Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Zweieinhalb Stämme östlich des Jordan

Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Glaube und Kraft fehlen

Der Inhalt dieses Kapitels hat schon zu manchen Streitigkeiten Anlass gegeben. Die Meinungen über das Verhalten der zweieinhalb Stämme sind sehr verschieden. Die Frage ist: Taten sie recht oder unrecht, als sie ihr Erbteil auf der zur Wüste hin liegenden Seite des Jordans wählten? War ihre Handlungsweise ein Ausdruck von Kraft oder von Schwachheit?

Zunächst muss man eine Gegenfrage stellen: Wo lag das Teil Israels, sein göttlich bestimmtes Erbteil? Ganz gewiss auf der anderen Seite des Jordan, im Land Kanaan! Hätte diese Tatsache nicht ausreichen sollen? Hätte ein aufrichtiges, Gott ergebenes Herz ein anderes Teil wählen können, als das, das Gott ihm zugewiesen und gegeben hatte? Unmöglich! So brauchen wir auch nicht weiter zu gehen, um uns ein Gott gemäßes Urteil über diese Angelegenheit zu bilden. Es war von den Stämmen Ruben und Gad und dem halben Stamm Manasse ein Fehler, ein Mangel und ein Zurückbleiben hinter dem Ziel Gottes, wenn sie sich eine andere Grenze wählten als die, die der Jordan bildete. Sie wurden in ihrem Verhalten durch weltliche und eigennützige Rücksichten, durch das, was ihre Augen sahen, durch fleischliche Beweggründe geleitet. Sie sahen „das Land Jaser und das Land Gilead“ und schätzten es, ohne Rücksicht auf das Urteil und den Willen Gottes, nach ihren eigenen Interessen ein. Hätten sie einfach auf Gott geblickt, so wäre die Frage einer Niederlassung diesseits des Jordans nie entstanden.

Wenn wir nicht ganz aufrichtig sind, geraten wir in Situationen, die zu allerlei Fragen Anlass geben. Es ist etwas Großes, durch die Gnade Gottes befähigt zu sein, eine Handlungslinie zu verfolgen und einen Weg zu gehen, die so eindeutig sind, dass sich keine Frage erheben kann. Es ist unser heiliges und frohmachendes Recht, uns so zu verhalten, dass nie eine Unklarheit entstehen kann. Aber um das zu können, müssen wir mit Gott leben und unser Betragen völlig durch sein Wort leiten und regieren lassen. Dass Ruben und Gad sich nicht in dieser Weise leiten ließen, geht aus der ganzen Geschichte deutlich hervor. Sie waren Menschen mit „halbem Herzen“, mit gemischten Grundsätzen, Menschen, die ihr eigenes Interesse suchten und nicht die Interessen Gottes. Hätten die Dinge Gottes ihr Herz ausgefüllt, dann hätte nichts sie dazu bringen können, außerhalb der wirklichen Grenze zu wohnen!

Offensichtlich war Mose mit ihrem Vorschlag nicht einverstanden. Dass er selbst nicht über den Jordan gehen durfte, war ein Gericht des HERRN wegen seines Verhaltens. Sein Herz aber war in dem verheißenen Land, und er sehnte sich danach, persönlich dorthin zu gelangen. Wie hätte er daher das Verhalten derer gutheißen können, die nicht nur bereit waren, anderswo zu wohnen, sondern das sogar wünschten? Der Glaube kann sich nie mit einer Lösung begnügen, die geringer ist als die wahre Stellung und das volle Recht des Volkes Gottes. Das Interesse eines treuen Herzens richtet sich allein auf das, was Gott gegeben hat. Daher verurteilte Mose sogleich den Vorschlag Rubens und Gads. Allerdings milderte er nachher sein Urteil und gab seine Zustimmung zu ihren Plänen. Ihr Versprechen, den Jordan gerüstet vor ihren Brüdern her zu überschreiten, rief bei Mose eine Art Beifall hervor. Es schien ein außerordentliches Zeichen von Uneigennützigkeit und Energie zu sein, wenn sie alle ihre Lieben zurückließen und den Jordan überschritten, nur um für ihre Brüder zu kämpfen. Aber fragen wir: Wo eigentlich ließen sie die Ihrigen zurück? Sie nahmen ihnen den Platz im Land der Verheißung, das Erbteil, von dem Gott zu Abraham, Isaak und Jakob gesprochen hatte. Und das lediglich deshalb, um für ihr Vieh gute Weide zu bekommen! Wegen eines armseligen Zwecks verließen die zweieinhalb Stämme ihren Platz innerhalb der wahren Grenzen des Israels Gottes.

Weitere Folgen

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Folgen dieser Handlung! In Josua 22,10 finden wir die erste traurige Wirkung des Betragens von Ruben und Gad. Sie müssen einen Altar bauen, einen „Altar, groß von Ansehen“, damit nicht später ihre Brüder sie verleugnen könnten. Das beweist, dass es sehr verkehrt war von ihnen, diesseits des Jordans zu bleiben.

Beachten wir die Verwirrung und Erregung, die dieser Altar für die ganze Gemeinde mit sich brachte! Im ersten Augenblick schien seine Errichtung eine Empörung zu bedeuten. „Als die Kinder Israel es hörten, da versammelte sich die ganze Gemeinde der Kinder Israel nach Silo, um gegen sie hinaufzuziehen zum Krieg. Und die Kinder Israel sandten zu den Kindern Ruben und zu den Kindern Gad und zu dem halben Stamm Manasse 1, in das Land Gilead, Pinehas, den Sohn Eleasars, des Priesters, und zehn Fürsten mit ihm, je einen Fürsten für ein Vaterhaus, von allen Stämmen Israels; und sie waren ein jeder das Haupt ihres Vaterhauses unter den Tausenden Israels. Und sie kamen zu den Kindern Ruben und zu den Kindern Gad und zu dem halben Stamm Manasse in das Land Gilead, und redeten mit ihnen und sprachen: So spricht die ganze Gemeinde des HERRN [gehörten die zweieinhalb Stämme nicht zu ihr?]: Was ist das für eine Treulosigkeit, die ihr gegen den Gott Israels begangen habt, dass ihr euch heute abwendet von der Nachfolge des HERRN, indem ihr euch einen Altar baut, um euch heute gegen den HERRN zu empören? Ist es uns zu wenig an der Ungerechtigkeit Peors, von der wir uns noch nicht gereinigt haben bis auf diesen Tag, und doch kam die Plage über die Gemeinde des HERRN? Und ihr wendet euch heute ab von der Nachfolge des HERRN! Und es wird geschehen, empört ihr euch heute gegen den HERRN, so wird er morgen über die ganze Gemeinde Israel erzürnen. Jedoch wenn das Land eures Eigentums unrein ist, so kommt herüber in das Land des Eigentums des HERRN, wo die Wohnung des HERRN weilt [welch eindringliche Worte!], und macht euch ansässig in unserer Mitte; aber empört euch nicht gegen den HERRN und empört euch nicht gegen uns, indem ihr euch einen Altar baut außer dem Altar des HERRN, unseres Gottes“ (Jos 22,12–19).

Dieses ganze Missverständnis, diese ganze Verwirrung und Aufregung war nichts anderes, als die Folge des Fehlers, den Ruben und Gad begangen hatten. Wohl konnten sie bezüglich des Altars ihre Brüder durch überzeugende Erklärungen zufriedenstellen, aber es wären kein Altar und keine Erklärung nötig gewesen, es wäre auch keine Aufregung entstanden, wenn sie nicht eine so zweifelhafte Stellung eingenommen hätten. Das war die Quelle des ganzen Übels, und es ist wichtig, diesen Punkt klar zu sehen und die große praktische Lehre zu verstehen, die darin enthalten ist. Es kann für einen geistlichen Christen, der über diesen Gegenstand nachdenkt, kein Zweifel darüber bestehen, dass die zweieinhalb Stämme Unrecht hatten, als sie vor dem Jordan stehen blieben. Wenn noch ein weiterer Beweis dafür nötig ist, so finden wir ihn in der Tatsache, dass diese Stämme die ersten waren, die dem Feind in die Hände fielen (siehe 1. Kön 22,3).

Aber vielleicht fragt jemand: „Was will das alles denn uns sagen? Welche Lehre enthält dieser Teil der Geschichte Israels denn für uns?“ Er ruft uns sehr ernst zu: „Achtet darauf, dass ihr euch nicht mit weniger als eurer Stellung begnügt und damit hinter dem zurückbleibt, was eigentlich euer Teil ist; dass ihr nicht mit den Dingen zufrieden seid, die dieser Welt angehören, sondern die Stellung des Todes und der Auferstehung einnehmt, von der der Jordan ein geistliches Bild ist.“ 2

Das ist die Lehre, die dieser Teil unseres Buches uns gibt. Es ist sehr wichtig, entschieden und eindeutig für Christus zu sein. Es wird der Sache Gottes und dem Zeugnis Christi großer Schaden zugefügt von denen, die bekennen, Christen zu sein, die aber ihre himmlische Berufung und ihr himmlisches Wesen praktisch verleugnen und leben, als wären sie Bürger dieser Welt. Ein solches Verhalten ist ein gutes Werkzeug in den Händen Satans. Die bei den Bekennern fehlende Verwirklichung hat der Sache Gottes viel mehr Schaden zugefügt als alle Formen moralischen Verderbens zusammengenommen. Diese Behauptung mag hart erscheinen, aber sie ist wahr. Christliche Bekenner, die bloß „Grenznachbarn“ sind, Menschen mit gemischten Grundsätzen, Leute mit nicht eindeutigem Verhalten – das sind gerade diejenigen, die der Sache Christi am meisten schaden und die Absichten des Feindes Christi fördern. Was wir brauchen, sind Männer mit ganzem Herzen; entschiedene Zeugen für Jesus Christus, Männer, die offen bekennen, dass sie ein besseres Vaterland suchen, ernste, fromme Männer, die dieser Welt fremd sind. Es ist besonders traurig und entmutigend, wenn die, die ein hohes Bekenntnis ablegen und auf ihre erhabenen Lehren und himmlischen Vorrechte stolz sind, so leben, dass ihre Wege das widerlegen, was sie sagen. Sie lieben die Welt und die Dinge dieser Welt. Sie lieben das Geld und trachten danach, so viel wie möglich zu verdienen.

Möchten wir auf diese Dinge achten! Richten wir uns mit allem Ernst in der Gegenwart Gottes, und werfen wir alles von uns, was darauf abzielt, unsere völlige Hingabe an den zu verhindern, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat! Möchten wir, um in der Sprache von Josua 22 zu reden, uns so betragen, dass nicht ein Altar, groß von Ansehen, oder irgendetwas Ähnliches nötig ist, um zu erkennen zu geben, wohin wir gehören, wo wir anbeten, wessen wir sind und wem wir dienen! Dann wird im Blick auf uns alles klar, unser Zeugnis wird bestimmt und der „Ton unserer Trompete“ deutlich sein. Unser Friede wird sein wie ein Strom, und unser ganzes Leben, unser ganzes Wesen wird zum Lob dessen sein, dessen Name über uns angerufen ist. Möge der treue Gott in diesen Tagen der Gleichgültigkeit, der Lauheit und eines kraftlosen Bekenntnisses die Herzen seiner Kinder zu wirklicher Selbstverleugnung, wahrer Hingabe an die Sache Christi und unerschütterlichem Glauben an den lebendigen Gott zurückführen!

Fußnoten

  • 1 Als ob die zweieinhalb Stämme wirklich von dem Volk Israel getrennt gewesen wären.
  • 2 Zweifellos gibt es viele aufrichtige Christen, die die himmlische Berufung und Stellung der Versammlung nicht verstehen und damit das, was der Epheserbrief lehrt, nicht begreifen, die aber doch nach dem Maß ihres Lichts aufrichtig sind. Aber ich bin überzeugt, dass solche Christen unendlich viel Segen einbüßen und weit hinter dem, was das Christentum lehrt, zurückbleiben.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel