Das Buch Ruth

Kapitel 2

Das Buch Ruth

Ruth, die Ährenleserin

„Wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten... Für den Armen und für den Fremdling sollst du sie lassen“ (3. Mo 19,9.10).

Wenn die Geschichte Ruths in ihrem Anfang (Kap. 1) die rettende Gnade vorbildet, so stellt uns Kapitel 2 die erhaltende Gnade dar. Die Gnade Gottes bringt uns nicht nur das Heil, sondern lehrt uns danach auch, in dieser gegenwärtigen Welt besonnen, gerecht und gottselig zu leben. In dem Maß, wie wir unter die Belehrung der Gnade kommen, machen wir geistliche Fortschritte. Dieses Wachsen in der Gnade oder dieser geistliche Fortschritt ist in diesem Kapitel so schön dargestellt.

Das Geheimnis des Wachsens in der Gnade

„Und Noomi hatte einen Verwandten ihres Mannes, einen vermögenden Mann, aus der Familie Elimelechs, und sein Name war Boas. Und Ruth, die Moabiterin, sprach zu Noomi: Lass mich doch aufs Feld gehen und unter den Ähren lesen hinter dem her, in dessen Augen ich Gnade finden werde. Und sie sprach zu ihr: Geh hin, meine Tochter. Und sie ging hin und kam, und auf dem Feld hinter den Schnittern her las sie auf. Und sie traf zufällig auf das Feldstück des Boas, der aus der Familie Elimelechs war.

Und siehe, Boas kam von Bethlehem und sprach zu den Schnittern: Der HERR sei mit euch! Und sie sprachen zu ihm: Der HERR segne dich! Und Boas sprach zu seinem Knecht, der über die Schnitter bestellt war: Wem gehört dieses Mädchen? Und der Knecht, der über die Schnitter bestellt war, antwortete und sprach: Es ist ein moabitisches Mädchen, das mit Noomi aus den Gebieten von Moab zurückgekehrt ist; und sie sprach: Lass mich doch auflesen und unter den Garben sammeln hinter den Schnittern her! Und so ist sie gekommen und dageblieben vom Morgen an bis jetzt; was sie im Haus gesessen hat, ist wenig“ (2,1–7).

Es ist für einen Neubekehrten wirklich gesegnet, einen guten Anfang zu machen, indem er entschieden mit der Welt bricht und bereit ist, den Pfad des Glaubens in Gemeinschaft mit dem Volk Gottes zu gehen. Ein guter Anfang genügt jedoch nicht. Um auf dem Pfad des Glaubens aufrechterhalten zu bleiben, müssen wir in der Gnade wachsen. Der Apostel Petrus sagt, wenn Christen sich der „Gnade und des Friedens“ im Überfluss erfreuen sollen, wenn sie alle Dinge, die zum Leben und zur Gottseligkeit gehören, genießen wollen und wenn sie dem Verderben, „das in der Welt ist durch die Begierde“, entfliehen möchten, so kann dies nur durch die Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn, geschehen (2. Pet 1,2–4). Deshalb schließt er seinen zweiten Brief mit der Ermahnung: „Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ (2. Pet 3,18).

Obwohl die Korinther gut anfingen, waren sie sehr träge, geistliche Fortschritte zu machen. Sie wurden durch Weltlichkeit und die Weisheit dieser Welt behindert. Die Galater fingen auch gut an, denn der Apostel sagt: „Ihr liefet gut“, doch muss er fragen: „Wer hat euch aufgehalten, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht?“ (Gal 5,7). Das Hindernis war Gesetzlichkeit, indem sie unter den Einfluss falscher Lehrer gekommen waren. So scheinen auch heute viele gut anzufangen und geben zur Hoffnung Anlass, entschiedene Christen zu werden. Aber leider machen sie in ihrem späteren Leben wenig Fortschritte. Sie wachsen nicht in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Sie fallen der Anziehungskraft der Welt zum Opfer und werden weltlich oder sie kommen unter den Einfluss falscher Lehrer und werden gesetzlich.

