Betrachtungen über das erste Buch Mose

Gottes Verheißung und sein Bund mit Abram

Betrachtungen über das erste Buch Mose

Der Schild und die Belohnung Abrams

„Nach diesen Dingen erging das Wort des HERRN zu Abram in einem Gesicht, und er sprach: Fürchte dich nicht, Abram; ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn“ (V. 1). Der Herr wollte nicht zulassen, dass sein Diener irgendeinen Verlust erlitt, wenn er die Angebote der Welt ausschlug. Es war weit besser für Abraham, Schutz hinter dem Schild des Herrn zu finden und seines „sehr großen Lohnes“ teilhaftig zu sein, als Zuflucht unter der Herrschaft des Königs von Sodom zu suchen und die „Habe Sodoms“ anzunehmen. Der in dem ersten Vers unseres Kapitels angedeutete Platz, auf den Abraham gestellt wird, redet in schöner Weise von der Stellung, in die jede Seele durch den Glauben an Christus eingeführt wird. Der HERR war Abrahams „Schild“, so dass er in ihm ruhen konnte, und Er war sein „Lohn“, so dass er auf ihn warten konnte. Genauso ist die Situation des Gläubigen heute: Er findet seine Ruhe, seinen Frieden, seine Sicherheit in Christus. Kein Pfeil des Feindes kann den Schild durchdringen, der auch den schwächsten Jünger Christi deckt. Und die Zukunft? Christus füllt sie aus. Welch ein kostbares Teil! Welch eine Hoffnung! Ein Teil, das nie erschöpft werden kann, eine Hoffnung, die nie enttäuscht. Das eine wie das andere ist unabänderlich gesichert durch die Ratschlüsse Gottes und durch das vollbrachte Opfer Christi, und wir genießen jetzt diese Dinge durch den Dienst des in uns wohnenden Heiligen Geistes. Deswegen liegt es auf der Hand, dass der Gläubige, der ein weltliches Ziel verfolgt oder fleischlichen Begierden nachhängt, sich weder über den „Schild“ noch den „Lohn“ freuen kann. Wenn der Heilige Geist betrübt ist, so wird Er das nicht darreichen, was das besondere Teil und die besondere Hoffnung des Gläubigen ausmacht. Wir sehen daher in diesem Teil der Geschichte Abrahams, dass, nachdem er aus der Schlacht der Könige zurückgekehrt war und das Angebot des Königs von Sodom ausgeschlagen hatte, der HERR in einem doppelten Charakter, als „sein Schild und sein sehr großer Lohn“, vor seine Seele tritt.

Der Sohn als Erbe

Der übrige Teil unseres Kapitels stellt uns die beiden Grundsätze der Sohnschaft und des Erbrechtes vor Augen. „Und Abram sprach: Herr HERR, was willst du mir geben? Ich gehe ja kinderlos dahin, und der Erbe meines Hauses, das ist Elieser von Damaskus. Und Abram sprach: Siehe, mir hast du keinen Nachkommen gegeben, und siehe, der Sohn meines Hauses wird mich beerben“ (V. 2.3). Abraham wünschte einen Sohn, denn er wusste auf Grund des Wortes Gottes, dass „sein Nachkomme“ das Land erben sollte (vgl. Kap. 13,15). Sohnschaft und Erbrecht sind in den Gedanken Gottes untrennbar miteinander verbunden. „Der aus deinem Leib hervorgehen wird, der wird dich beerben“ (V. 4). Die Sohnschaft ist die eigentliche Grundlage von allem. Sie ist außerdem das Ergebnis des unumschränkten Ratschlusses und des Wirkens Gottes, – wie wir im Brief des Jakobus lesen: „Er hat uns nach seinem eigenen Willen gezeugt“ (Jak 1,18). Schließlich gründet sie sich auf Gottes ewigen Grundsatz der Auferstehung. Wie könnte es anders sein? Der Leib Abrahams war bereits „erstorben“, so dass es in seinem wie in jedem anderen Fall eine Sohnschaft in der Macht der Auferstehung sein musste. Die Natur ist tot und kann für Gott weder etwas hervorbringen noch etwas empfangen. Das Erbteil in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit breitet sich vor den Augen des Patriarchen aus, aber wo war der Erbe? Der Leib Abrahams und der Mutterleib Sarahs waren bereits „erstorben“, aber der HERR ist der Gott der Auferstehung, und ein „erstorbener Leib“ bot deshalb der Macht Gottes nur Gelegenheit zum Handeln. Wäre die Natur nicht tot gewesen, so hätte Gott sie vorher sterben lassen müssen, um seine Macht völlig offenbaren zu können, denn der eindrucksvollste Schauplatz für den lebendigen Gott ist da, wo die Natur mit ihren hoch gerühmten Kräften und ihrer Anmaßung durch das Urteil des Todes verbannt ist. Deshalb lautete das Wort Gottes an Abraham: „Blicke doch zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So wird deine Nachkommenschaft sein!“ (V. 5). Wenn der Geist der Auferstehung die Seele erfüllt, gibt es keine Grenzen für ihre Segnungen, denn der Gott, der Tote lebendig macht, kann alles bewirken.

Der Glaube, der rechtfertigt

Abraham „glaubte dem HERRN; und er rechnete es ihm zur Gerechtigkeit“ (V. 6). Die hier dem Abraham zugerechnete Gerechtigkeit gründete sich auf seinen Glauben an Gott als den, der Tote lebendig macht. Gerade in diesem Charakter offenbart sich Gott in einer Welt, wo der Tod herrscht, und die Seele, die an ihn als an einen solchen Gott glaubt, wird vor Gott als gerecht anerkannt. Dadurch wird natürlich der Mensch von einer Mitwirkung völlig ausgeschlossen, denn was kann er in einer Szene des Todes tun? Kann er Tote auferwecken? Kann er die Pforten des Grabes öffnen? Kann er sich der Macht des Todes entziehen und außerhalb dieses traurigen Bereichs Leben und Freiheit erlangen? Keineswegs, und deshalb kann er auch weder Gerechtigkeit hervorbringen noch sich in das Verhältnis eines Kindes versetzen. „Gott ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk 12,27), und darum kann ein Mensch, solange er sich unter der Macht des Todes und unter der Herrschaft der Sünde befindet, weder die Stellung eines Kindes noch den Zustand der Gerechtigkeit kennen. Gott allein kann also die Stellung der Sohnschaft schenken, und nur Er kann Gerechtigkeit zurechnen, und beides knüpft sich an den Glauben an ihn als den Gott, der Christus aus den Toten auferweckt hat.

In dieser Weise behandelt der Apostel die Frage, wenn er im 4. Kapitel des Römerbriefes den Glauben Abrahams schildert: „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, dass es ihm zugerechnet worden ist, sondern auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat“ (V. 23.24). Der Gott der Auferstehung wird „auch uns“ hier als der Gegenstand des Glaubens dargestellt, und unser Glaube an ihn als die alleinige Grundlage unserer Gerechtigkeit genannt. Hätte Abraham seinen „schon erstorbenen“ Leib angesehen, nachdem er das mit unzähligen Sternen besäte Himmelsgewölbe betrachtet hatte, so hätte er nie den Gedanken fassen können, dass seine Nachkommen so zahlreich wie eben diese Sterne sein sollten. Aber er blickte nicht auf seinen eigenen Leib, sondern auf die Auferstehungsmacht Gottes, und da diese Macht es war, die den verheißenen Nachkommen hervorbringen sollte, können wir verstehen, dass die Sterne des Himmels und der Sand am Ufer des Meeres nur ganz schwache Bilder waren, denn welches Bild könnte die Wirkung einer Macht erläutern, die Tote auferwecken kann?

