Betrachtungen über das erste Buch Mose

Die Opferung Isaaks

Betrachtungen über das erste Buch Mose

Gott erprobt Abraham

Abraham ist jetzt in dem Zustand, dass sein Herz der schwersten Probe ausgesetzt werden kann. Nachdem in Kapitel 20 der ängstlich und lange gehegte Vorbehalt aus seinem Herzen entfernt worden ist und er in Kapitel 21 die Magd und ihren Sohn aus dem Haus getrieben hat, zeigt er sich jetzt in der ehrenvollsten Stellung, in die je eine Seele versetzt werden kann, in der Stellung der Prüfung durch die Hand Gottes. Es gibt verschiedene Arten von Prüfungen, Prüfungen von der Hand Satans und Prüfungen durch äußere Umstände, aber den erhabensten Charakter trägt die Prüfung, die unmittelbar von Gott kommt, wenn Er sein geliebtes Kind in den Schmelzofen bringt, um die Echtheit seines Glaubens zu prüfen. Gott will Wirklichkeit. Es genügt nicht, zu sagen: „Herr, Herr!“ oder „Ich gehe, Herr!“ Das Herz muss bis auf den Grund erprobt werden, damit sich kein Rest von Heuchelei oder falschem Bekenntnis darin verbirgt. Gott sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz“ (Spr 23,26). Er sagt nicht: „Gib mir deinen Kopf, deinen Verstand, deine Talente, deine Zunge, dein Geld“, sondern „dein Herz“, und um die Aufrichtigkeit unserer Antwort auf dieses gnädige Gebot zu prüfen, legt Er seine Hand auf etwas, was unserem Herzen am nächsten liegt. Er sagt zu Abraham: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und zieh hin in das Land Morija und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde“ (V. 2). Das hieß wirklich dem Herzen Abrahams sehr nahe kommen und ihn in einen feurigen Schmelztiegel bringen. Gott hat „Gefallen an der Wahrheit im Innern“ (Ps 51,8). Man kann viel Wahrheit im Mund haben und reiche Erkenntnis besitzen, aber Gott sucht nach der Wahrheit im Herzen. Gewöhnliche Beweise der Liebe unserer Herzen befriedigen ihn nicht. Er selbst hat sich nicht damit begnügt, nur einen gewöhnlichen Beweis seiner Liebe zu geben. Er gab seinen eingeborenen Sohn! Und wir? Sollten wir uns nicht bemühen, hervorragende Beweise unserer Liebe zu ihm zu geben, da Er uns so geliebt hat, als wir noch tot waren in Vergehungen und Sünden?

Vergessen wir jedoch nicht, dass Gott uns eine hohe Ehre erweist wenn Er uns so auf die Probe stellt. Wir lesen nicht, dass Lot „von Gott versucht wurde“. Aber Lot wurde durch Sodom versucht. Er erreichte nie eine genügende Höhe, um von der Hand des HERRN erprobt zu werden. Sodom stellte für Abraham nicht die geringste Versuchung dar. Seine Unterredung mit dem König von Sodom in Kapitel 14 liefert den klaren Beweis davon. Gott wusste wohl, dass Abraham ihn weit mehr liebte als Sodom und seine Schätze, aber Er wollte es auch offenbar machen, indem Er seine Hand auf den Gegenstand legte, der dem Herzen Abrahams am teuersten war. „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak“. Der Sohn der Verheißung, der Gegenstand der so lange hingehaltenen Hoffnung, der Gegenstand der Liebe des Vaters, und derjenige, in dem alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollten, dieser sollte als Brandopfer geopfert werden. Das bedeutete wirklich den Glauben auf die Probe stellen, damit er – kostbarer als Gold, das vergeht – durch Feuer erprobt, erfunden werde zu Lob und Ehre und Herrlichkeit (1. Pet 1,7). Hätte Abraham sich nicht einfältig und mit ganzer Seele auf den Herrn gestützt, so hätte er einem Befehl, der ihn so gründlich auf die Probe stellte, nicht so bedingungslos gehorchen können. Aber Gott selbst war die lebendige und bleibende Stütze seines Herzens, und deshalb war er bereit, alles für ihn aufzugeben.

Die Seele, die „alle ihre Quellen“ (Ps 87,7) in Gott gefunden hat, kann ohne Zögern alle menschlichen Brunnen verlassen. Wir können dem Geschöpf nur insoweit entsagen, wie wir durch Erfahrung mit dem Schöpfer bekannt geworden sind und nicht mehr. Die sichtbaren Dinge auf einem anderen Weg aufgeben zu wollen, als durch die Kraft des Glaubens, der die unsichtbaren Dinge ergreift, ist die fruchtloseste Arbeit, die man sich vorstellen kann. Es ist einfach unmöglich. Die Seele wird ihren Isaak solange festhalten, bis sie alles in Gott gefunden hat. Aber wenn wir durch Glauben sagen können: „Gott ist uns Zuflucht und Stärke, eine Hilfe, reichlich gefunden in Drangsalen“, so können wir auch hinzufügen: „Darum werden wir uns nicht fürchten, wenn auch die Erde gewandelt würde, und wenn die Berge im Herzen des Meeres wankten“ (Ps 46,2.3).

Abraham gehorcht

„Und Abraham stand frühmorgens auf“ (V. 3). Er zögerte nicht; er gehorchte pünktlich. „Ich eile und säume nicht, deine Gebote zu halten“ (Ps 119,60). Der Glaube bleibt nie stehen, um auf die Umstände zu sehen oder die Folgen zu berechnen. Er schaut nur auf Gott und sagt, wie einst der Apostel: „Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte, ging ich sogleich nicht mit Fleisch und Blut zu Rate“ (Gal 1,15.16). Wenn wir uns mit Fleisch und Blut beraten, sind unser Zeugnis und unser Dienst geschwächt, denn Fleisch und Blut können nicht gehorchen. Wollen wir glücklich sein und Gott verherrlichen, so müssen wir früh aufstehen und durch die Gnade den Befehl Gottes ausführen, und wenn das Wort Gottes die Ursache unserer Tätigkeit ist, wird es unserem Handeln Kraft und Ausdauer verleihen. Handeln wir aber nur auf einen äußeren Antrieb hin, wird unsere Tätigkeit aufhören, sobald dieser Antrieb nachlässt.

Zwei Dinge sind zu einem Leben standhafter Tätigkeit erforderlich, nämlich: der Heilige Geist als Kraft, und das Wort Gottes als Führer. Beides besaß Abraham. Er hatte von Gott die Kraft empfangen zu handeln und auch das Gebot. Sein Gehorsam und seine Ergebenheit in den Willen Gottes hatten einen ganz entschiedenen Charakter, und das ist sehr wichtig. Man begegnet vielem, was wie Ergebenheit aussieht, aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als die unbeständige Tätigkeit eines Willens, der nicht der mächtigen Wirkung des Wortes Gottes unterworfen ist. Scheinbare Ergebenheit ist wertlos, und der Geist aus dem sie hervorgeht, verfliegt sehr bald. Wir können wohl Folgendes als Grundsatz feststellen: Jede Ergebenheit, die die von Gott bezeichneten Grenzen überschreitet, ist verdächtig. Erreicht sie diese Grenzen nicht, ist sie mangelhaft. Zeigt sie sich außerhalb derselben, geht sie Irrwege.

Es mag außergewöhnliche Wirkungen und Wege des Geistes Gottes geben, in denen Er sich über die gewöhnlichen Grenzen erhebt, aber in einem solchen Fall wird das Zeugnis, dass es eine göttliche Tätigkeit ist, kräftig genug sein, um jedes geistliche Gemüt zu überzeugen. Solche Ausnahmefälle widersprechen auch in keiner Weise der Wahrheit, dass wahre Ergebenheit stets auf einem göttlichen Grundsatz ruht und durch einen göttlichen Grundsatz geleitet wird. Zweifellos war das Opfern eines Sohnes eine Handlung von außergewöhnlicher Ergebenheit, aber wir müssen uns daran erinnern, dass das, was dieser Handlung in den Augen Gottes ihren wahren Wert verlieh, in der Tatsache bestand, dass diese Handlung sich auf den Befehl Gottes gründete.

Dann gibt es noch eine andere Sache, die mit wahrer Ergebenheit in Verbindung steht, und das ist ein Geist der Anbetung. „Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten“ (V. 5). Der wirklich ergebene Diener sieht nicht auf den Dienst, wie wichtig er auch sein mag, sondern er sieht auf den Herrn, und das bewirkt mit Sicherheit einen Geist der Anbetung. Wenn ich meinen irdischen Vorgesetzten liebe, so wird's mich wenig kümmern, ob ich seine Schuhe putze oder seinen Wagen fahre. Aber wenn ich mehr an mich als an ihn denke, so werde ich lieber Fahrer als Schuhputzer sein. Genauso ist es in dem Dienst des himmlischen Herrn. Wenn ich nur an ihn denke, wird es mir gleich sein, ob ich Gemeinden gründe oder Zelte mache. Wir können dasselbe im Dienst der Engel bemerken. Es ist dem Engel gleich, ob er ausgesandt wird, ein Heer zu vernichten, oder irgendeinen Erben des Heils zu beschützen. Nur der Herr beschäftigt seine Gedanken. Wenn zwei Engel vom Himmel gesandt würden, der eine, um ein Reich zu regieren, und der andere, um die Straßen zu kehren, würden sie sich sicher nicht über die Arbeitsteilung streiten. Und wenn das von den Engeln gesagt werden kann, wie viel mehr sollte es auf uns zutreffen! Der Diener sollte auf jeden Fall gleichzeitig auch Anbeter sein, und das Werk unserer Hände sollte unter Gebet getan werden. Wir sollten, mit anderen Worten, stets an unser Werk gehen in dem Geist der Worte: „Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten“. Auf diese Weise würden wir vor einem bloß mechanischen Dienst bewahrt bleiben, in den wir so leicht verfallen, wenn wir nur der Arbeit wegen arbeiten und mehr mit unserem Werk beschäftigt sind, als mit dem Herrn. Alles muss dem einfachen Glauben an Gott und dem Gehorsam gegen sein Wort entspringen.

„Durch Glauben hat Abraham, als er geprüft wurde, Isaak geopfert, und der, der die Verheißungen empfangen hatte, brachte den Eingeborenen dar“ (Heb 11,17). Nur wenn wir im Glauben leben, können wir unser Werk gottgemäß beginnen, fortsetzen und vollenden. Abraham begann nicht nur, den Weg zu gehen, um seinen Sohn zu opfern, sondern er setzte ihn auch fort, bis er den Ort erreichte, den Gott ihm genannt hatte. „Und Abraham nahm das Holz des Brandopfers und legte es auf Isaak, seinen Sohn; und in seine Hand nahm er das Feuer und das Messer; und sie gingen beide miteinander … Und Abraham baute dort den Altar und schichtete das Holz; und er band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar oben auf das Holz. Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten“ (V. 6–10). Das war ein „Werk des Glaubens“ im tiefsten Sinn des Wortes. Da war kein falscher Schein, keine Heuchelei, kein Plappern der Lippen, während das Herz fern von Gott blieb. Abraham sagte nicht: „Ich gehe, Herr!“ und ging dann doch nicht. Es war alles Wirklichkeit. Es ist leicht, mit Ergebenheit eine Schau zu machen, wenn kein Anspruch auf sie erhoben wird. Es ist leicht zu sagen: „Wenn alle an dir Anstoß nehmen werden, ich werde niemals Anstoß nehmen. … Selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen“ (Mt 26,33.35), aber es handelt sich darum, in der Versuchung standzuhalten. Als Petrus auf die Probe gestellt wurde, brach er zusammen. Der Glaube redet nie davon, was er tun will, sondern er tut, was er kann in der Kraft des Herrn. Nichts ist erbärmlicher als Hochmut und Anmaßung. Aber der Glaube handelt, wenn er auf die Probe gestellt wird, und bis dahin ist er damit zufrieden, still und verborgen zu sein.

Dass Gott durch eine solche Tat des Glaubens verherrlicht wird, braucht kaum erwähnt zu werden. Er ist Ursache und Kraft der Tat. Es gibt in der ganzen Geschichte Abrahams kein Ereignis, durch das Gott mehr verherrlicht worden wäre, als durch die Tat auf dem Berg Morija. Dort wurde Abraham befähigt, von der Tatsache Zeugnis abzulegen, dass „alle seine Quellen“ in Gott waren, und zwar nicht nur vor, sondern auch nach der Geburt Isaaks. In den Segnungen Gottes zu ruhen ist etwas anderes, als in Gott selbst zu ruhen. Auf Gott zu vertrauen, wenn der Segenskanal weit geöffnet ist, ist etwas ganz anderes als auf ihn zu vertrauen, wenn dieser Kanal verstopft ist. Die Vortrefflichkeit des Glaubens Abrahams erwies sich darin, dass er bezüglich einer unzähligen Nachkommenschaft nicht nur dann auf Gott vertrauen konnte, als Isaak in Gesundheit und Kraft vor ihm stand, sondern auch ebenso fest dann, wenn er den Knaben als ein rauchendes Opfer auf dem Altar sehen würde. Das war in der Tat ein herrliches Vertrauen, ein Vertrauen ohne jede Beimischung. Es stützte sich nicht zum Teil auf den Schöpfer und zum Teil auf das Geschöpf, sondern war auf eine feste Grundlage gegründet, auf Gott selbst. „Er urteilte, dass Gott … vermag“, rechnete aber niemals auf das, was Isaak vermochte. Isaak ohne Gott war nichts. Gott ohne Isaak war alles. Das ist ein wichtiger Grundsatz und ein Prüfstein für das Herz, um es bis auf den Grund zu erproben. Macht es mir nichts aus, wenn der Kanal all meiner Segnungen auszutrocknen beginnt? Bleibe ich der Hauptquelle nahe genug, um fähig zu sein, mit Anbetung zu sehen, wie alle menschlichen Bäche sich erschöpfen? Besitze ich ein so unerschütterliches Vertrauen auf die Allmacht Gottes, dass ich imstande bin, gleichsam auch „meine Hand auszustrecken, das Messer zu nehmen, um meinen Sohn zu schlachten“? Abraham war dazu befähigt, weil sein Auge auf den Gott der Auferstehung blickte, „wobei er urteilte, dass Gott auch aus den Toten zu erwecken vermag“ (Heb 11,17.19). Er hatte es mit Gott zu tun, und das war ihm genug. Gott erlaubte nicht, dass er den Todesstoß ausführte. Er war bis an die äußerste Grenze gegangen. Der Gott der Gnade konnte ihn nicht darüber hinausgehen lassen. Gott ersparte dem Herzen des Vaters den Schmerz, den Er sich selbst nicht erspart hat, indem Er den eigenen Sohn in den Tod gab. Er ging über diese Grenze hinaus. Gepriesen sei sein Name! „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat“ (Röm 8,32). Keine Stimme kam vom Himmel, als der Vater seinen eingeborenen Sohn auf Golgatha opferte. Nein, das Opfer wurde vollbracht, und in seiner Vollendung ist unser ewiger Friede besiegelt worden.

Der Beweis des Glaubens

Dennoch wurde die Ergebenheit Abrahams völlig erwiesen und angenommen. „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast“ (V. 12). Beachten wir, dass Gott sagt: „Nun weiß ich“. Bis dahin war der Beweis nicht geliefert worden. Der Glaube war da, und Gott wusste es, aber der wichtige Punkt ist hier, dass Gott sein Erkennen dieses Glaubens auf den Beweis gründet, den Abraham auf dem Berg Morija erbracht hatte. Der Glaube zeigt sich stets durch Tätigkeit, und die Furcht Gottes durch die Früchte, die sie hervorbringt. „Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar opferte?“ (Jak 2,21). Wer würde es wagen, seinen Glauben anzuzweifeln? Wenn man den Glauben wegnimmt, erscheint Abraham auf dem Berg Morija als ein Mörder und ein Unsinniger. Sieht man aber auf den Glauben, dann steht er vor unserer Seele als ein treuer, demütiger Anbeter, als ein gottesfürchtiger und gerechtfertigter Mensch. Aber der Glaube muss erwiesen sein. „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke?“ (Jak 2,14). Ein Bekenntnis ohne Kraft und Früchte genügt weder Gott noch Menschen. Gott sucht Wirklichkeit, und Er ehrt sie, wo Er sie findet, und was den Menschen betrifft, kann er nur die lebendige Äußerung eines Glaubens verstehen, der sich durch Werke kundgibt. Wir leben in einer Zeit der Religionsbekenntnisse. Die Sprache des Glaubens ist auf allen Lippen. Aber der Glaube selbst, der einen Menschen fähig macht, von dem Ufer der gegenwärtigen Umstände abzustoßen, und Wind und Wellen selbst dann zu trotzen, wenn der Herr eingeschlafen zu sein scheint, dieser Glaube ist eine seltene Perle.

Gerechtfertigt durch Glauben, Gerechtfertigt durch Werke

Es mag gut sein, an dieser Stelle die wunderbare Übereinstimmung zu erwähnen, die bezüglich der Rechtfertigungslehre zwischen Jakobus und Paulus besteht. Der Leser, der sich vor der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift beugt, weiß sehr wohl, dass wir es in dieser wichtigen Frage nicht mit Paulus und Jakobus, sondern mit dem Heiligen Geist zu tun haben, der diese beiden Männer gebraucht hat, um seine Gedanken niederzuschreiben, ebenso wie ich mich zum Niederschreiben meiner Gedanken eines Kugelschreibers bedienen könnte. Dass zwei göttlich inspirierte Schreiber einander widersprechen, ist unmöglich.

Es besteht, wie es nicht anders erwartet werden kann, vollkommene Übereinstimmung zwischen diesen beiden Aposteln. Bezüglich der Rechtfertigungslehre ist der eine der Ausleger des anderen. Paulus gibt uns den inneren Grundsatz, Jakobus die äußere Darstellung des Grundsatzes. Paulus stellt uns das verborgene, Jakobus das offenbare Leben vor. Paulus betrachtet den Menschen in Beziehung zu Gott, Jakobus betrachtet ihn in seinen Beziehungen zu den Menschen. Wir brauchen das eine wie das andere, denn der innere Grundsatz genügt nicht ohne das äußere Leben, so wie dieses ohne den inneren Grundsatz weder Wert noch Kraft hat. Abraham wurde gerechtfertigt, als er Gott glaubte, und Abraham wurde gerechtfertigt, als er seinen Sohn Isaak opferte. Im ersten Fall sehen wir seine verborgene Stellung, der zweite zeigt uns seine öffentliche Anerkennung durch Himmel und Erde. Es ist gut, diesen Unterschied zu verstehen. Es kam keine Stimme vom Himmel, als Abraham Gott glaubte, obwohl Gott diesen Glauben sah und ihm diesen zur Gerechtigkeit rechnete, aber als er auf dem Altar seinen Sohn Isaak opferte, konnte Gott sagen: „Nun weiß ich“, und die ganze Welt hatte einen unwiderlegbaren Beweis von der Tatsache, dass Abraham ein gerechtfertigter Mann war. Wo der innere Grundsatz besteht, wird auch die äußere Tätigkeit nicht fehlen. Man trenne für einen Augenblick die Werke Abrahams, wie Jakobus sie uns darstellt von dem Glauben Abrahams, wie Paulus ihn erklärt und man frage sich, welche rechtfertigende Kraft die Werke dann besitzen würden. Überhaupt keine. Ihr ganzer Wert, ihre ganze Wirksamkeit beruht auf der Tatsache, dass sie die äußere Offenbarung des Glaubens waren, weswegen Abraham bereits für gerecht erklärt worden war. Es besteht daher völlige Übereinstimmung zwischen Paulus und Jakobus. Die Stimme des Heiligen Geistes ist völlig gleich lautend, ob sie nun durch Paulus oder durch Jakobus vernommen wird.

Das Ergebnis der Erprobung

Kehren wir jetzt zu unserem Kapitel zurück. Es ist sehr interessant zu bemerken, wie Abraham durch die Prüfung seines Glaubens zu einer neuen Erkenntnis des Charakters Gottes geführt wird. Wenn wir fähig sind, die uns von Gott auferlegten Prüfungen zu bestehen, werden wir zweifellos neue Erfahrungen hinsichtlich seines Charakters machen und dadurch den Wert der Prüfung schätzen lernen. Hätte Abraham nicht seine Hand ausgestreckt, um seinen Sohn zu schlachten, so hätte er nie die kostbaren Reichtümer jenes Namens kennengelernt, mit dem er hier Gott nennt: „Jahve-jireh“1 (V. 14). Nur wenn wir wirklich auf die Probe gestellt werden, entdecken wir, was Gott ist. Ohne Prüfungen werden wir nur Theoretiker bleiben. Aber Gott will das nicht. Er will, dass wir eindringen in die lebendigen Tiefen, die in ihm sind, in die göttlichen Wirklichkeiten einer persönlichen Gemeinschaft mit ihm. Mit welch anderen Gefühlen und Überzeugungen muss Abraham von Morija nach Beerseba gegangen sein! Wie anders müssen seine Gedanken gewesen sein über Gott, Isaak und alle Dinge! Wir können sagen: „Glückselig der Mann, der die Prüfung erduldet!“ (Jak 1,12). Die Prüfung ist eine vom Herrn selbst verliehene Ehre, und der Segen der darin gesammelten Erfahrungen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wenn der Mensch dahin gebracht ist, dass „zunichte wird all ihre Weisheit“ (Ps 107,27), entdeckt er, was Gott ist. Möge Gott uns Gnade geben, die Versuchung zu erdulden, damit sein Name in uns verherrlicht werde!

Bestätigung der Verheißung

Bevor wir die Betrachtung dieses Kapitels schließen, möchte ich noch darauf aufmerksam machen, in welch gnädiger Weise Gott das Werk Abrahams würdigt. „Ich schwöre bei mir selbst, spricht der HERR, dass, weil du dies getan und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, ich dich reichlich segnen und deine Nachkommen sehr mehren werde, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist; und deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde besitzen; und in deinem Nachkommen werden sich segnen alle Nationen der Erde: weil du meiner Stimme gehorcht hast“ (V. 16–18). Diese Worte stehen in schönem Einklang mit den Bemerkungen des Heiligen Geistes über das Werk Abrahams in Hebräer 11 und in Jakobus 2. In beiden Schriftabschnitten wird Abraham so betrachtet, als habe er Isaak, seinen Sohn, wirklich auf dem Altar geopfert. Der Grundsatz der ganzen Sache ist dieser: Abraham zeigte sich bereit, alles außer Gott aufzugeben, und derselbe Grundsatz war es auch, der ihn zu einem gerechten Mann machte und ihn als solchen erwies. Der Glaube kann außer Gott alles entbehren. Er hat das tiefe Bewusstsein, dass Gott für alles genügt. Deshalb konnte Abraham auch die Worte: „Ich schwöre bei mir“ in ihrem ganzen Wert würdigen. Dieses wunderbare Wort „bei mir selbst“ bedeutete für den Mann des Glaubens alles. „Denn als Gott dem Abraham die Verheißung gab, schwor er, weil er bei keinem Größeren zu schwören hatte, bei sich selbst … Denn Menschen schwören bei einem Größeren, und der Eid ist ihnen das Ende allen Widerspruchs zur Bestätigung; worin Gott, da er den Erben der Verheißung die Unwandelbarkeit seines Ratschlusses überreichlicher beweisen wollte, sich mit einem Eid verbürgt hat“ (Heb 6,13.16.17). Das Wort und der Eidschwur des lebendigen Gottes sollten all den Regungen und Streitereien des menschlichen Willens ein Ende setzen und mitten im Treiben dieser stürmischen Welt den sicheren Anker der Seele bilden.

Wir haben uns immer wieder zu verurteilen wegen der geringen Kraft, die die Verheißung Gottes für unsere Herzen hat. Die Verheißung ist da, und wir bekennen, dass wir an sie glauben. Aber sie ist für uns nicht die bleibende unerschütterliche Wirklichkeit, die sie stets sein sollte, und wir ziehen nicht das Maß an Trost aus ihr, das sie eigentlich geben will. Wie wenig sind wir bereit, in der Kraft des Glaubens unseren Isaak zu opfern! Bitten wir den Herrn, dass Er uns in seiner Güte eine tiefere Einsicht in die gesegnete Wirklichkeit eines Glaubenslebens in ihm schenken möge, damit wir besser die Tragweite des Wortes verstehen können: „Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube“ (1. Joh 5,4). Nur durch den Glauben können wir die Welt überwinden. Der Unglaube stellt uns unter die Macht der zeitlichen Dinge. Er gibt der Welt den Sieg über uns, während die Seele, die durch die Unterweisung des Heiligen Geistes den Reichtum Gottes kennengelernt hat, von den Dingen auf der Erde völlig unabhängig ist.

Fußnoten

  • 1 D. i. „Der HERR wird ersehen“.
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