Dieser Teil der Geschichte Ruths will uns das Geheimnis des Wachsens in der Gnade enthüllen. Ruth wird uns hier offensichtlich als eine Ährenleserin vorgestellt. Im zweiten Vers sagt sie zu Noomi: „Lass mich doch aufs Feld gehen und unter den Ähren lesen.“ In Vers 17 steht: „Und sie las auf dem Feld auf“, und im letzten Vers: „So hielt sie sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen.“

Wachstum durch geistliche Ährenlese

„Und Boas sprach zu Ruth: Hörst du, meine Tochter? Geh nicht, um auf einem anderen Feld aufzulesen, und geh auch nicht von hier weg, sondern halte dich hier zu meinen Mägden. Deine Augen seien auf das Feld gerichtet, das man schneidet, und geh hinter ihnen her; habe ich nicht den Knaben geboten, dich nicht anzutasten? Und wenn du durstig bist, so geh zu den Gefäßen und trink von dem, was die Knaben schöpfen. Da fiel sie auf ihr Angesicht und beugte sich zur Erde nieder und sprach zu ihm: Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest, da ich doch eine Ausländerin bin? Und Boas antwortete und sprach zu ihr: Es ist mir alles genau berichtet worden, was du an deiner Schwiegermutter getan hast nach dem Tod deines Mannes, und dass du deinen Vater und deine Mutter und das Land deiner Geburt verlassen hast und zu einem Volk gezogen bist, das du früher nicht kanntest. Der HERR vergelte dir dein Tun, und voll sei dein Lohn von dem HERRN, dem Gott Israels, unter dessen Flügeln Zuflucht zu suchen du gekommen bist! Und sie sprach: Möge ich Gnade finden in deinen Augen, mein Herr! Denn du hast mich getröstet und hast zum Herzen deiner Magd geredet, und doch bin ich nicht wie eine deiner Mägde“ (2,8–13).

Was ist nun die geistliche Bedeutung des Ährenlesens? Das erste Kapitel des Buches Ruth endet mit der Mitteilung: „Sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte.“ Noomi und Ruth befanden sich inmitten von Überfluss. Doch wie reichlich auch die Ernte sein mag, wir können unseren Hunger nicht davon stillen, es sei denn, dass wir einsammeln. Die Schnitter und die Ährenleser müssen ihre Arbeit tun, sonst werden sie trotz allem Überfluss vor Hunger umkommen. Durch das Ährenlesen sorgte Ruth für ihre und Noomis Bedürfnisse, wobei ihr der HERR der Ernte seine reichen Vorräte zur Verfügung stellte.

Wir dürfen daher wohl sagen, dass sich der Gläubige durch geistliches Ährenlesen geistliche Segnungen aneignet, auf die Gott ihm ein Anrecht gegeben hat. In der Geschichte Israels gab Gott diesem Volk einen absoluten Anspruch auf das Land, dessen Grenzen mit großer Genauigkeit festgesetzt waren. Dessen ungeachtet sagte Gott: „Jeden Ort, auf den eure Fußsohle treten wird – euch habe ich ihn gegeben“ (Jos 1,3). Sie mussten das Land in Besitz nehmen. So konnte auch Paulus mit der größten Zuversicht sagen, dass der Gläubige mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus gesegnet sei. Dies hindert ihn aber nicht, zu beten, dass durch den Geist ein besonderes Werk in dem inneren Menschen geschehe, damit die Heiligen völlig zu erfassen vermöchten, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe all dieser geistlichen Segnungen sei (Eph 3,14–19).

Es war ein wunderbarer Tag in unserem Leben, als der Herr uns zu sich rief und wir lernten, dass unsere Sünden vergeben sind und wir, durch den Heiligen Geist versiegelt, Teilhaber am Erbe der Heiligen in dem Licht geworden sind. Aber obwohl es im Passendsein für die Herrlichkeit kein Wachstum geben kann, sucht der Apostel doch ein Wachstum in der wahren Erkenntnis Gottes (Kol 1,10). Und doch, welch armselige Ährenleser sind wir gewesen! Wie wenig sind wir in die unerschöpflichen Reichtümer Christi eingedrungen!

Wie kommt es nun, dass wir so armselige Ährenleser sind? Rührt es nicht daher, dass diese Arbeit einen Zustand voraussetzt, dem wir nicht immer entsprechen wollen? Das wird uns klar, wenn wir die Eigenschaften beachten, die Ruth zu einer so ausgezeichneten Ährenleserin machten.

  1. Ruth war durch einen Geist der Demut und Unterwürfigkeit gekennzeichnet. Sie sagte zu Noomi: „Lass mich doch ... gehen und ... Ähren lesen“, und später sagte sie zu dem Knecht: „Lass mich doch auflesen.“ Sie handelte nicht unabhängig von anderen, die älter und erfahrener als sie waren. Sie verschmähte nicht Führung und Rat, sie litt nicht unter einem ungebrochenen Eigenwillen, der sie das zu tun antrieb, was in ihren Augen recht war. Petrus sagt: „Ebenso ihr Jüngeren, ordnet euch den Älteren unter. Alle aber seid gegeneinander mit Demut fest umhüllt; denn,Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade'“ (1. Pet 5,5). Unterwürfigkeit und Demut sind durch den Geist Gottes miteinander verbunden. Der Hochmütige liebt es nicht, sich irgendjemandem zu unterwerfen. Der Eigenwille ist das größte Hindernis, um in der Gnade zu wachsen.
  2. Ruth war auch durch Fleiß gekennzeichnet. In Vers 7 lesen wir: „So ist sie gekommen und dageblieben vom Morgen an bis jetzt; was sie im Haus gesessen hat, ist wenig.“ Ferner heißt es im 17. Vers: „Und sie las auf dem Feld auf bis zum Abend.“ Besteht da bei manchen Gläubigen nicht ein großer Mangel an Fleiß in den Belangen Gottes? Wir sind in den Dingen dieser Welt eifrig genug, aber für den Herrn haben wir leider oft nur nebenbei Zeit. Sind wir fleißig im Lesen des Wortes? Sind wir eifrig im Gebet? Wir mögen zu unserer Entschuldigung anführen, dass die Hektik und die Schwierigkeiten des Lebens uns nur wenig Zeit dazu lassen. Doch die Frage ist: Wie bringen wir die knappe Zeit zu, die uns bleibt? In Hebräer 6,11 werden wir ermahnt, Fleiß zu beweisen, und dann wird hinzugefügt: „damit ihr nicht träge werdet, sondern Nachahmer derer, die durch Glauben und Ausharren die Verheißungen ererben“. Wenn wir wünschen, in den Genuss unseres Erbes einzugehen, müssen wir fleißig sein. Kein Wunder, dass wir so wenig geistliche Fortschritte machen, wenn wir Zeit finden, die Tageszeitung sowie Unterhaltungsliteratur dieser Welt zu lesen, aber keine Zeit haben, auf den reichen Gefilden des Wortes Gottes Ähren aufzulesen!
  3. Ruth zeigte Ausdauer. Sie war nicht an einem Tag fleißig und am nächsten träge, sondern „sie hielt sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendet waren“. Tag für Tag las sie Ähren auf, bis zum Ende der Gersten- und Weizenernte. Die Beröer werden uns nicht allein deshalb empfohlen, weil sie die Schriften untersuchten, sondern weil sie dies täglich taten (Apg 17,11). Es ist leicht, einen Tag lang fleißig zu sein, dies aber Tag für Tag zu sein, erfordert Ausharren. „Täglich“ ist ein hartes Wort, das uns auf die Probe stellt. Der Herr sagte zu seinen Jüngern: „Wenn jemand mir nachkommen will, der ... nehme täglich sein Kreuz auf“ (Lk 9,23). Ab und zu eine große Anstrengung unternehmen, um ein heldenhaftes Opfer zu bringen, ist verhältnismäßig leicht, aber Tag für Tag in Ruhe Christus nachfolgen, ist eine Prüfung. Nicht der Mann, der gut anfängt, gewinnt den Lauf, sondern der, der ausharrt.
  4. Schließlich lesen wir, dass Ruth auch „ausschlug, was sie aufgelesen hatte“ (V. 17). Es genügt nicht, die Gersten- und die Weizenähren aufzulesen, sie müssen auch ausgeschlagen werden. Die Wahrheit, die wir „einsammeln“, sei es durch unser persönliches Forschen oder durch den Dienst anderer, muss der Gegenstand des Gebets und des Nachdenkens werden, wenn sie unser geistliches Wachstum fördern soll. Das bloße Erwerben der Wahrheit bläht nur auf. Sie muss in Gemeinschaft mit dem Herrn genossen werden, wenn sie zur weiteren Erkenntnis des Herrn führen soll.

Um also geistliche Fortschritte zu machen, ist ein Seelenzustand nötig, der durch Unterwürfigkeit, Fleiß, Ausharren und Nachdenken gekennzeichnet ist.

Wachstum durch Hilfe von anderen

Obwohl der persönliche Zustand der Seele von größter Wichtigkeit ist, so ist dies doch nicht alles. Da ist auch die Hilfe, die wir von anderen empfangen, um das geistliche Wachstum zu fördern. Wir sehen dies deutlich in den verschiedenen Personen, die uns in diesem Kapitel begegnen. Noomi, die Mägde, die Schnitter, der Knecht, der über die Schnitter gesetzt ist, und endlich der mächtige und reiche Boas; sie alle ziehen an uns vorüber, und alle sind in Verbindung mit Ruth zu betrachten. In mancherlei Weise helfen sie ihr, Ähren aufzulesen. Sie zeigen uns die verschiedenen Mittel, die Christus in Tätigkeit setzt, um bei seinem geliebten Volk das geistliche Wachstum zu fördern.

Hilfe von Noomi

Noomi war schon seit langem mit Boas verwandt und war daher imstande, Ruth zu beraten und ihr Anweisungen zu geben. So gibt es auch heute solche, die schon lange mit Christus verbunden auf dem Glaubensweg sind. Und obwohl sie vielleicht, wie Noomi, versagt haben, sind sie doch durch ihre Erfahrung in der Lage, die jüngeren Gläubigen zu belehren und zu beraten. Noomi stellt kaum eine zum Lehren oder Predigen begabte Person dar, sondern eher eine ältere Gläubige, die, wie wir in Titus 2 lesen, andern ein Vorbild sind, „Lehrerinnen des Guten“, und imstande, die jungen Frauen in Liebe zu unterweisen.

Im Geist dieser Verse legt Noomi keine Schwierigkeiten oder Hindernisse auf Ruths Weg; sie sagt sogleich: „Gehe hin, meine Tochter.“ Sie ermuntert Ruth zu dieser gesegneten Arbeit und als diese von ihrem Tagewerk zurückkehrt, anerkennt sie wohlwollend ihren Erfolg, denn wir lesen: „Sie sah, was sie aufgelesen hatte“ (V. 18). Ferner fragte sie: „Wo hast du heute aufgelesen, und wo hast du gearbeitet?“ (V. 19). Zuletzt erklärt sie Ruth ihr Verhältnis zu Boas und gibt ihr liebevollen Rat für ihr weiteres Auflesen (V. 20.22).

Wie gut wäre es, wenn ein wenig mehr von dem Geist Noomis wirksam wäre, der die älteren Gläubigen antreiben würde, sich um die jüngeren zu kümmern, sie zu ermutigen, von ihrem Wachstum Kenntnis zu nehmen, nach ihrem geistlichen Wohlergehen zu fragen, sie in der Erkenntnis Christi zu unterweisen und ihnen Rat zu geben, wie sie einsammeln sollten.

Hilfe von den Mägden

Auch die Mägde helfen bei dieser gesegneten Arbeit des Ährenlesens. Sie werden in den Versen 8, 22 und 23 erwähnt und sind die Gefährtinnen, mit denen Ruth einsammelt. Sprechen sie nicht im Bild von der köstlichen Gemeinschaft innerhalb des Volkes Gottes, die in so reichem Maß hilft, geistliche Fortschritte zu machen?

Boas warnt Ruth: „Geh nicht, um auf einem anderen Feld aufzulesen, und geh auch nicht von hier weg, sondern halte dich hier zu meinen Mägden.“ Es gibt andere Felder und andere Mägde, aber diese sind Boas fremd. Ob jung oder alt auf dem Pfad des Glaubens, wir tun gut daran, die Warnung Boas zu beachten. Die Welt enthält viele anziehende Felder und kann manchmal sehr angenehme Gesellschaft anbieten; aber die Felder der Welt und ihre eitle Gesellschaft sind nicht von Christus.

In den Tagen der Apostel hatte die Welt nur ein Gefängnis für sie übrig, und nachdem sie die Freiheit wiedererlangt hatten, kehrten die Jünger „zu den Ihren“ zurück (Apg 4,23). Zwangsläufig haben wir es mit Menschen dieser Welt zu tun, sei es im Beruf oder sonst im Alltagsleben, aber in diesen Kreisen können wir uns nicht der kostbaren Gemeinschaft erfreuen und geistliche Fortschritte machen. Das kann nur bei „den Unsrigen“ gefunden werden, im Kreis derer, die dem Herrn angehören.

In den ersten Tagen des Christentums zeigte sich die ungestörte Gemeinschaft des Volkes Gottes in „großer Kraft“ und „großer Gnade“ (Apg 4,33). In Hebräer 10,24.25 werden wir ermahnt: „Lasst uns aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern einander ermuntern, und das um so mehr, je mehr ihr den Tag herannahen seht.“

Die Heiligen sind nicht die Quelle der Liebe und der guten Werke, aber die Gemeinschaft der Heiligen fördert die Liebe und die guten Werke. Der Tag des Gerichts über diese Welt naht heran. Daher tun wir gut, uns von der Gemeinschaft mit dieser Welt zu trennen und unser glückliches Teil bei den „Mägden des Boas“ zu suchen, bei solchen, die unbefleckt sind und ihre Kleider weiß erhalten haben. Je näher der Tag kommt, umso enger sollten wir uns zusammenschließen.

