschlossen werden muss, werden auch keine Mauern mehr benötigt. Dort wird es keine Trennung mehr geben; denn das Meer wird dort nicht mehr sein.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel