Einführender Vortrag zum Römerbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Römerbrief

Von Anfang an enthüllen sich uns im Römerbrief diese Kennzeichen. Der Apostel schreibt mit voller Gewißheit seiner apostolischen Würde, aber auch als ein Knecht. „Paulus, Knecht Jesu Christi“ - als Apostel berufen, nicht geboren (V. 1). Noch weniger wurde er dazu erzogen oder von Menschen eingesetzt. Er war ein „berufener Apostel“, wie er sagt, „abgesondert zum Evangelium Gottes (welches er durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen hat).“  Die Beziehung zu dem, was Gott von alters her eingeführt hatte, wird völlig anerkannt. Keine neuen Offenbarungen seitens Gottes können die ihnen voraufgehenden annullieren. Wie die Propheten auf das Kommende vorausblickten, so wird das Evangelium, nachdem es gekommen ist, vom Alten gestützt. Sie bestätigen sich wechselseitig. Trotzdem ist das, was ist, keineswegs dasselbe wie das Vergangene oder das Zukünftige. Die Vergangenheit bereitete den Weg, wie hier gesagt wird: „Welches er durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen hat, über seinen Sohn [hier finden wir das große Zentralthema des Evangeliums Gottes, nämlich die Person Christi, Gottes Sohn], der aus dem Samen Davids gekommen ist dem Fleische nach“ (V. 2–3). Die letzte Beziehung folgt unmittelbar dem prophetischen Zeugnis; und Jesus war dementsprechend gekommen. Er war der verheißene Messias, der geborene König der Juden.

In Jesus finden wir indessen noch mehr. Er war „erwiesen“, wie der Apostel schreibt, „als Sohn Gottes in Kraft ... dem Geiste der Heiligkeit nach durch Totenauferstehung“ (V. 4). Er war der Sohn Gottes nicht allein in Hinsicht auf seine Handlungsweise mit den Mächten der Erde als Jahwes König auf seinem heiligen Berg Zion (vergl. Ps 2), sondern in einer weit tiefgründigeren Weise. Denn indem Er mit der Herrlichkeit Gottes des Vaters notwendigerweise aufs Innigste in Verbindung steht, ist es auch sein Teil, die Seelen vollkommen aus dem Bereich des Todes zu befreien. Im Zusammenhang mit diesen Wahrheiten lesen wir auch von dem gesegneten Anteil des Geistes Gottes, der hier aus besonderen Gründen kennzeichnend der „Geist der Heiligkeit“  genannt wird. Dieselbe Kraft des Heiligen Geistes, welche sich in Jesus entfaltete, während Er in Heiligkeit über die Erde wandelte, zeigte sich auch in der Auferstehung. Das gilt nicht nur für seine eigene Auferweckung aus den Toten, sondern zweifellos für jede Auferweckung überhaupt, obwohl sich die Kraft des Geistes natürlich am auffallendsten und triumphierendsten bei der Auferstehung des Herrn entfaltet hat.