Der Glaube an den gestorbenen und auferstandenen Christus

Ebenso würde ein Sünder, nachdem er die gute Botschaft des Evangeliums gehört und das reine Licht der Gegenwart Gottes geschaut hat, beim Erkennen der unergründlichen Tiefen seiner sündigen Natur mit Recht ausrufen: „Wie werde ich je fähig sein, in diesem Licht zu wohnen?“ Wo ist die Antwort? In ihm selbst? Nein, die Antwort ist in unserem hochgelobten Herrn, der aus dem Schoß des Vaters kam und bis zum Kreuz, ja, bis ins Grab hinabstieg, und der von dort aus auf den Thron erhöht worden ist, so dass Er durch seine Person und durch sein Werk den ganzen Raum ausfüllte, der diese beiden äußersten Endpunkte voneinander trennt. Es kann nichts Höheres geben, als den Schoß des Vaters, diesen ewigen Wohnplatz des Sohnes, und nichts Niedrigeres als das Kreuz und das Grab, aber wie wunderbar ist es, dass ich Christus im Schoß des Vaters finde und auch im Grab. Er stieg in den Tod hinab, um im Staub des Grabes die ganze Last der Sünden und Ungerechtigkeiten seines Volkes zurückzulassen. Christus im Grab stellt uns das Ende alles dessen vor Augen, was menschlich ist, das Ende der Sünde. In ihm ist zugleich der Macht Satans für immer eine Schranke gesetzt. Das Grab Jesu ist der große Abschluss von allem. Die Auferstehung jedoch führt uns über diesen Abschluss hinaus und bildet die unvergängliche Grundlage für die Herrlichkeit Gottes und die Segnung des Menschen. Sobald das Auge des Glaubens sich auf einen auferstandenen Christus richtet, findet es in ihm eine triumphierende Antwort auf Sünde, Gericht, Tod und Grab. Der, der allen diesen Dingen in göttlicher Weise begegnet ist, ist aus den Toten auferweckt worden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in den Himmeln, und nicht nur das, der Geist des auferweckten und verherrlichten Christus in dem Gläubigen macht ihn zum Sohn. Der Gläubige ist gleichsam aus dem Grab Christi heraus lebendig gemacht, wie wir lesen: „Und euch, als ihr tot wart in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat“ (Kol 2,13).

Durch Leiden zum Erbe

Weil die Sohnschaft auf die Auferstehung gegründet ist, steht sie in Verbindung mit vollkommener Rechtfertigung, Gerechtigkeit und Befreiung von allem, was in irgendeiner Weise gegen uns sein könnte. Gott könnte uns den Zutritt in seine Gegenwart nicht gestatten, wenn irgendeine Sünde an uns wäre, Er kann nicht einen einzigen Flecken von Sünde an seinen Söhnen und Töchtern dulden. Der Vater des verlorenen Sohnes konnte diesem keinen Platz an seinem Tisch anweisen, so lange er noch in Lumpen des fernen Landes gekleidet war. Er konnte ihm entgegengehen, ihm um den Hals fallen und ihn in seinen Lumpen küssen, und dies war eine seiner Gnade würdige Handlung, aber es war unmöglich, den zerlumpten Sohn an seinem Tisch Platz nehmen zu lassen. Die Gnade, die den Vater dem verlorenen Sohn entgegentrieb, herrscht durch die Gerechtigkeit, die den Verlorenen in das Haus und in die Nähe des Vaters führte. Es wäre nicht Gnade gewesen, wenn der Vater auf den Sohn gewartet hätte, bis dieser sich in neue, selbst beschaffte Kleider gekleidet hätte, und ebenso wenig wäre es gerecht gewesen, ihn in seinen Lumpen ins Haus zu bringen. Jedoch Gnade und Gerechtigkeit strahlen in ihrem vollen Glanz, wenn der Vater dem verlorenen Sohn entgegenläuft und ihm um den Hals fällt, ihm aber dennoch nicht eher einen Platz an seinem Tisch gibt, bis er seiner hohen Stellung würdig gekleidet ist. Gott ist in Christus bis zu der niedrigsten Stufe des Zustandes des Menschen hinabgestiegen, um ihn durch diese Erniedrigung bis zur höchsten Stufe der Glückseligkeit in Gemeinschaft mit sich selbst zu erheben. Hieraus geht hervor, dass unsere Kindschaft mit allen damit verbundenen Vorrechten durchaus unabhängig von uns selbst ist. Wir haben ebenso wenig damit zu schaffen, wie der erstorbene Leib Abrahams und der erstorbene Mutterleib Sarahs mit einer Nachkommenschaft, die den zahllosen Sternen des Himmels und dem Sand am Meerufer gleichen sollte. Alles ist von Gott. Gott der Vater entwarf den Plan, Gott der Sohn legte die Grundlage, und Gott der Heilige Geist führt den Bau aus, und dieser Bau trägt die Inschrift: „Durch Gnade, durch Glauben, ohne Gesetzeswerke“ (Röm 3,28; Eph 2,8).

Aber unser Kapitel stellt uns noch einen anderen wichtigen Gegenstand vor Augen, nämlich das Erbrecht. Nachdem die Frage der Sohnschaft und der Gerechtigkeit göttlich geordnet war, sprach Gott zu Abraham: „Ich bin der HERR, der dich herausgeführt hat aus Ur in Chaldäa, um dir dieses Land zum Besitz zu geben“ (V. 7). Hier wird die wichtige Erbschaftsfrage behandelt und der Weg beschrieben, den die erwählten Erben zu gehen haben, bevor sie das verheißene Erbe erreichen. „Wenn aber Kinder, so auch Erben – Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir nämlich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden“ (Röm 8,17). Unser Weg zum Reich führt durch Leiden, Kummer und Trübsal, aber durch den Glauben können wir sagen, dass „die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm 8, 18). Wir wissen ferner, dass „das schnell vorübergehende Leichte unserer Trübsal uns ein über jedes Maß hinausgehendes, ewiges Gewicht von Herrlichkeit bewirkt“ (2. Kor 4,17), und endlich „rühmen wir uns auch der Trübsale, da wir wissen, dass die Trübsal Ausharren bewirkt, das Ausharren aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung“ (Röm 5,3.4).

Es ist eine hohe Ehre und ein Vorrecht für uns, wenn es uns erlaubt wird, aus dem Kelch unseres Herrn zu trinken, mit seiner Taufe getauft zu werden und in seiner Gemeinschaft den Weg zu gehen, der zu unserem Erbteil führt. Der Erbe wie die Miterben erreichen dieses Erbteil auf dem Weg des Leidens.

Erinnern wir uns jedoch, dass die Leiden, an denen die Miterben teilhaben, nichts mit Strafe zu tun haben. Es ist kein Leiden wegen der Sünde unter der Hand der göttlichen Gerechtigkeit, denn dieses Leiden hat Christus, das Schlachtopfer Gottes, am Kreuz, vollkommen erduldet, als Gottes Gerechtigkeit ihn schlug. „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten“ (1. Pet 3,18), und dieses „einmal“ geschah am Kreuz und sonst nirgends. Nie hat Er vorher für Sünden gelitten, und nie wird Er von neuem für Sünden leiden können. „Jetzt aber ist Er einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer.“ „Christus ist einmal geopfert worden“ (Heb 9,26.28).

Es gibt zwei Gesichtspunkte, unter denen wir den leidenden Christus betrachten können: Zunächst als von Gott geschlagen, und dann als von den Menschen verworfen. In dem ersten Leiden stand Er ganz allein, in dem Zweiten haben wir das Vorrecht, mit ihm vereint zu sein. In dem ersten Leiden musste Er ganz allein sein, denn wer hätte ihm zur Seite stehen können? Er trug allein den Zorn Gottes. Einsam stieg Er hinab in den „immer fließenden Bach, in dem nicht gearbeitet und nicht gesät wird“ (5. Mo 21,4), und dort ordnete Er für immer die Frage unserer Sünden. An diesen Leiden Christi hatten wir keinen Teil, obwohl wir ihnen alles verdanken. Ganz allein hat Er gekämpft und gesiegt, aber Er teilt die Beute mit uns. Er war allein „in der Grube des Verderbens, in kotigem Schlamm“ (Ps 40,3). Sobald Er aber seinen Fuß auf den ewigen „Fels“ der Auferstehung stellte, vereinigte Er uns mit sich. Er war allein, als Er am Kreuz den „lauten Schrei“ ausstieß (Mk 15,37), aber Er hat Gefährten, wenn Er das „neue Lied“ singt (Ps 40,4).

Nun ergibt sich die Frage: Wollen wir uns weigern, mit ihm zu leiden von Seiten der Menschen, nachdem Er für uns von Seiten Gottes gelitten hat? Dass es in gewissem Sinn eine Frage ist, geht daraus hervor, dass der Heilige Geist in diesem Zusammenhang beständig das Wörtchen „wenn“ gebraucht. „Wenn wir anders mitleiden“ (Röm 8,17); „wenn wir ausharren, so werden wir auch mit herrschen“ (2. Tim 2,12). Es gibt kein „wenn“ bezüglich der Kindschaft. Wir erlangen nicht durch Leiden die hohe Stellung von Söhnen, sondern durch die lebendig machende Kraft des Heiligen Geistes, gegründet auf das vollbrachte Werk Christi, gemäß dem ewigen Ratschluss Gottes. Diese Stellung ist unantastbar. Aber als solche, die der Familie Gottes angehören, die sich als Kinder bereits im Haus befinden, sind wir berufen zu leiden. Unser Weg zum Reich führt allerdings durch Leiden, und das Maß dieses Leidens entspricht unserer Hingabe für den König und unserer Gleichförmigkeit mit ihm. Je mehr wir ihm ähnlich sind, desto mehr werden wir mit ihm leiden, und je tiefer unsere Gemeinschaft mit ihm ist im Leiden, desto tiefer wird sie auch mit ihm sein in der Herrlichkeit.

Es besteht ein Unterschied zwischen dem Haus des Vaters und dem Reich des Sohnes. Das Erste spricht von Fähigkeit, das Zweite von einer angewiesenen Stellung. Alle meine Kinder können rund um meinen Tisch sitzen, aber ihre Freude an meiner Gesellschaft und meiner Unterhaltung hängt ganz von ihrer Fähigkeit ab. Eins mag in der vollen Freude über sein Kindes-Verhältnis auf meinem Schoß sitzen, ohne aber fähig zu sein, ein einziges meiner Worte zu verstehen, während ein anderes vielleicht ungewöhnliche Intelligenz in der Unterhaltung zeigt, ohne deshalb etwa in seinem Verhältnis zu mir glücklicher zu sein als das Kind auf meinen Knien. Aber sobald es sich um den Dienst meiner Kinder für mich oder um ihre öffentliche Identifizierung mit mir handelt, liegt die Sache ganz anders. Dieser Vergleich ist jedoch nur eine schwache Erläuterung des Gedankens von der Fähigkeit im Haus des Vaters und der angewiesenen Stellung im Reich des Sohnes.

Wir sollten jedoch stets daran denken, dass unser Leiden mit Christus nicht knechtisches Joch ist, sondern ein Vorrecht, nicht ein eisernes Gesetz, sondern eine Gabe der Gnade, nicht ein gezwungener Dienst, sondern eine freiwillige Hingabe. Denn euch ist es in Bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, „sondern auch für ihn zu leiden“ (Phil 1,29). Ferner unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass das wahre Geheimnis des Leidens für Christus darin besteht, dass die Zuneigungen unserer Herzen in ihm ihren Mittelpunkt finden. Je mehr ich Jesus liebe, in desto engerer Gemeinschaft mit ihm werde ich meinen Weg gehen, je näher ich mit ihm verbunden bin, umso treuer werde ich ihn nachahmen, und je treuer ich ihn nachahme, so viel mehr werde ich mit ihm leiden. So hat alles seine Ursache in der Liebe zu Christus, und es ist eine Grundwahrheit, dass wir ihn lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat. Hüten wir uns in diesem wie in jedem anderen Punkt vor einem gesetzlichen Geist, denn wir dürfen nicht meinen, dass jemand für Christus leidet, der unter dem Joch der Gesetzlichkeit steht. Es ist vielmehr zu befürchten, dass solch einer weder Christus noch die gesegnete Stellung der Kindschaft kennt, dass er nicht in der Gnade befestigt ist, sondern eher versucht, durch Gesetzeswerke in die Familie einzutreten, als auf dem Weg des Leidens das Reich zu erreichen.

Hüten wir uns aber auch andererseits, dass wir nicht vor dem Kelch und der Taufe unseres Herrn zurückweichen. Wir können uns nicht der Segnungen rühmen, die sein Kreuz uns sichert, während wir uns weigern, an der Verwerfung teilzunehmen, die dieses Kreuz in sich schließt! Wir dürfen überzeugt sein, dass auf dem Weg zum Reich nicht die Gunst und das Glück dieser Welt zu finden sind. Wenn ein Christ in der Welt vorwärts kommt, so hat er große Ursache zu fürchten, dass er seinen Weg nicht in Gemeinschaft mit Christus geht. „Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein!“ (Joh 12,26). Was war das Ziel der irdischen Laufbahn Christi? Strebte Er nach Einfluss und nach einer hohen Stellung in dieser Welt? Nein. Er fand seinen Platz auf dem Kreuz zwischen zwei verurteilten Verbrechern. „Aber“, wird man sagen, „Gott hatte seine Hand darin.“ Allerdings, aber auch des Menschen Hand war im Spiel. Und diese Wahrheit zieht unvermeidlich unsere Verwerfung seitens der Welt nach sich, wenn wir nur in Gemeinschaft mit Christus sind. Unsere Vereinigung mit Christus, die uns den Himmel öffnet, wirft uns aus dieser Welt hinaus, und wenn wir von dem Ersten reden, ohne von dem Zweiten etwas zu erfahren, beweist dies nur, dass bei uns etwas nicht in Ordnung ist. Wenn Christus heute auf der Erde wäre, wie würde sein Weg sein, und wo würde er enden? Würden wir gerne mit ihm gehen? Gott schenke uns Gnade, diese Fragen im Licht seines Wortes zu beantworten, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert, und möge der Heilige Geist uns treu machen für unseren gekreuzigten und verworfenen Herrn! Wer im Geist lebt, wird von Christus erfüllt sein und sich nicht mit den Leiden, sondern mit dem beschäftigen, für den er leidet. Wenn das Auge auf Christus ruht, wird das Leiden unbedeutend erscheinen im Vergleich mit der gegenwärtigen Freude und der zukünftigen Herrlichkeit.

Vorausblick auf die Geschichte Israels

Wir wollen jetzt noch einen Blick auf das bedeutungsvolle Gesicht Abrahams werfen, das uns in den Schlussversen unseres Kapitels mitgeteilt wird. „Und es geschah, als die Sonne untergehen wollte, da fiel ein tiefer Schlaf auf Abram; und siehe, Schrecken, dichte Finsternis überfiel ihn. Und Er sprach zu Abram: Du sollst sicher wissen, dass deine Nachkommen Fremde sein werden in einem Land, das nicht das ihre ist; und sie werden ihnen dienen, und sie werden sie bedrücken 400 Jahre. Aber ich werde die Nation auch richten, der sie dienen werden; und danach werden sie ausziehen mit großer Habe … Und es geschah, als die Sonne untergegangen und dichte Finsternis eingetreten war, siehe da, ein rauchender Ofen und eine Feuerflamme, die zwischen jenen Stücken hindurchfuhr“ (V. 12–17).

Man kann sagen, dass die ganze Geschichte Israels in diesen zwei Bildern des „rauchenden Ofens“ und der „Feuerflamme“ zusammengefasst ist. Der „rauchende Ofen“ zeigt uns die verschiedenen Zeitabschnitte, in denen die Israeliten in Leiden und Trübsale gebracht waren, wie z. B. in der langen Sklaverei in Ägypten, in der Zeit ihrer Unterwerfung unter die Könige Kanaans, in der babylonischen Gefangenschaft, und schließlich in ihrer seitherigen Zerstreuung und Erniedrigung. Während dieser Zeitabschnitte sehen wir Israel gleichsam durch den rauchenden Ofen gehen (siehe 5. Mo 4,20; 1. Kön 8,51; Jes 48,10).

Die Feuerflamme hingegen bildet jene Abschnitte in der ereignisvollen Geschichte Israels, in denen der HERR in Gnade erschien, um ihnen beizustehen, wie z. B. die Befreiung aus Ägypten durch die Hand Moses, die Befreiung von der Macht der Könige Kanaans durch den Dienst der verschiedenen Richter, die Rückkehr aus Babylon auf den Befehl des Cyrus, sowie am Ende die Befreiung des Volkes, wenn Christus in seiner Herrlichkeit erscheinen wird. Das Erbe muss durch den rauchenden Ofen hindurch erreicht werden, und je finsterer der Rauch des Ofens ist, desto glänzender und herrlicher wird die „Feuerflamme“ des Heils Gottes sein.

Dieser Grundsatz ist auch nicht nur auf das Volk Gottes insgesamt anwendbar, sondern ebenso gut auf Einzelne. Alle, die je eine hervorragende Stellung als Diener erlangt haben, sind durch den rauchenden Ofen gegangen, ehe sie sich der Feuerflamme erfreuen durften. „Schrecken und dichte Finsternis“ erfüllten den Geist Abrahams. Jakob musste zwanzig Jahre lang im Haus Labans mühsame Arbeiten verrichten. Joseph fand seinen rauchenden Ofen des Elends in den Kerkern Ägyptens. Mose brachte vierzig Jahre in der Wüste zu. So muss es mit den Dienern Gottes stets sein. Sie müssen zunächst „erprobt“ werden, und erst, wenn sie „untadelig“ erfunden sind, können sie ihren Dienst antreten (vgl. 1. Tim 3,10).

Ein Kind Gottes und ein Diener Christi zu sein, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Ich mag mein Kind sehr lieb haben, aber wenn ich es im Garten an die Arbeit stelle, tut es vielleicht mehr Falsches als Gutes. Warum? Etwa deshalb, weil es nicht ein geliebtes Kind ist? Nein, sondern weil es nicht geübt ist. Darin besteht der Unterschied. Verhältnis und Dienst sind zwei verschiedene Dinge. Das heißt nicht, dass nicht alle Kinder Gottes etwas zu tun, zu leiden und zu lernen haben. Sie haben es ohne Zweifel, aber es bleibt stets wahr, dass der öffentliche Dienst und die geheime Zucht in den Wegen Gottes eng miteinander verbunden sind. Jeder, der viel an die Öffentlichkeit tritt, braucht eine demütige Gesinnung, ein gereiftes Urteil, einen unterwürfigen und der Welt abgestorbenen Geist, einen gebrochenen Willen, einen sanften Ton, kurz, all die schönen und sicheren Ergebnisse der geheimen Zucht Gottes, und wir werden sehen, dass alle, die einen hervorragenden Platz einnehmen, ohne diese Eigenschaften in irgendeinem Maß zu besitzen, früher oder später ermatten.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel