Kennen wir die Absichten Gottes?

Lasst mich einige Bemerkungen bezüglich des Werkes des Herrn machen. Es ist nicht zu leugnen, dass wir in Tagen außerordentlicher Aktivität leben. Ringsumher werden von bekennenden Christen enorme Anstrengungen unternommen - vielleicht sogar mit einer größeren Ausdehnung als jemals seit den Tagen der Apostel. Aber diese Bemühungen sind in Art und Wesen sehr unterschiedlich. Der Feind der Seelen ist eifrig wirksam (jetzt mehr denn je), so dass jeder nur denkbare Irrtum gewissenhaft verbreitet wird; wahrhaftig, je schwerwiegender der Irrtum ist, umso ernstlicher treten dessen Befürworter dafür ein. Die Seelen sind durch Ritualismus und Rationalismus vergiftet, die Person und das Werk Christi sind verachtet, die Schriften werden in Frage gestellt und an jeder Stelle schamlos angegriffen, und viele werden durch eine törichte Hoffnung einer letztendlich allgemeinen Errettung (wenn auch durch Feuer) in eine falsche Sicherheit eingelullt, um nicht noch von anderen verrückten Vorstellungen zu sprechen. Auf der anderen Seite finden sich viele aufrichtige Herzen, die ernstlich bemüht sind, das Evangelium von Christus (oder das, was sie davon kennen) nah oder fern zu solchen zu bringen, die noch in der Finsternis und fern von Gott sind; es ist unser aufrichtiges Begehren, dass die Zahl solcher noch hundertfältig vermehrt werden möchte!

Es ist nun meine Absicht, einige Worte im Hinblick auf diese letztere Klasse von Arbeitern zu sagen; denn man muss einfach empfinden, dass ein sehr großer Teil dieser Arbeiter (und sogar fromme Menschen der gegenwärtigen Zeit) weit hinter den Absichten zurückbleibt, die Gott im Auge hat, und die er zu unserer Anleitung in den Schriften offenbart hat. Wenn man ganz allgemein Prediger hört, so könnte man denken, dass es Gottes alleiniges Ziel und Absicht ist, den Menschen vor der Hölle zu erretten. Dies bedeutet, den Menschen und nicht Gott zum Hauptgegenstand des Evangeliums zu machen, und die Errettung des Menschen als das Endziel im Auge zu haben und nicht die Verherrlichung Gottes. Das soll nicht heißen, dass die Errettung von Seelen nur einen geringen Stellenwert in den Ratschlüssen Gottes hat. Gepriesen sei sein Name - sie nimmt einen sehr weit ausgedehnten Raum darin ein! Es ist die Freude seines Herzens, zu erretten und zu segnen; aber ist die Errettung vor dem kommenden Zorn das große Ziel Gottes? Von Jonathan wird berichtet: „Er hat mit Gott gehandelt“ (1. Sam 14,45). Das zu tun erfordert ein Erkennen seiner Gedanken und jederzeit ein Verständnis über das, was er tut. Dies besaß Jonathan (auch sein Waffenträger in gewissem Maß), während sich Saul und sein Volk diesbezüglich in äußerster Dunkelheit befanden.

Es ist von Bedeutung, zu sehen, dass Gott in der gegenwärtigen Zeit einen Vorsatz und ein Werk von besonderem Charakter ausführt. Er beschäftigt sich jetzt nicht mit einem irdischen Volk und stellt für den Menschen im Fleisch seine gerechten Ansprüche auf und macht eine Nation zum Mittelpunkt seiner Regierungswege im Hinblick auf die Erde. Er tut etwas unvergleichlich Höheres. Er hat sich selbst offenbart in der Person seines im Fleisch gekommenen Sohnes. Nachdem dieser Gepriesene abgelehnt und hinausgeworfen worden war (und das wunderbare Werk der Erlösung vollbracht hatte, während der Mensch sein schrecklichstes Werk tat), hat Gott ihn zu seiner Rechten in den himmlischen Örtern erhöht. Nicht länger wird ein Messias auf Erden ausgerufen (obwohl das zu seiner Zeit wieder geschehen wird), sondern ein gestorbener Christus, auferstanden und in die Herrlichkeit erhöht. Der Heilige Geist ist als Folge der Verherrlichung Christi herabgekommen und ist hier auf der Erde, um den Ratschlüssen der Liebe und Gnade, die vor Grundlegung der Welt in dem Herzen Gottes gefasst worden waren, Ausdruck und Wirkung zu geben. Er ist nicht nur wegen der Errettung der Seelen hier (obwohl das an seinem Platz auch wahr ist), sondern um „ein Volk für seinen Namen“ (Apg 15,14) zu sammeln und, wie Kajaphas es ausdrückt, „damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte“ (Joh 11,52; wobei dieser Ausspruch wohl eher von dem Evangelisten Johannes zu stammen scheint als von dem Hohenpriester. Kajaphas scheint über die Berechnung, dass ein Mensch für das Volk sterben sollte, nicht hinausgekommen zu sein; vgl. Joh 11,49.50 mit Joh 18,14). Hierbei handelt es sich um eine vollkommen neue Sache, die nicht eher eintreten konnte, als dass der Sachwalter gekommen war. Gott hat zu jeder Zeit seine Heiligen auf der Erde gehabt - Menschen, in deren Herzen und Gewissen sein Geist gewirkt hat - aber niemals bevor die Erlösung vollbracht und der Heilige Geist herabgekommen war, hat es eine solche „Zusammensammlung“ gegeben. Es gab in der Tat kein Haupt im Himmel, zu welchem sie hätten vereinigt werden können. Als er auf Erden offenbart war, blieb er allein, so dass es keine Einheit mit ihm gab; wäre er nicht in den Tod gegangen und hätte die Erlösung bewirkt, hätte sogar die Einheit mit ihm niemals das Teil auch nur eines einzelnen sein können. Aber nachdem er auferstanden und erhöht ist, hat das „wahre Weizenkorn“ viel Frucht gebracht (Joh 12,24). Er ist nun in der Herrlichkeit als das „Haupt des Leibes, der Versammlung, der der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten“ (Kol 1,18). In dem hernieder gekommenen Geist sind alle, die an seinen Namen glauben, in einem Leib mit ihm verbunden (1. Kor 12,13).