Die Bedeutung dieser Wahrheiten für den Inhalt und die Hauptlehre unseres Briefs wird bald im reichen Maß vor unsere Augen treten. Laßt mich im Vorbeigehen noch auf einige Punkte mehr in dieser Einleitung hinweisen, um sie mit dem, was der Heilige Geist den römischen Erlösten darreichen will, zu verknüpfen! Außerdem erweist sich auf diese Weise auch die bewundernswerte Vollkommenheit eines jeden Wortes, welches die Inspiration uns gegeben hat. Dabei spreche ich jetzt nicht ausschließlich von der Wahrheit des Römerbriefs, sondern zusätzlich davon, wie alles so ausgezeichnet zueinander passt. Schon die einführende Anrede beginnt mit dem zugrunde liegenden Thema und deutet jene allgemeine Linie der Wahrheit an, welche der Heilige Geist durch den Brief hindurch verfolgen will. Zu dieser gelangt dann der Apostel, nachdem er von der göttlichen Gunst geschrieben hat, die ihm sowohl als Sünder als auch in seiner eigenen besonderen Stellung im Dienst des Herrn Jesus zuteilgeworden war. „Durch welchen wir Gnade und Apostelamt empfangen haben für seinen Namen zum Glaubensgehorsam“ (V. 5). Das war kein gesetzlicher Gehorsam, obwohl das Gesetz von Jahwe kam. Paulus' Freude und Rühmen war im Evangelium Gottes. Folglich wandte es sich an den Glaubensgehorsam. Damit ist nicht der praktische Gesichtspunkt gemeint, noch weniger wird ein Maß für die Pflicht des Menschen gegeben. Es geht hier um die Wurzel aller Praxis – Glaubensgehorsam – Gehorsam von Herz und Wille, welche durch die göttliche Gnade erneuert sind und die Wahrheit Gottes annehmen. Für einen Menschen ist dies die schwierigste Form des Gehorsams. Doch wenn wir diesen für uns persönlich verwirklicht haben, führt er uns auf friedevolle Weise in den tagtäglichen Gehorsam ein. Falls wir ihn indessen vernachlässigen, wie es nur zu oft in unseren Seelen geschieht, wird unabdingbar unser praktischer Gehorsam lahm, hinkend und blind.

Zu diesem Zweck beschreibt Paulus sich als Apostel; und hinsichtlich des Glaubensgehorsams sagt er, dass dieser in keinster Weise auf das jüdische Volk beschränkt sei. „Für seinen [Christi] Namen ... unter allen Nationen, unter welchen auch ihr seid, Berufene Jesu Christi.“  Er liebte es, sogar hier am Anfang die Weite der Gnade Gottes zu zeigen. Wie  er berufen war, so auch sie – er als Apostel, sie nicht als Apostel, aber als Heilige. Doch strömte sowohl für sie als auch für ihn alles aus derselben gewaltigen Liebe Gottes hervor. „Allen Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind“ (V. 7). Ihnen wünschte der Apostel, wie es sein ständiger Wunsch war, einen frischen Ausfluss aus jener Quelle und jenem Strom der göttlichen Segnung, welche Christus sozusagen zum täglichen Brot für uns gemacht hat: „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“

Danach, von Vers 8 an, nachdem Paulus Gott durch Jesus für den Glauben der römischen Christen gedankt, weil von ihrem Glauben überall in der ganzen Welt gesprochen wurde, und er auf seine Gebete für sie hingewiesen hatte, stellte er kurz vor, welches Verlangen ihretwegen in seinem Herzen wohnte: Seine langgehegte Hoffnung, der Gnade des Evangeliums entsprechend auch Rom zu besuchen. In der Liebe Gottes vertraute er darauf, dass durch ihn den dortigen Erlösten „etwas geistliche Gnadengabe“ zu ihrer Befestigung mitgeteilt werden könnte. Entsprechend dem Geist der Gnade, welcher sein Herz erfüllte, erwartete Paulus, dass auch  er mit ihnen zusammen getröstet würde, „ein jeder durch den Glauben, der in dem anderen ist, sowohl euren als meinen“ (V. 12). Nichts kann so sehr wahre Demut hervorbringen wie die Gnade Gottes – eine Demut, die nicht nur auf das niedrigste Niveau eines Sünders hinuntersteigt, um ihm Gutes zu erweisen, sondern die auch selbst eine Frucht der Befreiung ist von jener Selbstliebe, die sich aufbläht und andere herabsetzt. Beachte die gemeinsame Freude, welche die Gnade einem Apostel zusammen mit Erlösten gibt, die er niemals gesehen hat, sodass sogar er genauso wie sie getröstet wird durch ihren gemeinsamen Glauben! Er wollte daher nicht, dass ihnen unbekannt wäre, wir sehr ein Besuch bei ihnen auf seinem Herzen lag. Er war ein Schuldner sowohl der Griechen als auch der Barbaren, sowohl der Weisen als auch der Unverständigen. Soweit es ihn betraf, war er bereit, das Evangelium den Römern zu verkündigen. Auch die Erlösten dort sollten vom Evangelium Nutzen haben. Paulus sprach nicht einfach von „denen in Rom“, sondern von „euch, die ihr in Rom seid“ (V. 15). Die Annahme ist demnach falsch, dass die Gläubigen durch eine bessere Kenntnis des Evangeliums – jedenfalls wie Paulus es predigte – keinen Gewinn haben. So schrieb er ihnen hier, warum er nicht nur von den fortgeschrittenen Wahrheiten, sondern sogar von der guten Botschaft in einer so nachdrücklichen Weise sprach. „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen.“