Hilfe von den Schnittern

Auch die Schnitter haben in Verbindung mit Ruth ihren Dienst. Sie treten in Ruth 2,4.5.7.9.21 vor uns. Als Diener Boas zeigen sie uns deutlich die Eigenschaften, die die Diener des Herrn kennzeichnen, deren Sinn darauf gerichtet ist, durch den Dienst dem Volk Gottes zu helfen.

Die erste Notwendigkeit für jeden Diener des Herrn ist die Gegenwart des Herrn. So begrüßt Boas seine Schnitter mit dem schönen Wunsch: „Der HERR sei mit euch!“ (V. 4). Im gleichen Sinn lesen wir in den Tagen des Evangeliums: „Jene aber gingen aus und predigten überall, indem der Herr mitwirkte“ (Mk 16,20).

Um den Dienst Boas wirksam zu vollführen, war es zweitens nötig, dass sie sich dem Knecht, der über die Schnitter gesetzt war, wirklich unterwarfen. Wir haben nicht nur nötig, dass der Herr mit uns ist, sondern wir brauchen auch die Leitung des Heiligen Geistes, jener göttlichen Person, die uns in dem namenlosen Knecht vorgestellt wird (V. 5).

Drittens gehen die Schnitter voran, und Ruth folgt ihnen, denn sie sagt: „Lass mich doch auflesen und unter den Garben sammeln hinter den Schnittern her!“ Die Schrift anerkennt, dass unter dem Volk Gottes solche sind, die geistlich führen, die das Wort Gottes zu uns gesprochen haben und deren Glauben wir nachahmen sollen. Solchen sollen wir gehorchen und uns ihnen unterwerfen, denn sie wachen über unsere Seelen (Heb 13,7.17).

Viertens schöpfen die Knaben – die Diener Boas – Wasser aus den Brunnen. Das Vorrecht Ruths war es, Wasser zu trinken, aber die Verantwortlichkeit der Knaben war, das Wasser zu schöpfen. Nicht alle sind berufen oder dazu fähig, Wasser aus den tiefen Quellen Gottes zu schöpfen. Dagegen können alle vom Wasser trinken, nachdem es in Gefäße abgefüllt worden ist, die ihrer Aufnahmefähigkeit entsprechen. Das Wasser in der Quelle ist für viele außer Reichweite, das Wasser im Gefäß jedoch allen zugänglich. Darum lauten die an Ruth gerichteten Worte: „Geh zu den Gefäßen und trinke.“ Dem Timotheus wird gesagt: „Bedenke dieses sorgfältig; lebe darin.“ Das gleicht sicher dem Schöpfen aus der Quelle. Aber „auf dass deine Fortschritte allen offenbar seien“, das geschah durch das für alle erreichbare Wasser im Gefäß (1. Tim 4,15).

Fünftens empfingen die Schnitter besondere Anweisungen von ihrem Meister, um für ihren Dienst befähigt zu sein. „Boas gebot seinen Knaben und sprach: Auch zwischen den Garben mag sie auflesen, und ihr sollt sie nicht beschämen; und auch sollt ihr selbst aus den Bündeln Ähren für sie herausziehen und sie liegen lassen, damit sie sie auflese, und sollt sie nicht schelten“ (V. 15.16). Die besonderen Bedürfnisse des Einzelnen machen besondere Anweisungen des Herrn nötig. Wie nahe muss der Diener dem Meister sein, wenn er im Lauf seines Dienstes wissen will, wann er für ein besonderes Bedürfnis eine Handvoll Ähren ohne „Beschämung“ und ohne „Scheltworte“ fallen und liegen lassen soll.

Der Herr ist auch hierin, wie in allem anderen, unser vollkommenes Vorbild. Am Auferstehungstag sandte Er eine Botschaft an Petrus, indem Er durch den Engel sagen ließ: „Geht hin, sagt seinen Jüngern und Petrus.“ Heißt das nicht, in unendlicher Vollkommenheit für ein armes, irrendes Schaf eine Handvoll Ähren fallen lassen, und zwar ohne „Beschämung“ und ohne „Scheltwort“ (Mk 16,7)?

Schließlich wird die Arbeit der Schnitter die Ernte beenden; denn Boas weist Ruth an: „Du sollst dich zu meinen Leuten halten, bis sie meine ganze Ernte beendet haben“ (V. 21). Und so wie es mit den Knechten Boas war, so wird es auch mit den Dienern des Herrn sein. Der Apostel benutzt die herrliche Hoffnung, die vor uns steht, um die Diener in ihrem Dienst mit Energie zu erfüllen: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werk des Herrn, da ihr wisst, dass eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn“ (1. Kor 15,58).

Hilfe von dem Knecht über die Schnitter

Der Knecht Boas, der über die Schnitter gesetzt ist, hat ebenfalls seinen Platz in Verbindung mit dem Fortschritt Ruths beim Ährensammeln. Sein Name wird nicht erwähnt. Er wird wenig gesehen, und doch steht er im Namen Boas hinter allem, indem er jeden Schnitter auf dessen Feld beaufsichtigt. Zudem bringt er Ruth in Kontakt mit Boas und redet mit Boas über Ruth. Außerdem ist der Knecht in völliger Übereinstimmung mit Boas. Er erzählt ihm die Wahrheit über Ruth, doch spricht er kein abschätziges Wort über sie und sieht voraus, dass Boas Ruth ermutigen würde, auf seinem Feld Ähren zu lesen.

Er ist bestimmt ein deutliches Vorbild jener erhabenen Person – des Heiligen Geistes, der im Namen Christi von einem verherrlichten Christus herniederkam, um die Interessen Christi zu vertreten. Er spricht nicht von sich selbst, ist für die Welt unsichtbar, aber Er leitet die Diener des Herrn und bringt durch sein gnädiges Werk die Seelen in Verbindung mit Christus. Er ist einer, der in völliger Übereinstimmung mit der Gesinnung und dem Herzen des Vaters und des Sohnes denkt und handelt.

Boas – der vermögende Blutsverwandte

„Und zur Essenszeit sprach Boas zu ihr: Tritt hierher und iss vom Brot und tauche deinen Bissen in den Essig. Da setzte sie sich zur Seite der Schnitter; und er reichte ihr geröstete Körner, und sie aß und wurde satt und ließ übrig. Und sie stand auf, um aufzulesen; und Boas gebot seinen Knaben und sprach: Auch zwischen den Garben mag sie auflesen, und ihr sollt sie nicht beschämen; und ihr sollt sogar aus den Bündeln Ähren für sie herausziehen und sie liegen lassen, damit sie sie auflese, und sollt sie nicht schelten“ (2,14–16).

Zuletzt haben wir Boas, wie er Christus in zweifacher Weise darstellt: erstens in der Herrlichkeit seiner Person und seines Werkes und zweitens in seinem gnädigen Handeln mit uns persönlich.

Persönlich wird Boas als „ein Blutsverwandter“ und als „ein vermögender Mann“ dargestellt. Das Wort „Blutsverwandter“, das im Buch Ruth so oft gebraucht wird, ist anderswo mit Erlöser übersetzt, und dieser Ausdruck gibt uns die wahre Bedeutung des Dienstes des Blutsverwandten. Dieser hatte das Recht und die Macht, seinen Bruder und das Erbe seines Bruders zu lösen, wenn beides in die Hand eines Fremden geraten war.

Durch den Sündenfall hat der Mensch jegliches Recht auf das irdische Erbe verloren, und er selbst ist unter die Macht des Feindes geraten. Als ein schuldiger Sünder ist er dem Tod und dem Gericht ausgesetzt. Weder hat er die Macht, sich selbst zu erlösen, noch kann er die Erde von der Macht der Sünde, des Todes und Satans befreien. Er braucht einen Befreier, einen, der sowohl das Recht als auch die Macht zur Erlösung hat.

Christus ist der große Erlöser, von dem Boas nur ein Bild ist. Er erlöst sein Volk durch Kaufpreis und Macht. Der Preis, den Er bezahlte, war sein eigenes Leben, das Er für uns gab. „Indem ihr wisst, dass ihr nicht mit verweslichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid ..., sondern mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken“ (1. Pet 1,18.19).

Zudem erlöste Er durch Macht, denn nicht nur wurde sein Blut vergossen, sondern Er vernichtete durch die Auferstehung auch die Macht des Todes. Nachdem wir bereits durch Blut erlöst sind, warten wir auf die Erlösung durch Macht, auf jenen Augenblick, da Er diese sterblichen Leiber von jeder Spur der Sterblichkeit befreien und „unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen“ (Phil 3,21).

Schließlich werden wir das Erbe empfangen – einen reichen Besitz, den Er erworben hat –, das Erbe, das Er von der Macht der Sünde und des Todes und der Gewalt Satans erlösen wird und an dessen Genuss wir in Gemeinschaft mit Ihm zum Preise seiner Herrlichkeit teilhaben werden (Eph 1,14).

Doch wir haben in Boas nicht nur das Vorbild der Herrlichkeiten unseres großen Erlösers, sondern auch eine schöne Entfaltung der Gnadenwege des Herrn in seinem Umgang mit uns persönlich.

Boas – sein persönlicher Umgang mit Ruth

„Und sie las auf dem Feld auf bis zum Abend, und sie schlug aus, was sie aufgelesen hatte, und es war etwa ein Epha Gerste. Und sie nahm es auf und kam in die Stadt, und ihre Schwiegermutter sah, was sie aufgelesen hatte; und sie zog hervor und gab ihr, was sie übrig gelassen, nachdem sie sich gesättigt hatte. Da sprach ihre Schwiegermutter zu ihr: Wo hast du heute aufgelesen, und wo hast du gearbeitet? Gesegnet sei, der dich beachtet hat! Und sie teilte ihrer Schwiegermutter mit, bei wem sie gearbeitet hatte, und sprach: Der Name des Mannes, bei dem ich heute gearbeitet habe, ist Boas. Da sprach Noomi zu ihrer Schwiegertochter: Gesegnet sei er von dem HERRN, dessen Güte nicht abgelassen hat von den Lebenden und von den Toten! Und Noomi sprach zu ihr: Der Mann ist nah verwandt mit uns, er ist einer von unseren Blutsverwandten. Und Ruth, die Moabiterin, sprach: Er hat auch zu mir gesagt: Du sollst dich zu meinen Knechten halten, bis sie meine ganze Ernte beendet haben. Und Noomi sprach zu Ruth, ihrer Schwiegertochter: Es ist gut, meine Tochter, dass du mit seinen Mägden ausgehst, damit man dich nicht auf einem anderen Feld anfalle. Und so hielt sie sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendet waren. Und sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter“ (2,17–23).

Es ist unser Vorrecht, nicht nur die Wahrheit über seine Person und sein Werk kennen zu lernen, sondern auch sein gnädiges Handeln zu erfahren, durch das wir zur Erkenntnis seiner selbst geführt werden. Möchten doch alle Gläubigen danach trachten, Christus im Innern ihrer Seele zu erleben – ein Erlebnis, über das sie zu andern nicht viel sagen könnten, das nur Christus und ihrer Seele bekannt ist und in das kein Fremder sich einmischen kann.

Von solch einem persönlichen Umgang haben wir in den Gnadenwegen Boas, einem vermögenden Mann, mit Ruth, der Fremden, ein Schattenbild.

Diese Wege sind durch Gnade und Wahrheit gekennzeichnet und bringen Den vor uns, der voller Gnade und Wahrheit kam. In unserer Schwachheit mögen wir Gnade auf Kosten der Wahrheit zeigen oder Wahrheit auf Kosten der Gnade aufrechtzuerhalten suchen. In Christus finden wir den unendlichen Ausdruck der Gnade bei vollkommener Aufrechterhaltung der Wahrheit.

Mit zarter Rücksichtnahme stellt Boas der Fremden aus Moab seinen ganzen Reichtum zur Verfügung – einer, die gemäß dem Buchstaben des Gesetzes bis ins zehnte Geschlecht nicht in die Versammlung des HERRN kommen durfte (5. Mo 23,3). Seine Felder, seine Mägde, seine Knaben, seine Brunnen, sein Getreide: Alles steht Ruth zur Verfügung. Sie soll auf seinen Feldern bleiben, sich zu seinen Mägden halten, hinter seinen Schnittern her auflesen und aus seiner Quelle trinken. Er erwähnt kein Wort über ihre Herkunft, ihre Fremdlingschaft oder ihre Armut; kein Wort des Vorwurfs betreffs ihrer Vergangenheit, keine Drohungen in Bezug auf die Zukunft, keine Forderungen an sie wegen seiner Großzügigkeit. Alles ist ihr aus überströmender, unumschränkter Gnade gegeben.

Nicht anders handelt Christus mit Sündern wie uns. Gnade stellte einer sündigen Frau an der Quelle von Sichar die besten Gaben des Himmels zur Verfügung; Gnade gebot den Fischen des Sees, einem sündigen Menschen wie Petrus ins Netz zu gehen; und Gnade öffnete dem sterbenden Räuber das Paradies Gottes. So hat die Gnade auch uns mit all den unerforschlichen Reichtümern des Christus gesegnet, und zwar ohne Geld und ohne Kaufpreis.

Doch, wie wir wohl wissen, verdunkeln die Reichtümer der Gnade nicht den Glanz der Wahrheit. Ja, im Gegenteil, die Gnade verlangt nach der Wahrheit. Boas hatte es nicht nötig, diese Fremde an ihre niedrige Herkunft zu erinnern. Sie selbst bekennt die Wahrheit; doch die Gnade Boas' bringt sie zu diesem Bekenntnis. Sie fällt vor ihm auf ihr Angesicht und tritt so zurück im Bewusstsein der Größe der Person, in deren Gegenwart sie ist und der sie all ihre Segnungen verdankt. Durch ihre Frage „Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen?“ anerkennt sie, dass nichts in ihr selbst ist, womit sie solche Gnade verdiente. Und sie gibt zu, dass sie von Natur aus keinerlei Ansprüche an Boas hat, denn sie sagt: „Ich bin eine Fremde.“ In der Gegenwart der Gnade Boas gibt sie ihm seinen wahren Platz und nimmt den ihrigen ein.

Es ist wirklich ein gesegneter Augenblick in unserem Leben, wenn wir, allein in der Gegenwart des Herrn, angesichts der Gnade seines Herzens uns der Verderbtheit unseres Herzens bewusst werden. In einem solchen Augenblick lernen wir, dass, so böse wir sein mögen, doch Gnade in seinem Herzen ist, um dem allem zu begegnen. So tröstete Boas auch Ruths Herz. Sie hatte die Wahrheit bekannt: „Ich bin eine Fremde“, und Boas scheint zu sagen: „Du kannst mir nichts über dich erzählen, was ich nicht schon weiß“, als er ihr entgegnete: „Es ist mir alles wohl berichtet worden, was du ... getan hast“ (V. 11). Da ist keine geheime Furcht mehr in ihrem Herzen, dass eines Tages etwas über ihre Vergangenheit offenbar werden könnte, das Boas veranlassen würde, die Gaben seiner Gnade zurückzuziehen. Freigemacht von solcher Furcht kann sie sagen: „Du hast mich getröstet und hast zum Herzen deiner Magd geredet.“ Nichts berührt, gewinnt und tröstet das Herz mehr, als in der Gegenwart des Herrn zu erfahren, dass Er alles weiß und mich trotzdem liebt.

Damit wird jedoch dieser Teil der Geschichte Ruths nicht beendet. Boas hat Gnade erwiesen und Ruth hat die Wahrheit bekannt, und das hat dem Gewissen wirklichen Frieden und dem Herzen Freude gebracht, aber das ist nicht alles. Boas ist nicht damit zufrieden, Ruth Befreiung gebracht zu haben, um sie dann mit einem von Dankbarkeit erfüllten Herzen allein zu lassen. Selbst wenn das ihr Herz befriedigt hätte, so genügte es doch seinem Herzen nicht.

Wenn sie auch keine weiteren Segnungen erwartete, er hatte noch mehr zu geben. Boas ist nicht zufrieden ohne die Gemeinschaft mit der einen, zu deren Herzen er gesprochen hat. Daher sagt er zu ihr: „Tritt hierher!“ Und handelt der Herr nicht in einem tieferen Sinn ebenso mit uns? Wenn Er unsere Furcht wegnimmt, zu unserem Herzen spricht und unsere Zuneigung gewinnt, so geschieht dies, um mit uns Gemeinschaft zu haben.

Liebe ist nicht zufrieden ohne die Gemeinschaft mit dem, der geliebt wird. Darum starb Er, damit wir, sei es, dass wir wachen oder schlafen, zusammen mit Ihm leben möchten. Glücklich sind wir deshalb, wenn auch wir seine gnädige Einladung hören und beachten: „Tritt hierher!“

So kam es, dass sich Ruth in Gemeinschaft mit Menschen niedersetzte, die sie bis dahin nicht kannte. Doch wenn sie sich „zur Seite der Schnitter niedersetzte“, so tat sie es in Gemeinschaft mit Boas, denn wir lesen: „Er reichte ihr geröstete Körner.“

Welch ein Glück für uns, wenn wir uns in Gemeinschaft mit dem Volk Gottes niedersetzen, indem wir uns der Gegenwart des Herrn selbst bewusst sind. Dann werden wir uns tatsächlich vom Korn des Landes nähren. Wir werden, wie Ruth, „satt werden“ und „übrig lassen“ (V. 14). In seiner Gegenwart werden unsere Seelen genährt und unsere Herzen befriedigt, und das befriedigte Herz vermag aus seiner Fülle auch anderen zu geben.

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