Das ist das Werk Gottes in der gegenwärtigen Zeit, in welcher sein Sohn im Himmel dem Auge verborgen ist und sein Geist auf der Erde weilt. Dem Leib, der also auf der Erde gebildet ist, sind Gaben gegeben zu seiner Auferbauung und Förderung. Das Haupt „hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer“ (Eph 4,11). Die beiden ersten miteinander verbundenen Gaben von grundlegendem Charakter haben unausweichlich aufgehört (obwohl wir ihre inspirierten Schriften zu unserem bleibenden Gewinn besitzen); die anderen bestehen noch, und sie werden durch das treue Haupt ununterbrochen der Versammlung gegeben, „bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,13). Die Absicht bei dem Geben solcher Gaben wird in erster Linie mit der „Vollendung der Heiligen“ erklärt. „Das Werk des Dienstes“ usw. kommt erst nachrangig. Folglich finden wir bei Paulus nicht nur, dass er beabsichtigte, Christus zu predigen und die Menschen zu warnen, sondern er wollte „jeden Menschen vollkommen in Christus darstellen“ (Kol 1,28). Wir sehen auch, welch großen Kampf er um die Heiligen von Kolossä und Laodizäa hatte, „damit ihre Herzen getröstet sein mögen, vereinigt in Liebe und zu allem Reichtum der vollen Gewissheit des Verständnisses, zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes“ („das ist Christus“ wird in einigen Übersetzungen noch hinzugefügt; Kol 2,1.2). Um der Auserwählten erduldete er alles, „damit auch sie die Errettung erlangen, die in Christus Jesus ist, mit ewiger Herrlichkeit“ (2. Tim 2,10). In einer abgeänderten Form hätte auch von dem Apostel Paulus gesagt werden können, was von Christus geschrieben ist: dass er die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat (Eph 5,25); im Hinblick auf Paulus geschah das selbstverständlich nicht in der Weise als Sühnopfer (dies ist allein die Herrlichkeit Christi), sondern in einer selbstaufopfernden Liebe. Er trug die Versammlung und alle ihre Glieder stets auf seinem Herzen vor Gott und ergänzte in seinem Fleisch, „was noch fehlt an den Drangsalen des Christus für seinen Leib, das ist die Versammlung“ (Kol 1,24; 2. Kor 11,28). Ebenso rang Epaphras, der entsprechend seinem Maß dem Paulus gleichgesinnt war, allezeit für die Heiligen in den Gebeten, damit sie vollkommen stehen und völlig überzeugt sein möchten in allem Willen Gottes (Kol 4,12).

Diese treu ergebenen und eifrigen Arbeiter dienten also den Absichten Gottes entsprechend. Sie begehrten nicht nur, Seelen zur Errettung zu führen (obwohl die Errettung erst genossen werden muss, bevor man von Vollendung reden kann), sondern sie wollten die Heiligen um einen göttlichen Mittelpunkt sammeln und ihre Vollendung und Wachstum als Glieder des einen Leibes auf der Erde bewirken. Der Dienst der Evangelisten war genauso wenig unabhängig davon, wie derjenige der Hirten und Lehrer. Sie gingen aus der Mitte der Versammlung aus und sammelten die Seelen in diesen Kreis, damit sie ihren von Gott bestimmten Platz in dem Leib auf Erden finden möchten und in den Wegen Christi vorangeführt werden könnten.

Es ist nicht zu leugnen, dass die Evangelisten in den Tagen, in denen wir leben, einen leichteren und glätteren und beliebteren Weg gefunden haben, indem sie, wie es ausgedrückt worden ist, 'freischaffend' (unabhängig) geworden sind. Solche haben offensichtlich keine Verantwortlichkeiten; sie trachten nach der Errettung von Seelen und lassen diese dann dahin treiben, wo sie wollen, oder wo sie von dem ersten wachsamen Wolf oder verderbten Menschen gefangen werden. So wird ständig Seelen Schaden zugefügt; und wer sorgt sich darum, so lange nur ein ordentlicher Anschein aufrechterhalten wird? Was macht es denn, dass die Glieder Christi im Wachstum verkümmern und in ihren Seelen verhungern, so lange nur die Menschen es gutheißen? Und wie viel der hervorgekehrten Bemühungen werden andererseits bloß unternommen, um die eigene Gruppierung zu stärken und zu vergrößern? Die Seelen werden im Hinblick darauf als nützlich und brauchbar angesehen, dass sie die Mitgliedslisten füllen und die Kassen klingeln lassen. Gehen wir zu weit, wenn wir dies sagen, oder sind diese Dinge nicht ringsumher bedauerlicherweise wahr? Gäbe es doch mehr von solchem Schlag wie Jonathan, der mit Gott gehandelt hat! Gäbe es doch mehr von solchem Schlag wie Timotheus, der von Herzen für den Zustand der Heiligen besorgt war (Phil 2,19.20)! Solche Arbeiter werden jetzt gebraucht; und wer könnte sie zubereiten, als nur das Haupt der Versammlung?