Beachten wir: Das Evangelium ist nicht nur Vergebung der Sünden bzw. Frieden mit Gott, sondern auch „Gottes Kraft zum Heil.“  Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, allen hier Anwesenden ernstlich aufs Herz zu legen, sich vor zu engen Vorstellungen über das „Heil“ zu hüten. Achten wir darauf, diesen Begriff nicht mit der Tatsache zu verwechseln, dass Seelen zum Leben erweckt oder sogar in die Freude geführt wurden. Das Heil schließt nicht allein diese, sondern viele andere Wahrheiten ein. Es gibt wohl kaum eine Ausdrucksweise, welche Seelen in dieser Sache mehr Schaden zufügt als eine verschwommene Art, über das Heil zu sprechen. „Auf jeden Fall ist er errettet“, hören wir oft. „Jener Mann hat noch keineswegs gefestigten Frieden mit Gott. Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal, dass seine Sünden vergeben sind. Aber wenigstens ist er eine erlöste Seele!“ Letzteres ist ein Beispiel von jener tadelnswerten Gewohnheit. Genau dies meint der Ausdruck „Heil“  nicht. Ich möchte diese Wahrheit ernst allen Zuhörern auf die Seele legen – vor allem solchen, die mit dem Werk des Herrn zu tun haben und natürlich von dem brennenden Wunsch erfüllt sind, mit Verständnis zu arbeiten. Das gilt nicht nur in Hinsicht auf die Bekehrung, sondern auch für die Festigung und Befreiung von Seelen. Nichts Geringeres, davon bin ich überzeugt, als diese volle Segnung ist die Linie, welche Gott jenen Gläubigen gegeben hat, die Christus außerhalb des Lagers gefolgt sind. Indem sie von den beengten Wegen der Menschen befreit worden sind, suchen sie in die Größe und zur gleichen Zeit tiefgründige Weisheit eines jeden Wortes Gottes einzudringen. Lasst uns nicht schon gleich am Ausgangspunkt stolpern! Lassen wir dem Ausdruck „Heil“ im Evangelium seine wahre und tiefe Bedeutung!

Wir brauchen nicht dabei zu verweilen, wie das Wort „Heil“ im Alten Testament und einigen Teilen des Neuen, z. B. in den Evangelien oder besonders der „Offenbarung“, angewandt wird. Dort spricht es von der Befreiung in Macht oder sogar durch die Vorsehung und von gegenwärtigen (irdischen) Umständen. Ich beschränke mich auf die lehrmäßige und volle christliche Bedeutung des Wortes. Ich bestehe darauf, dass der Begriff „Heil“ jene Errettung für den Gläubigen beinhaltet, welche das Ergebnis des gewaltigen Werkes Christi darstellt. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir dieses Werk entsprechend all seiner Tiefen in den Augen Gottes begreifen. Auf jeden Fall wird es durch die Kraft des Heiligen Geistes auf eine Seele angewandt. Es spricht nicht von dem Aufwecken des Gewissens, wie echt es auch sein mag, auch nicht von dem Angezogenwerden des Herzens durch die Gnade Christi, wie gesegnet auch immer. Wir sollten deshalb im Gedächtnis behalten, dass wir weit davon entfernt sind, das Evangelium so zu verkündigen wie der Apostel Paulus, der sich desselben rühmt und sich über seine Ausbreitung freut, wenn eine Seele nicht in eine bewusste Befreiung als Frucht einer gottgemäßen Belehrung, gegründet auf das Werk Christi, geführt wird. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht usw.“

Paulus begründet seine Auffassung: „Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ (V. 17). Das heißt: Die Kraft Gottes wirkt zum Heil, nicht wegen ihres Sieges, sondern weil sie „Gottes Gerechtigkeit“ ist. Beruhte das Heil auf dem Sieg, würde, falls möglich, schon vom Anfang des geistlichen Weges einer Seele an allein dem Menschen Bedeutung zugemessen; und das kann nicht sein, denn es geht um „Gottes Gerechtigkeit“. Wir lesen nichts davon, dass Gott Gerechtigkeit sucht oder der Mensch diese bringt. Stattdessen wird im Evangelium Gottes Gerechtigkeit  geoffenbart. So beginnt die Einleitung des Römerbriefs mit der Person Christi und endet mit der Gerechtigkeit Gottes. Das Gesetz forderte Gerechtigkeit vom Menschen, konnte diese jedoch nie entgegennehmen. Christus ist gekommen und hat alles verändert. Gott offenbart eine eigene Gerechtigkeit im Evangelium. Er verkündet jetzt eine Gerechtigkeit  an die Menschen, anstatt eine solche  von den Menschen zu fordern. Zweifellos gibt es Früchte der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus bewirkt werden, und Gott würdigt sie, sofern sie, wie ich sagen möchte, nicht von Menschen, sondern von seinen Erlösten stammen. Doch hier finden wir das, was nach der Lehre des Apostels Gott für den Menschen hat. Natürlich sind es die Gläubigen, die dies wissen sollen. Aber es geht um eine Handlungsweise Gottes, die sich in der ihr eigenen Kraft und ihrem notwendigen Ziel dem Bedürfnis des Menschen von Natur zuwendet – eine göttliche Gerechtigkeit, welche den Glaubenden rechtfertigt, anstatt ihn zu verdammen. Es ist „Gottes Kraft zum Heil.“  Folglich wirkt sie zugunsten der Verlorenen, denn gerade sie benötigen das Heil; und sie sollen – nicht nur lebendig gemacht, sondern – errettet werden. Das geschieht, weil im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird.

Daher geschieht, wie der Apostel sagt, diese Offenbarung  „aus Glauben“. Das ist derselbe Ausdruck wie am Anfang von Römer 5: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind  aus Glauben.“  Doch außerdem fügt er hinzu: „Zu Glauben.“  Der erste dieser Ausdrücke („aus Glauben“) schließt das Gesetz aus, der zweite („zu Glauben“) schließt jeden ein, der innerhalb des Bereichs der Gerechtigkeit Gottes Glauben besitzt. Die Rechtfertigung geschieht nicht durch Werke des Gesetzes. Die Gerechtigkeit Gottes wird offenbart aus  Glauben. Falls sich also in irgendeiner Seele Glauben zeigt, wird Gottes Gerechtigkeit ihr offenbart – dem Glauben, wo immer er auch sei. Darum ist sie auch keineswegs auf eine besondere Nation beschränkt, wie es früher unter dem Gesetz und der Regierung Gottes der Fall war. Diese Botschaft ging aus von Gott an den Sünder als solchen. Der Mensch mag sein, was er ist und wo er ist; Gottes gute Botschaft ist für ihn. Damit stimmt auch das Zeugnis des Propheten überein: „Der Gerechte aber wird aus Glauben [und nicht aus dem Gesetz] leben.“  Selbst dort, wo das Gesetz zu finden war, lebte der Gerechte nicht durch das Gesetz, sondern aus Glauben. Glaubten Heiden? Auch sie sollten dann leben. Ohne Glauben gibt es weder Gerechtigkeit noch Leben, welche Gott anerkennt. Wo Glauben zu finden ist, wird alles Übrige gewiss bald folgen.

Das lenkt den Apostel zum ersten Teil seiner großen Beweisführung, und zwar zuerst zu einer Art Vorbereitung. Wir verlassen jetzt die Einleitung des Briefs. „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“ (V. 18). Das ist es, was das Evangelium so lieblich und kostbar macht und darüber hinaus unbedingt notwendig, wenn der Mensch seinem sicheren und ewigen Ruin entgehen soll. Eine andere Hoffnung gibt es für ihn nicht; denn es ist nicht allein das Evangelium, welches jetzt bekannt gemacht wird, sondern auch sein  Zorn. Es wird nicht gesagt, dass letzterer im  Evangelium geoffenbart wird. Das Evangelium ist Gottes gute Botschaft für den Menschen. Der Zorn Gottes kann selbstverständlich keine gute Botschaft sein. Er ist wahr; der Mensch muss unbedingt davon erfahren; doch er ist keineswegs eine gute Botschaft. Es gibt also außerdem noch die ernste Wahrheit vom Zorn Gottes. Er wird noch nicht ausgeübt. Er ist jedoch „geoffenbart“, und zwar „vom Himmel her.“  Er betrifft demnach nicht ein Volk auf der Erde und spricht nicht von dem Zorn Gottes, der in der einen oder anderen Weise über das menschliche Böse in diesem Leben hereinbricht. Mit solchen Handlungen Gottes waren in vergangenen Zeiten sowohl die ganze Erde als auch im besonderen die jüdische Nation vertraut. Jetzt geht es um „Gottes Zorn vom Himmel her.“  Folglich spricht unser Vers von ewigen Dingen und nicht von solchen, die das gegenwärtige Leben auf der Erde betreffen.

Wenn sich Gottes Zorn vom Himmel her offenbart, dann offenbart er sich gegen jede Form von fehlender Gottesfurcht – „alle Gottlosigkeit.“ Außer diesem offensichtlich sehr umfassenden Ausdruck, um jede Art und jedes Maß menschlicher Schlechtigkeit einzuschließen, wird eine davon besonders genannt. Das ist die „Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen.“  Ein Festhalten an der Wahrheit in Ungerechtigkeit bedeutet in keinster Weise Sicherheit. Ach, wir wissen, wie dies in Israel der Fall war und später und bis heute in der Christenheit! Gott spricht sein Urteil gegen die Ungerechtigkeit solcher Menschen. Denn wenn die Erkenntnis der offenbarten Gedanken Gottes, so richtig sie auch sein mag, nicht von einer Erneuerung des Herzens begleitet wird, d. h. ohne Leben aus Gott bleibt, muss alles vergeblich sein. Die Erkenntnis der Wahrheit verschlimmert den Zustand des Menschen entschieden, auch wenn er in Ungerechtigkeit die Wahrheit unbedingt festhält. Manche finden eine Schwierigkeit in dem Wort „besitzen“, denn es spricht ja von einem festen Besitz. Es ist indessen für einen Unbekehrten durchaus möglich, zäh an der Wahrheit festzuhalten und dennoch in seinen Wegen ungerecht zu sein. Das macht seine Lage nur noch schlimmer. Gott handelt nicht auf solche Weise mit den Seelen. Wenn seine Gnade einen Menschen zu sich zieht, demütigt Gottes Wahrheit letzteren und lässt keinen Raum für nutzloses Rühmen und Selbstvertrauen. Gott durchbohrt und ergründet das Gewissen eines solchen Menschen. Wir dürfen vielleicht sagen, dass Gott auf diese Weise den  Menschen hält und keineswegs den Eindruck zulässt, als halte dieser die Wahrheit fest. Gott beschäftigt sich mit dem inneren Menschen, welcher durch und durch erforscht wird.

Davon hören wir nichts bei den Menschen, mit denen sich unser Vers beschäftigt. Es handelt sich einfach um Menschen, die sich mit ihrer Rechtgläubigkeit (Orthodoxie) brüsten, ohne wirklich in ihrem Innern erneuert zu sein. Seitdem die Wahrheit in unsere Welt hineinscheint, hat es nie an solchen Menschen gefehlt. Daher finden wir sie auch heute noch. Aber der vom Himmel offenbarte Zorn Gottes richtet sich vor allem gegen sie. Die Gerichte Gottes werden auf den Menschen als solchen herabfallen; die schwersten Schläge sind jedoch für die Christenheit bestimmt. Sie hält die Wahrheit fest und offensichtlich auch mit Kraft. Das wird indessen bald auf die Probe gestellt. Gegenwärtig hingegen hält sie noch fest, wenn auch in Ungerechtigkeit. 1 So wird also der Zorn Gottes vom Himmel her offenbart gegen die rechtgläubige (orthodoxe) Ungerechtigkeit jener, „welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“, und nicht nur gegen die offene Ungerechtigkeit der Menschen.

Das führt den Apostel zur sittlichen Geschichte des Menschen sowie zum Nachweis, wie unentschuldbar seine Schuld und wie außerordentlich notwendig eine Erlösung für ihn ist. Er beginnt mit jenem großen Zeitabschnitt der Haushaltungen Gottes, d. h. mit den Zeitaltern nach der Sintflut. Wir können hinsichtlich des Zustands der Dinge vor der Flut nicht von einer Haushaltung sprechen. Es geschah die außerordentlich wichtige Erprobung des Menschen in der Person Adams. Doch danach – welche Haushaltung bestand da? Was waren ihre Grundsätze? Kein Mensch vermag es zu sagen. In Wahrheit irren sich jene, welche diese Zeit eine „Haushaltung“ nennen. Nach der Flut hingegen wurde der Mensch als solcher bestimmten Verpflichtungen unterworfen, und zwar die ganze Rasse. Zunächst wurde der Mensch ein Gegenstand der allgemeinen Handlungsweise Gottes in Noah, danach seiner besonderen Wege in der Berufung Abrahams und seiner Familie. Und zudem: Es war das Abirren der Menschheit in den Götzendienst, das zur Berufung Abrahams führte. Von diesem Mann lesen wir viel im Brief an die Römer und sonstwo. Zuerst verachtete der Mensch das äußere Zeugnis Gottes, seine ewige Kraft und Göttlichkeit, in der Schöpfung über und um sich (V. 19–20). Darüber hinaus gab er die Erkenntnis Gottes auf, welche vom Vater auf den Sohn weiter gegeben wurde (V. 21).

Der Niedergang des Menschen, nachdem er so Gott verlassen hatte, war sehr schnell und tiefgehend. Der Heilige Geist verfolgt diesen Weg in ernstester Weise bis zum Ende von Kapitel 1, ohne ein Wort zu viel zu sagen. In einigen wenigen kräftigen Pinselstrichen fasst Er das zusammen, was uns in überreichem Maß (doch in wie anders gearteter Darstellung!) durch alle Überbleibsel der antiken Welt bestätigt wird. „Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes von einem verweslichen Menschen ...“ (V. 22–32). Damit überwucherte die Verderbnis nicht nur jegliche Sittlichkeit, sondern sie wurde sogar ein wesentlicher Bestandteil der Religion der Menschen, indem sie scheinbar eine göttliche Bestätigung erhielt. Demzufolge wurde die Verworfenheit der Heiden wenig oder überhaupt nicht vom Gewissen gezügelt, weil sie mit allem verbunden war, was in ihren Augen die Gestalt Gottes angenommen hatte. Keine Bestandteile des Heidentums waren, wenn wir sie von einem praktischen Gesichtspunkt aus betrachten, so die Verdorbenheit fördernd wie jene, die mit den Gegenständen ihrer Anbetung zu tun hatten. So verloren die Menschen den wahren Gott und somit alles; und ihr abwärts führender Weg wurde ein sehr schmerzlicher und demütigender. Dieser wird nach unserem Empfinden möglicherweise nur noch davon übertroffen, dass der Mensch ohne Erneuerung des Herzens im Stolz seiner Gesinnung sich für die Wahrheit verbunden mit nichts anderem als Ungerechtigkeit einsetzt.

Fußnoten

  • 1 Anm. d. Übers.: Das galt damals, als Kelly seine Vorträge hielt (1868). Wenn wir sehen, wie die bekennende Christenheit die Wahrheiten des Wortes Gottes bereitwillig aufgibt, dürfen wir wohl sagen, dass wir uns heute in dieser Zeit der Erprobung befinden.
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