Betrachtungen über das fünfte Buch Mose

Die drei Hauptfeste des Jahres

Betrachtungen über das fünfte Buch Mose

Wir haben jetzt einen der inhaltsreichsten und umfassendsten Abschnitte des fünften Buches Mose erreicht, der die drei Hauptfeste des jüdischen Jahres beschreibt: das Passahfest, das Pfingstfest und das Laubhüttenfest und damit die Erlösung, das Herniederkommen des Heiligen Geistes und die Herrlichkeit. Die Feste werden hier kürzer zusammengefasst als in 3. Mose 23, wo wir, wenn wir den Sabbat nicht mitzählen, sieben Feste finden, nämlich das Passah, das Fest der ungesäuerten Brote, das Fest der Erstlingsgarbe, das Pfingstfest, das Fest des Posaunenhalls, den Versöhnungstag und das Fest der Laubhütten.

Das ist die Ordnung der Feste in dem Buch, das wir als „den Führer des Priesters“ bezeichnen können. Im fünften Buch Mose dagegen, das mehr das Buch des Volkes ist, finden wir weniger von den zeremoniellen Einzelheiten, und der Gesetzgeber beschränkt sich mehr auf die großen sittlichen und nationalen Marksteine, die dem Volk in der einfachsten Weise die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Gedächtnis riefen.

Das Passah

Da wir in unseren „Gedanken zum zweiten Buch Mose“ die leitenden Prinzipien des grundlegenden Passahfestes, mit dem sich die ersten acht Verse des vorliegenden Kapitels beschäftigen, ausführlich behandelt haben, begnügen wir uns hier mit einem Hinweis darauf und zeigen im Übrigen einige besondere, dem fünften Buch Mose eigentümliche Züge auf. Zunächst wird besonders nachdrücklich der Ort, wo das Fest gefeiert werden musste, bezeichnet. Das ist äußerst interessant und bedeutsam. Nach menschlicher Meinung mochte es nebensächlich erscheinen, wo das Fest gefeiert wurde. Aber Gottes Gedanken waren anders. Menschliche Meinungen gelten nichts, wenn es sich um die Gedanken und die Autorität Gottes handelt. Dreimal nacheinander heißt es in unserem Abschnitt: „an dem Ort, den der HERR, dein Gott, erwählen wird“.

Das ist sicher keine einfache Wiederholung. Der Nachdruck war wegen unserer Unwissenheit, Gleichgültigkeit und unseres Eigenwillens durchaus notwendig. Gott ist in seiner Güte bemüht, dem Herzen, Gewissen und Verständnis seines Volkes den Ort einzuprägen, wo das bedeutungsvolle Fest des Passah gefeiert werden sollte. Und wir machen nochmals darauf aufmerksam, dass nur im fünften Buch Mose auf diesem Ort der Feier bestanden wird, während wir im zweiten keine Vorschriften darüber finden, weil es dort in Ägypten gefeiert wurde. Auch im vierten Buch wird nichts über den Ort gesagt, weil es sich dort um eine Feier in der Wüste handelt. Aber im fünften wird er mit aller Bestimmtheit und Autorität festgestellt, weil hier die Unterweisungen für das Land gegeben werden. Wieder ein schlagender Beweis dafür, dass dieses Buch seinen eigenen besonderen Platz und Zweck erfüllt.

Ungesäuertes Brot – Das Brot des Elends

So viel über den Ort. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Art und Weise der Feier. Auch diese ist, wie zu erwarten, kennzeichnend für unser Buch. Der hervorragendste Charakterzug ist hier das „ungesäuerte Brot“, und zwar wird es bemerkenswerterweise das „Brot des Elends“ (V. 3) genannt. Und warum? Bekanntlich ist das ungesäuerte Brot ein Bild der inneren und äußeren Heiligkeit, die so wesentlich für den Genuss einer wahren Gemeinschaft mit Gott ist. Wir sind nicht errettet durch persönliche Heiligkeit, wohl aber für sie. Sie bildet nicht die Grundlage unserer Errettung, aber ein wesentliches Element unserer Gemeinschaft. Eine bewusste Zulassung von Sauerteig bedeutet das Ende jeder Gemeinschaft und Anbetung.

Wir dürfen dieses wichtige Prinzip nie aus dem Auge verlieren, so lange wir auf der Erde leben und unserer ewigen Ruhe in den Himmeln entgegengehen. Von Gemeinschaft und Anbetung zu reden, während man in einer erkannten Sünde lebt, ist nur ein trauriger Beweis dafür, dass man weder das eine noch das andere kennt. Um wirklich uns der Gemeinschaft mit Gott oder mit den Heiligen zu erfreuen und um Gott in Geist und Wahrheit anbeten zu können, müssen wir ein Leben persönlicher Heiligkeit und wirklicher Trennung von allem Bösen führen. Wollten wir unseren Platz in der Versammlung Gottes einnehmen und an der Gemeinschaft und Anbetung der Gläubigen teilnehmen, während wir in geheimen Sünden lebten oder das Böse bei anderen stillschweigend zuließen, so würden wir dadurch die Versammlung verunreinigen, den Heiligen Geist betrüben, gegen Christus sündigen und uns selbst unter das Gericht Gottes bringen, der sein Haus jetzt richtet und seine Kinder züchtigt, damit sie nicht mit der Welt verurteilt werden.

Alles das ist ernst und verlangt eingehende Beachtung von allen, die wirklich mit Gott wandeln und ihm mit Ehrfurcht und Frömmigkeit dienen wollen. Ein Verständnis über die Belehrungen in diesen Vorbildern zu haben und ihre großen moralischen Lektionen ins Herz aufzunehmen und im Leben zu verwirklichen, sind zwei verschiedene Dinge. Möchten alle, die bekennen, mit dem Blut des Lammes besprengt zu sein, das Fest der ungesäuerten Brote zu halten suchen (1. Kor 5,6–8)!

Aber was haben wir unter dem „Brot des Elends“ zu verstehen? Sollten wir in Verbindung mit einem Fest, das zur Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft und dem Elend Ägyptens gefeiert wurde, nicht eher Freude und Lobgesänge erwarten? Ohne Zweifel ist die Verwirklichung unserer Befreiung von unserem früheren Zustand und seinen Folgen mit wirklicher Freude, mit Dank und Anbetung verbunden. Aber offenbar waren das nicht die vorherrschenden Charakterzüge des Passahfestes, ja, diese Dinge werden nicht einmal genannt. Wir hören von dem „Brot des Elends“, aber kein Wort von Freude oder von Lob und Triumphgesängen. In dieser Tatsache liegt eine wichtige Belehrung für uns. Sie deutet auf die tiefen Herzensübungen hin, die der Heilige Geist durch die Erinnerung in uns bewirkt, dass unser Herr und Heiland für uns gelitten hat, um uns von unseren Sünden und dem Gericht über sie zu befreien. Auch in 2. Mose 12 sind diese Übungen vorbildlich durch die „bitteren Kräuter“ dargestellt, und wieder und wieder werden sie uns in der Geschichte der Gläubigen des Alten Bundes gezeigt, wenn diese durch die mächtige Wirkung des Geistes und des Wortes Gottes dahin geführt wurden, in der Gegenwart Gottes „ihre Seelen zu kasteien“ (vgl. 3. Mo 16,29).

Diese heiligen Übungen waren also nicht etwa eine Folge von Gesetzlichkeit oder Unglauben. Bei Weitem nicht! Drückte ein Israelit dadurch, dass er von dem Brot des Elends und dem gebratenen Fleisch des Passahlammes aß, irgendwelche Zweifel oder Befürchtungen über seine Befreiung aus Ägypten aus? Unmöglich! Er war ja bereits im Land der Verheißung und war mit dem Volk in der Gegenwart Gottes versammelt. Wie hätte er daher an seiner Befreiung aus Ägypten zweifeln können?

Dennoch war das „Brot des Elends“ ein wesentliches Kennzeichen des Passahfestes, und die Israeliten mussten es essen zur Erinnerung an ihren Auszug aus Ägypten. „Denn in Eile bist du aus dem Land Ägypten herausgezogen – damit du des Tages deines Auszugs aus dem Land Ägypten gedenkst alle Tage deines Lebens“ (V. 3). Dieser Auszug durfte auch in dem verheißenen Land nie vergessen werden. Durch alle Geschlechter hindurch sollten sie ihn feiern, und zwar durch ein Fest, das die heiligen Übungen beinhaltete, die stets eine wahre christliche Frömmigkeit kennzeichnen.

Lasst uns die in dem „Brot des Elends“ dargestellte Wahrheit unsere ganze Aufmerksamkeit schenken! Wir halten das besonders nötig für die, die sich rühmen, mit der so genannten Lehre von der freien Gnade gut bekannt und vertraut zu sein. Besonders für junge Christen besteht die Gefahr, dass sie, um einer gesetzlichen Haltung aus dem Weg zu gehen, in das entgegengesetzte Extrem verfallen und leichtfertig werden. Alte, erfahrene Christen sind dieser gefährlichen Schlinge Satans nicht so sehr ausgesetzt. Aber die Jungen unter uns kann man nicht genug davor warnen. Sie hören vielleicht sehr viel von der Errettung durch Gnade, von der Rechtfertigung aus Glauben, der Befreiung vom Gesetz, und von all den besonderen Vorrechten der christlichen Stellung. Es erübrigt sich, zu sagen, dass dies alles von größter Wichtigkeit ist. Sicher hört niemand zu viel darüber, und es wäre zu wünschen, dass noch viel mehr darüber gesprochen, geschrieben und gepredigt würde, weil viele Gläubige wegen ihrer Unwissenheit über diese Grundwahrheiten ihr Leben im Dunkeln und in einer knechtischen Stellung zubringen. Aber leider gibt es doch viele, die, nach ihrem ganzen Lebenswandel und Verhalten zu urteilen, die Grundsätze der Gnade nur mit ihrem Verstand erfasst haben, aber deren heiligende Kraft für das Herz und das praktische Leben nur wenig zu kennen scheinen. In Israel wurde es nicht geduldet, und es war auch nicht nach den Gedanken Gottes, das Passah ohne die ungesäuerten Brote, das „Brot des Elends“, diesen wesentlichen Bestandteil des Festes, zu feiern. Und sicher können auch wir das Fest, das wir als Christen feiern dürfen, nicht nach den Gedanken Gottes halten ohne einen Seelenzustand, der in den bitteren Kräutern oder in dem Brot des Elends vorgestellt ist, sowie ohne die Verwirklichung persönlicher Heiligkeit. Es herrscht ein großer Mangel unter uns bezüglich dieser geistlichen Gefühle und Zuneigungen, dieser tiefen Übung der Seele, die der Heilige Geist in uns wecken möchte, indem Er unsere Herzen auf die Leiden Christi hinweist, d. h., was es ihn gekostet hat, unsere Sünden zu tilgen, was Er für uns erduldet hat, als die Wogen und Wellen des gerechten Zorns Gottes wegen unserer Sünden über ihm zusammenschlugen. Ja, uns fehlt die tiefe Zerknirschung des Herzens, die aus der Beschäftigung mit den Leiden und dem Tod unseres teuren Heilandes hervorgeht. Es ist eine Sache, das Gewissen mit dem Blut Christi besprengt zu haben, und eine andere, den Tod Christi in geistlicher Weise dem Herzen nahe zu bringen und sein Kreuz in praktischer Weise auf unseren ganzen Wandel und Charakter anzuwenden.

Woher kommt es, dass wir so leicht in Gedanken, Worten und Werken sündigen? Woher kommt es, dass sich unter uns so viel Leichtfertigkeit, ungebrochenes Wesen und fleischliche Freiheit, so viel bloßer Schein und Oberflächlichkeit finden? Kommt es nicht daher, dass der in dem „Brot des Elends“ vorgebildete Bestandteil in unserer Festfeier fehlt? Unserem Christentum fehlen die Tiefe und der wahre Ernst. Es gibt bei uns zu viel oberflächliches Reden über die tiefen Geheimnisse des christlichen Glaubens, zu viel Kopferkenntnis ohne innere Kraft.

Wir sollten uns sicher vor Gesetzlichkeit hüten, aber vielmehr noch vor Leichtfertigkeit. Das Erste ist schon ein Übel, aber das Zweite noch weit mehr. Gnade ist das göttliche Heilmittel für das erste, Wahrheit dasjenige für das zweite. Leider ist es nicht zu leugnen, dass sich heute viel Leichtfertigkeit unter den Christen findet. Es ist, um in der Sprache unseres Bildes zu reden, eine große Neigung vorhanden, das Passah von dem Fest der ungesäuerten Brote zu trennen, zu ruhen in dem Wissen um eine vollbrachte Erlösung, während man das gebratene Lamm, das Brot der Heiligkeit und das Brot des Elends vergisst. Gott selbst hat beides unzertrennlich miteinander verbunden, und deshalb kann niemand wirklich diese kostbare Wahrheit genießen, dass „unser Passah, Christus, geschlachtet ist“, wenn er nicht auch „Festfeier hält mit ungesäuertem Brot der Lauterkeit und Wahrheit“ (1. Kor 5,7). Wenn der Heilige Geist etwas von dem Wert des Todes unseres Herrn Jesus zu erkennen und zu genießen gibt, leitet Er uns zugleich an, über das Geheimnis seiner Leiden und über das nachzudenken, was Er gelitten hat, um uns von den ewigen und schrecklichen Folgen der Sünde zu befreien, von der wir uns oft so leicht umstricken lassen. Möge der Geist Gottes uns durch seine mächtige Wirkung mehr und mehr in die wirkliche Bedeutung des gebratenen Lammes, der ungesäuerten Brote und des Brotes des Elends einführen!

Das Fest der Wochen oder Pfingsten

Dem Passah folgt das Fest der Wochen (V. 9–12), das schöne und bekannte Bild von dem Tag der Pfingsten in Apostelgeschichte 2. Während das Passah den Tod Christi darstellt, ist die Erstlingsgarbe das treffende Vorbild des auferstandenen Christus. In dem Fest der Wochen sehen wir ein Bild der Niederkunft des Heiligen Geistes fünfzig Tage nach der Auferstehung.

Wir sprechen hier natürlich nicht davon, inwieweit Israel die Bedeutung dieser Feste verstand, sondern betrachten sie in ihrer Bedeutung für uns nach den Gedanken Gottes. Wir können alle diese vorbildlichen Anordnungen im Licht des Neuen Testaments betrachten, und wenn wir das tun, werden wir mit Bewunderung und Freude erfüllt werden bei der Entdeckung ihrer göttlichen Vollkommenheit, Schönheit und Ordnung. Wir sehen aber auch (und das ist von unermesslichem Wert), wie die Schriften des Neuen und Alten Testaments in engster Verbindung miteinander stehen, wie sie eine harmonische Einheit bilden und wie ein Geist das Ganze vom Anfang bis zum Ende durchweht. Diese Entdeckungen werden uns in unserer Überzeugung von der göttlichen Eingebung der Heiligen Schrift befestigen und uns gegen die Angriffe der Ungläubigen wappnen. Wir werden gleichsam auf den Gipfel eines Berges geführt, wo uns die Herrlichkeiten des göttlichen Buches in ihrem vollen himmlischen Glanz umstrahlen und von wo aus wir auf die Wolken und düsteren Nebel der ungläubigen Meinungen und Lehren herabblicken können, die zu weit von dem erhabenen Standpunkt entfernt sind, auf den uns die Gnade gestellt hat, als dass sie uns berühren könnten.

In unserem Abschnitt fällt uns auf den ersten Blick der Unterschied zwischen dem Fest der Wochen und dem Pfingstfest und dem Fest der ungesäuerten Brote auf. Zunächst lesen wir von einer „freiwilligen Gabe“ und finden darin ein Bild von der Versammlung, die durch den Heiligen Geist gebildet und Gott dargebracht wird als „eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe“ (Jak 1,18).

Eine freiwillige Gabe

Da wir aber auch diesen Gegenstand schon in unseren „Gedanken zum dritten Buch Mose“ behandelt haben, beschränken wir uns hier nur auf das, was im fünften Buch charakteristisch ist. Das Volk sollte eine freiwillige Gabe darbringen, je nachdem der HERR, sein Gott, es gesegnet hatte. Davon finden wir nichts bei dem Passahfest, weil es Christus als den vorstellt, der sich selbst als Opfer für uns darbringt. Wir sind dort nicht die Opfernden, sondern erinnern uns an unsere Befreiung von der Sünde und der Macht Satans. Wir denken an das, was unsere Befreiung den Herrn gekostet hat, und beschäftigen uns mit der Tiefe seiner Leiden, wie sie in dem gebratenen Lamm vorgebildet werden. Das Bewusstsein, dass Er wegen unserer Ungerechtigkeit zerschlagen wurde, erfüllt uns mit Schmerz und Betrübnis, und diese Betrübnis ist nicht nur eine vorübergehende Bewegung, sondern ein bleibender Zustand des Christen im Blick auf das Kreuz und die Leiden unseres Herrn Jesus Christus.

Im Pfingstfest hingegen sehen wir die Macht des Heiligen Geistes mit den verschiedenen Wirkungen seiner Gegenwart in und unter uns. Er befähigt uns, unsere Körper und alles, was wir haben, als eine freiwillige Gabe Gott darzubringen, je nachdem Er uns gesegnet hat. Dass dies nur durch die Macht des Heiligen Geistes geschehen kann, braucht wohl nicht gesagt werden. Er befähigt uns, auf die Ansprüche einzugehen, die Gott an uns hat – diese Ansprüche richten sich nach dem Maß der uns zuteilgewordenen göttlichen Segnungen – und lässt uns verstehen, dass alles, was wir sind und haben, Gott gehört. Er schenkt auch die Fähigkeit, sich als eine „freiwillige Gabe“, freudig nach Geist, Seele und Leib Gott zu übergeben, ohne eine Spur von Knechtschaft, denn „wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit“ (2. Kor 3,17).

Wir finden hier den Geist und die Kennzeichen des ganzen christlichen Lebens und Dienstes. Ein gesetzlicher Christ kann nichts von der Kraft und Schönheit dieser Dinge verstehen, denn ein gesetzlicher Zustand ist mit der Leitung des Heiligen Geistes unvereinbar. Der Apostel ruft daher den verführten Galatern zu: „Dies allein will ich von euch lernen. Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen oder aus der Kunde des Glaubens? … Der euch nun den Geist darreicht und Wunderwerke unter euch wirkt, ist es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?“ (Kap. 3,2.5). Die wertvolle Gabe des Heiligen Geistes folgte dem Tod, der Auferstehung, der Himmelfahrt und Verherrlichung Christi und ist auf diese Dinge gegründet. Sie hat daher nichts mit „Gesetzeswerken“ zu tun. Die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde und sein Wohnen in allen wirklichen Gläubigen ist eine charakteristische Wahrheit des Christentums, die weder in alttestamentlichen Zeiten noch den Jüngern zur Zeit des Herrn bekannt war. Er selbst sagte zu ihnen kurz vor seinem Weggang: „Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7). Das beweist deutlich, dass sogar diejenigen, die das Vorrecht des persönlichen Umgangs mit dem Herrn auf der Erde genossen hatten, durch seinen Hingang und durch das Kommen des Sachwalters eine noch höhere Stellung erlangen sollten. So lesen wir ferner: „Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote; und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht noch ihn kennt. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein“ (Joh 14,15–17).

Bezüglich des Festes der Wochen müssen wir uns auf einige besonders interessante Gesichtspunkte beschränken. Wie wir gesehen haben, ist der Heilige Geist die lebendige Quelle und Macht eines Lebens persönlicher Hingabe an Gott, vorgebildet in der „freiwilligen Gabe“. Das Opfer Christi ist die Grundlage und die Gegenwart des Heiligen Geistes die Kraft dieser Hingabe des Christen nach Geist, Seele und Leib. „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, was euer vernünftiger Dienst ist“ (Röm 12,1).

Sich vor Gott freuen

Dann finden wir in dem 11. Vers einen anderen sehr wichtigen Punkt: „Und du sollst dich vor dem HERRN, deinem Gott, freuen“. Einem solchen Ausdruck begegnen wir weder bei dem Passahfest noch bei dem Fest der ungesäuerten Brote. Er würde mit keiner der beiden Festlichkeiten in Übereinstimmung stehen. Sicher bildet das Passah die Grundlage aller Freude, die wir je genießen können, aber wir werden dabei stets an den Tod Christi erinnert, an seine Leiden und Schmerzen, an alles, was Er durchgemacht hat, als die Wogen und Wellen des gerechten Zorns Gottes über seine Seele gingen. Und unsere Herzen sollten sich besonders mit diesen tiefen Geheimnissen seiner Leiden beschäftigen, wenn wir um seinen Tisch versammelt sind und seinen Tod verkünden.

Es muss jedem geistlichen und nachdenklichen Christen einleuchten, dass die zu einer solch heiligen und feierlichen Anordnung passenden Gefühle keinen fröhlichen Charakter haben können. Sicher können wir uns darüber freuen, dass die Leiden unseres geliebten Herrn, die schrecklichen Stunden der Finsternis, vorüber sind und nie wieder zurückkehren werden. Aber am Tisch des Herrn erinnern wir uns nicht in erster Linie daran, sondern vielmehr an das, was Er gefühlt hat, als Er für uns diese Stunden durchlebte. Wir „verkündigen den Tod des Herrn“ (1. Kor 11,26), und die Betrachtung dieses Todes kann uns unter der Wirkung des Heiligen Geistes nur ernst stimmen, so gesegnet auch seine Folgen für uns sein mögen. Die Worte des Herrn lauten: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19). Unsere Erinnerung gilt dem Herrn, der für uns litt und starb. Was wir verkünden, ist sein Tod. Und wenn dies in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, so wird heiliger Ernst und eine demütige Stimmung die Folge sein.

Im Pfingstfest hingegen ist die Freude das vorherrschende Kennzeichen. Hier ist keine Rede von „bitteren Kräutern“ oder dem „Brot des Elends“, weil es das Bild der Sendung des Heiligen Geistes ist, der, ausgegangen vom Vater, von dem verherrlichten Haupt im Himmel gesandt wurde, um die Herzen der Gläubigen mit Dank, Anbetung und triumphierender Freude zu erfüllen und sie einzuführen in die völlige Gemeinschaft mit ihrem verherrlichten Haupt in seinem Triumph über die Sünde, Tod, Hölle, Satan und die ganze Macht der Finsternis. Die Gegenwart des Heiligen Geistes ist mit Freiheit, Licht, Macht und Freude verbunden. „Die Jünger wurden mit Freude und Heiligem Geist erfüllt“ (Apg 13,52). Zweifel, Befürchtungen und Gesetzlichkeit können vor den mächtigen Wirkungen seiner Gegenwart nicht bestehen.

Doch müssen wir zwischen seiner Wirkung und seiner Innewohnung unterscheiden. Er macht lebendig, und Er versiegelt. Der Beginn einer Überführung im Herzen eines Sünders ist die Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes, und diese leitet auch weiter zur wahren Buße. Aber das bewirkt keine Freude in dem Herzen des Sünders, sondern vielmehr tiefe Betrübnis, und das ist gut und nötig. Wenn wir dann durch die Gnade an einen auferstandenen und verherrlichten Heiland glauben, dann kommt der Heilige Geist als das Siegel unserer Annahme und das Unterpfand unseres Erbes und macht Wohnung in uns. Dies erfüllt uns mit „unaussprechlicher und verherrlichter Freude“ (1. Pet 1,8), und so werden wir die Segenskanäle für andere. „Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte er von dem Geist, den die an ihn Glaubenden empfangen sollten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war“ (Joh 7,38.39). Der Geist ist die Quelle der Kraft und Freude in dem Herzen des Gläubigen. Er macht uns passend, erfüllt und gebraucht uns als Gefäße im Dienst für arme, dürstende und bekümmerte Seelen. Er verbindet uns mit Christus, dem verherrlichten Menschen, erhält uns in lebendiger Gemeinschaft mit ihm und befähigt uns – wenn auch nur schwach –, der Ausdruck dessen zu sein, was Er ist. Das ganze Verhalten des Christen sollte den Wohlgeruch Christi ausströmen. Wer bekennt, ein Christ zu sein, und dabei in Selbstsucht, Geiz, Habsucht, weltlicher Gesinnung, Neid und Hochmut lebt, der straft sein Bekenntnis Lügen, verunehrt den heiligen Namen Christi und häuft Schmach auf das Christentum, das in dem Fest der Wochen so schön vorgebildet ist, jenem Fest, das vornehmlich den Charakter einer Freude trägt, die ihre Quelle in der Güte Gottes hat und deren gesegneter Einfluss sich weit und breit ausdehnt bis zu jedem Dürftigen hin. „Und du sollst dich vor dem HERRN, deinem Gott, freuen, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und der Levit, der in deinen Toren ist, und der Fremde und die Waise und die Witwe, die in deiner Mitte sind“ (V. 11).

Wie schön ist das alles! Möchte das Gegenbild sich völlig unter uns offenbaren! Möchte der Geist Gottes in unseren Herzen ein aufrichtiges Verlangen wecken, dem Bild Christi in allen Dingen gleichförmig zu sein! Möchte Er das Wort Gottes, das wir in unseren Händen und Häusern haben, mit seiner göttlichen Kraft ausstatten, damit es zu unseren Herzen und Gewissen redet und uns dahin leitet, uns selbst und unsere Wege in seinem Licht zu richten und als treue Zeugen Jesu seine Ankunft zu erwarten!

Das Fest der Laubhütten

Wir kommen jetzt zu dem Fest der Laubhütten, das den Kreis der Wahrheiten schließt, die uns in unserem Kapitel vorgestellt werden.

„Das Fest der Laubhütten sollst du dir sieben Tage feiern, wenn du den Ertrag von deiner Tenne und von deiner Kelter einsammelst; und du sollst dich an deinem Fest freuen, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und der Levit und der Fremde und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind. Sieben Tage sollst du dem HERRN, deinem Gott, das Fest feiern an dem Ort, den der HERR erwählen wird; denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen in all deinem Ertrag und in allem Werk deiner Hände, und du sollst nur fröhlich sein. Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor dem HERRN, deinem Gott, erscheinen an dem Ort, den er erwählen wird: am Fest der ungesäuerten Brote und am Fest der Wochen und am Fest der Laubhütten. Und man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: Jeder nach dem, was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat“ (V. 13–17).

Das ist ein treffendes Vorbild von der Zukunft Israels. Das Gegenbild des Laubhüttenfestes ist noch nicht offenbart. Während das Passahfest und das Pfingstfest ihre Erfüllung in dem Tod Christi und dem Herniederkommen des Heiligen Geistes gefunden haben, deutet das dritte große Fest hin auf die „Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von denen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat“ (Apg 3,21).

Die Zeit der Feier dieses Festes verdient Beachtung. Es fand statt nach der Ernte und der Weinlese. Wenn wir die bildliche Bedeutung dieser beiden Dinge untersuchen, werden wir bald erkennen, dass zwischen beiden ein bemerkenswerter Unterschied besteht, da das erste von Gnade, das zweite von Gericht redet. Am Ende der Zeiten wird Gott den Weizen in seine Scheunen sammeln, und nach diesem wird „die große Kelter des Grimms Gottes“ (Off 14,19) getreten werden. Das 14. Kapitel der Offenbarung bezieht sich hierauf mit folgenden Worten: „Und ich sah: Und siehe, eine weiße Wolke, und auf der Wolke saß einer gleich dem Sohn des Menschen, der auf seinem Haupt eine goldene Krone und in seiner Hand eine scharfe Sichel hatte. Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schicke deine Sichel und ernte; denn die Stunde des Erntens ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist überreif geworden. Und der, der auf der Wolke saß, legte seine Sichel an die Erde, und die Erde wurde abgeerntet“ (V. 14–16).

Das ist die Ernte. Dann lesen wir weiter: „Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor, der in dem Himmel ist, und auch er hatte eine scharfe Sichel. Und ein anderer Engel, der Gewalt über das Feuer hatte, kam aus dem Altar hervor, und er rief dem, der die scharfe Sichel hatte, mit lauter Stimme zu und sprach: Schicke deine scharfe Sichel und lies die Trauben des Weinstocks der Erde, denn seine Beeren sind reif geworden. Und der Engel legte seine Sichel an die Erde und las die Trauben des Weinstocks der Erde und warf sie in die große Kelter des Grimms Gottes. Und die Kelter wurde außerhalb der Stadt getreten, und Blut ging aus der Kelter hervor bis an die Gebisse der Pferde, 1600 Stadien weit“ (V. 17–20) – eine Entfernung, die der ganzen Länge von Palästina entspricht.

Die Offenbarung zeigt uns in diesen Bildern die Ereignisse, welche der Feier des Laubhüttenfestes vorausgehen werden. Christus wird seinen Weizen auf seinen Speicher sammeln und danach die Christenheit heimsuchen mit einem vernichtenden Gericht. Die ganze Bibel bezeugt uns von Anfang bis Ende die unwiderlegbare Tatsache, dass die Welt nicht durch das Evangelium bekehrt werden und sie nicht einer allmählichen Besserung entgegengeht, sondern sich im Gegenteil mehr und mehr verschlimmert. Das Treten „der Kelter des Weines des Grimms des Zorns Gottes, des Allmächtigen“ (Off 19,15), muss der herrlichen Zeit des Laubhüttenfestes vorausgehen.

Praktische Schlussfolgerungen

Aber trotz der offenkundigen göttlichen Beweise, die sich in jedem Buch der Bibel für die Wahrheit dieser Ausführungen finden, geben sich die Menschen der trügerischen Hoffnung hin, die Welt durch das Evangelium bekehren zu können. Aber welche Bedeutung hat dann das „Sammeln des Weizens und das Treten der Kelter“? Kann man da noch von einer bekehrten Welt reden?

Vielleicht wird man einwenden, dass man sich nicht unbedingt auf mosaische Bilder und apokalyptische Symbole stützen könne. Das könnte vielleicht wahr sein, wenn wir nichts anderes als Vorbilder und Symbole hätten. Aber wenn das Licht des Wortes Gottes diese Vorbilder und Symbole beleuchtet und uns ihre tiefe Bedeutung offenbart, finden wir, dass sie in vollkommenem Einklang mit den Stimmen der Propheten und Apostel und den Belehrungen des Herrn selbst stehen. Alle sagen dasselbe, alle geben derselben ernsten Wahrheit Zeugnis, dass am Ende dieses Zeitalters statt einer bekehrten, für ein geistliches (wie man es nennt) tausendjähriges Reich zubereiteten Welt, ein Weinstock sein wird, schwer beladen mit schrecklichen Trauben, die für die Kelter des Zorns Gottes, des Allmächtigen, reif sind.

Bevor wir diesen Abschnitt schließen, möchten wir noch einmal daran erinnern, dass wir unser tägliches Leben unter den gesegneten Einfluss der Wahrheiten stellen sollten, die in den drei Vorbildern unseres Kapitels enthalten sind. Das Christentum wird gekennzeichnet durch diese drei großen Tatsachen: die Erlösung, die Gegenwart des Heiligen Geistes und die Hoffnung der Herrlichkeit. Erlöst durch das Blut Christi und versiegelt mit dem Heiligen Geist wartet der Christ auf die Ankunft des Herrn. Das sind nicht bloß Grundsätze oder Meinungen, sondern göttliche Wirklichkeiten, die als eine lebendige Kraft in unserem Herzen wirken sollen. Wir sehen, von welch praktischer Wichtigkeit diese Feste für Israel waren. Preis, Dank und Anbetung stiegen zu Gott auf, wenn das Volk um den HERRN an dem Ort versammelt war, den Er erwählt hatte, und die Ströme der Wohltätigkeit erreichten alle Bedürftigen. „Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor dem HERRN, deinem Gott, erscheinen … und man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: Jeder nach dem, was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat“.

Der Israelit sollte nicht leer vor dem HERRN erscheinen, sondern mit dankerfülltem Herzen und vollen Händen, um die Diener und Armen des HERRN zu erfreuen. Es war der Wunsch Gottes, sein Volk um sich versammelt zu sehen, um ihre Herzen mit überströmender Freude zu erfüllen und sie zugleich zu Segenskanälen für andere zu machen. Sie sollten nicht nur unter ihrem Weinstock und Feigenbaum bleiben, um sich dort über ihre Segnungen zu freuen, sondern dreimal im Jahr sollten sie sich an dem bestimmten Ort versammeln und dort ihr Halleluja zu Gott aufsteigen lassen und freigebig die Segnungen spenden, mit denen Er selbst sie überschüttet hatte. Gott fand seine Wonne darin, das Herz des Leviten, des Fremdlings, der Witwe und der Waise zu erfreuen, und Er wünschte, dass sein Volk an seiner Freude teilnahm. Wenn aber diese Bilder und Schatten unserer Segnungen schon mit solchen Danksagungen und freigebigen Spenden verbunden waren, wie viel mächtiger sollten bei uns die Wirkungen und Segnungen selbst sein!

Die Bedeutung des Laubhüttenfestes verstehen leider nur wenige. Zwar ist dessen Erfüllung noch nicht gekommen, aber der Christ sollte in der Kraft dessen leben, was ihm vorgestellt wird. „Der Glaube aber ist eine Verwirklichung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11,1). Der vereinigte Einfluss der „Gnade“, in der wir stehen, und der „Herrlichkeit“, die wir erwarten, sollte unser Leben beherrschen und uns kennzeichnen. Wenn aber jemand nicht in der Gnade befestigt ist, ja nicht einmal weiß, dass seine Sünden vergeben sind – wenn er belehrt wird, dass die Gewissheit der Errettung Anmaßung sei, dass Zweifel und Befürchtungen hingegen als wahre Demut und Frömmigkeit betrachtet werden müssten, und dass man seiner Errettung nicht eher gewiss sein könne, als bis man vor dem Richterstuhl Christi stehe –, wie kann man dann erwarten, dass er die christliche Stellung einnimmt, die Früchte des christlichen Lebens offenbart und die Kraft der christlichen Hoffnung kennt? Wie hätte ein Israelit das Fest der ungesäuerten Brote, das Pfingst- oder Laubhüttenfest feiern können, wenn er in Ungewissheit darüber gewesen wäre, ob er ein Kind Abrahams, ein Kind der Gemeinde des HERRN und wirklich im Land Kanaan sei? Wir dürfen kühn behaupten, dass keinem Israeliten je etwas so Törichtes in den Sinn gekommen ist.

Doch wie viele gibt es, die wirklich Kinder Gottes sind und trotzdem ihre Tage in Zweifel, Befürchtungen, Dunkel und Ungewissheit zubringen! Ihre religiösen Übungen und ihr ganzer Gottesdienst sind mehr die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht und einer Vorbereitung für das zukünftige Leben, als der Ausfluss eines Lebens, das man bereits besitzt und genießt. Auch die „glückselige Hoffnung“, die uns die Gnade gegeben hat, um unsere Herzen zu beleben und uns von den zeitlichen Dingen loszumachen, ist ihnen völlig unbekannt. Sie halten sie für Schwärmerei und warten auf den Tag des Gerichts, anstatt auf den „glänzenden Morgenstern“. Anstatt sich an dem Besitz des ewigen Lebens der göttlichen Gerechtigkeit und des Geistes der Sohnschaft zu erfreuen, bitten sie Gott täglich um Vergebung ihrer Sünden und um seinen Heiligen Geist.

Wir brauchen kaum zu sagen, dass das im offenbaren Widerspruch zu den klaren Belehrungen des Neuen Testaments steht. Es ist dem Charakter und Geist des Christentums völlig fremd und zerstört den Frieden und die Freiheit des Christen sowie allen wirklichen christlichen Gottesdienst, ja, jeden wirkungsvollen Dienst, jedes Zeugnis für Christum. Unmöglich können Seelen, die sich in einem solchen Zustand befinden, mit dankbarem Herzen, mit segenerfülltem Herzen vor dem Herrn erscheinen, denn sie haben den Segen selbst nie genossen.

Der Herr wolle in seiner Gnade die Aufmerksamkeit aller wahren Christen auf diesen wichtigen Gesichtspunkt lenken! Möchten sie die Schriften untersuchen, ob sie darin einen Anhaltspunkt finden, dass Seelen beständig in Ungewissheit, Zweifel und Knechtschaft gehalten werden. Zwar enthält das Wort Gottes ernste Ermahnungen und Warnungen, und wir danken Gott dafür, denn wir brauchen sie und sollten sie tief in unsere Herzen einprägen! Aber man sollte doch nicht außer Acht lassen, dass es das kostbare Vorrecht gerade der Kindlein in Christus ist, zu wissen, dass alle ihre Sünden vergeben sind, dass sie in dem auferstandenen Christus angenommen, mit dem Heiligen Geist versiegelt und Erben der ewigen Herrlichkeit sind. Das sind die Segnungen, die ihnen durch eine unendliche und unumschränkte Gnade geschenkt worden sind, wozu sie die Liebe Gottes berufen und das Blut Christi passend gemacht hat, und die ihnen das Zeugnis des Heiligen Geistes zusichert. Möchte der große Erzhirte und Aufseher unserer Seelen alle Lämmer und Schafe seiner bluterkauften Herde dahin leiten, dass sie durch die Belehrung des Heiligen Geistes die Dinge kennen, die ihnen von Gott geschenkt sind!

Andererseits ist sehr zu befürchten, dass viele unter uns, die sich rühmen, diese herrlichen Wahrheiten zu kennen, in ihrem praktischen Wandel ihrem hohen Bekenntnis nicht entsprechen. Wir handeln dann nicht nach dem Grundsatz des 17. Verses unseres Kapitels: „Und man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: jeder nach dem, was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat“. Obwohl wir nichts für unsere Errettung zu tun, nichts für sie zu geben haben, vergessen wir so leicht, dass es vieles gibt, was wir für den Herrn, für seine Arbeiter und die Armen tun können. Wenn wir in den Tagen unserer Unwissenheit und Gesetzlichkeit manches nach falschen Grundsätzen und zu einem verkehrten Zweck getan und gegeben haben, so sollten wir jetzt wirklich nicht weniger tun und geben, nachdem wir durch die Gnade erkannt haben, dass wir nicht nur errettet, sondern auch mit allen geistlichen Segnungen in dem auferstandenen und verherrlichten Christus gesegnet sind. Hüten wir uns, diese herrlichen Wahrheiten bloß mit dem Verstand zu erfassen und mit dem Mund zu bekennen, während Herz und Gewissen von ihren Wirkungen nichts fühlen und unser Leben nicht unter ihrem mächtigen und heiligenden Einfluss steht!

Lasst uns diese Gedanken unter Gebet vor dem Herrn erwägen. Wir möchten keinen Stein auf andere werfen, die Gläubigen aber im Wissen um die Gegenwart Gottes vor einer Gefahr warnen, die uns allen gemeinsam droht. Wir glauben, dass die heutigen Zustände uns dringend mahnen, unsere Wege zu prüfen, uns vor dem Herrn wegen des bei uns herrschenden Mangels an Treue und Wachsamkeit zu demütigen und Gnade bei ihm zu suchen, um aufrichtiger, ergebener und entschiedener in unserem Zeugnis für ihn in diesen düsteren und bösen Tagen zu sein.

Richter und Vorsteher

„Richter und Vorsteher sollst du dir einsetzen, nach deinen Stämmen, in allen deinen Toren, die der HERR, dein Gott, dir gibt, damit sie das Volk richten mit gerechtem Gericht. Du sollst das Recht nicht beugen. Du sollst die Person nicht ansehen und kein Geschenk nehmen, denn das Geschenk blendet die Augen der Weisen und verdreht die Worte der Gerechten. Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen, damit du lebst und das Land besitzt, das der HERR, dein Gott, dir gibt“ (Kap. 16,18–20).

Diese Worte zeigen uns zwei Dinge. Zunächst schildern sie die unparteiische Gerechtigkeit und Wahrheit, die die Regierung Gottes kennzeichnen. Jeder Fall wird für sich beurteilt aufgrund der Tatsachen, die mit ihm zusammenhängen. Andererseits lernen wir, welchen Wert das Urteil des Menschen hat, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Es ist völlig unzuverlässig. Man kann ihm keinen Augenblick Vertrauen schenken. Der Mensch ist fähig, das Recht zu beugen, Geschenke zu nehmen oder die Person anzusehen. Sonst wäre eine solche Warnung nicht nötig. Wenn Gott dem Menschen befiehlt, nicht zu stehlen, so beweist das, dass diese Neigung in der menschlichen Natur steckt.

Menschliche Regierung und menschliches Urteil sind daher den gröbsten Missgriffen ausgesetzt, weil Regierende und Richter – wenn sie nicht unter dem unmittelbaren Einfluss göttlicher Grundsätze stehen, sondern sich selbst überlassen bleiben –, fähig sind, aus Gewinnsucht und um eines Vorteils willen das Recht zu verdrehen.

Es ist überflüssig, als Beweis hierfür auf Pilatus, Herodes oder Felix hinzuweisen. Die obige Stelle sagt uns zur Genüge, was der Mensch ist, selbst wenn er, bekleidet mit der Robe der Amtswürde, auf einem Thron oder auf einem Richterstuhl sitzt.

Vielleicht finden manche das übertrieben. Doch sollten sie sich dann daran erinnern, dass das menschliche Herz die Brutstätte jeder Sünde, die Quelle alles Unwürdigen und der abscheulichsten Verbrechen ist, die je in dieser Welt verübt worden sind. Den unwiderleglichen Beweis dafür liefern die Gebote und Verbote, die wir im Wort Gottes finden und die aufgezeichnet sind, damit wir in ihnen wie in einem göttlichen Spiegel sehen können, aus welchem Stoff wir gemacht und wozu wir fähig sind. Es ist zum Beispiel nützlich und gut, wenn wir in einigen Stellen unseres Buches erfahren, dass die menschliche Natur (also auch wir) zu Dingen fähig ist, die uns unter das Tier erniedrigen. Wie gut wäre es für manchen, der in Selbstgefälligkeit und Einbildung dahingeht, wenn er diese tief demütigende Unterweisung beherzigte!

Wie schön und erhaben waren andererseits die göttlichen Vorschriften für die Israeliten! Sie sollten das Recht nicht beugen, sondern ohne Rücksicht auf die Person richten. Dem armen Mann im dürftigen Kleid sollte dieselbe unparteiische Gerechtigkeit widerfahren wie dem Reichen in seinem glänzenden Gewand. Das Urteil des Richters durfte nicht durch Parteinahme oder Vorurteile beeinträchtigt und sein richterliches Gewand mit dem Schandfleck der Bestechlichkeit besudelt werden.

Was wird es sein, wenn diese unterdrückte und seufzende Schöpfung durch die erhabenen Gesetze der göttlichen Gerechtigkeit beherrscht werden wird, wenn ein König regieren wird in Gerechtigkeit, und die Fürsten nach Recht herrschen werden (Jes 32,1)! „O Gott, gib dem König deine Gerichte und deine Gerechtigkeit dem Sohn des Königs! Er wird dein Volk richten in Gerechtigkeit, und deine Elenden nach Recht“ (Ps 72,1–2). – Dann wird es weder Bestechung, noch Parteilichkeit, noch Beugung des Rechts geben. „Die Berge (oder die hohen Würdenträger) und die Hügel (oder die niederen Würdenträger) werden dem Volk Frieden tragen durch Gerechtigkeit. Er wird den Elenden des Volkes Recht verschaffen; er wird die Kinder des Armen retten, und den Bedrücker wird er zertreten. Man wird dich fürchten von Geschlecht zu Geschlecht, solange Sonne und Mond bestehen. Er wird herabkommen wie ein Regen auf die gemähte Flur, wie Regenschauer, Regengüsse auf das Land. In seinen Tagen wird der Gerechte blühen, und Fülle von Frieden wird sein, bis der Mond nicht mehr ist. Und er wird herrschen von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde … Denn erretten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden, der keinen Helfer hat; er wird sich des Geringen und des Armen erbarmen, und die Seelen der Armen wird er retten. Von Bedrückung und Gewalttat wird er ihre Seele erlösen, und ihr Blut wird teuer sein in seinen Augen“ (Ps 72,3–8.12–14).

Wohl mögen unsere Herzen sich nach dieser herrlichen Zeit sehnen, wenn alles dies in Erfüllung gehen und die Erde voll sein wird der Erkenntnis des HERRN, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. Dann wird der Herr Jesus seine große Macht und Herrschaft annehmen und die Versammlung in den Himmeln seine Herrlichkeit auf die Erde zurückstrahlen lassen. Dann werden die zwölf Stämme Israels in ihrem Land ruhen, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und alle Nationen der Erde werden glücklich sein unter dem Friedens- und Segenszepter des Sohnes Davids. Alles wird in kurzer Zeit erfüllt werden nach den ewigen Vorsätzen und unerschütterlichen Verheißungen Gottes. Bis dahin wolle der Herr uns geben, in einer gottlosen Welt in der ständigen und gläubigen Erwartung dieser gesegneten Zeit zu leben, als Fremde und Wanderer, die hier auf der Erde keinen Besitz und kein Erbe haben, sondern rufen: „Komm, Herr Jesus!“ (Off 22,20).

Warnung vor Götzendienst

In den letzten Versen des 16. Kapitels wird Israel vor jeder Nachahmung der religiösen Gewohnheiten der Völker Kanaans gewarnt: „Du sollst dir keine Aschera pflanzen, irgendein Holz, neben dem Altar des HERRN, deines Gottes, den du dir machen wirst. Und du sollst dir keine Bildsäule aufrichten, die der HERR, dein Gott, hasst“. Sie mussten alles vermeiden, was sie von dem lebendigen und wahren Gott abziehen und mit dem finsteren Götzendienst der Nationen in Kontakt bringen konnte. Der Altar Gottes musste klar und deutlich getrennt bleiben von den Hainen und schattigen Orten, wo die falschen Götter angebetet wurden und wo Dinge geschahen, die man kaum erwähnen möchte. 1

Fußnoten

  • 1 Vielleicht ist der Hinweis interessant, dass der Heilige Geist im Neuen Testament zur Bezeichnung des Altars Gottes ein Wort gebraucht, das nicht zur Bezeichnung eines heidnischen Altars verwandt wurde und das in den Schriften weltlicher Schriftsteller unbekannt ist. Das Wort für den heidnischen Altar heißt bomós, das für den Altar Gottes thysiastérion. Das erste kommt nur einmal vor (Apg 17,23), das letzte dreiundzwanzig Mal. So wird die Anbetung des allein wahren Gottes geschützt gegen jede verunreinigende Berührung mit der heidnischen Abgötterei. Die Menschen könnten fragen, inwiefern der Altar Gottes durch einen Namen befleckt werden könne. Der Heilige Geist verwendet das heidnische Wort nicht für den Altar des allein wahren und lebendigen Gottes, obwohl es kürzer und weit gebräuchlicher war.
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