Der zweite Brief an Timotheus

Die Tröstungen für den Gottesfürchtigen in den Tagen des Verfalls

Der zweite Brief an Timotheus

Der Geist Gottes steht im Begriff, uns den Verfall des Hauses Gottes und das ständig zunehmende Versagen des christlichen Bekenntnisses während dieser ganzen Haushaltung – mit seinem Höhepunkt in den letzten Tagen – vorzustellen. Ein solch schreckliches Gemälde von dem hoffnungslosen Zusammenbruch des Christentums vermag auch das unerschrockenste Herz zu bestürzen. Deshalb bemüht sich der Apostel, bevor er den Verfall beschreibt, unsere Seelen zu befestigen und unsere Zuversicht auf Gott zu bestärken, indem er uns unsere unvergänglichen Hilfsquellen in Gott vorstellt. Daher ziehen im ersten Kapitel das Leben, das in Christo Jesu ist (Vers 1), die Dinge, die Gott uns gegeben hat (Verse 6 und 7), das Zeugnis unseres Herrn (Vers 8), die Errettung und Berufung Gottes (Verse 9 und 10), der Tag der Herrlichkeit, bezeichnet als 'jener Tag' (Verse 12 und 18), und die gesunden Worte der Wahrheit, denen keine Irrlehre Schaden zufügen kann (Vers 13), vor unseren Augen vorbei.

Vers 1: Paulus beginnt diesen Brief damit, dass er seine Empfehlungen vorstellt. Er schreibt mit aller Autorität als „Apostel Christi Jesu“. Es ist also gut für uns, wenn wir den Brief unter dem Gesichtspunkt lesen, dass er uns eine Botschaft von Jesus Christus durch Seinen Gesandten bringt. Die Apostelschaft Paulus beruhte nicht auf der Ordination oder dem Willen von Menschen, sondern auf dem Willen Gottes. Außerdem war Paulus durch Jesus Christus auf diesen Schauplatz des Todes gesandt worden, indem er die Erfüllung der Verheißung des Lebens vor Augen hatte – des Lebens, das in seiner ganzen Fülle in dem verherrlichten Christus Jesus geschaut wird. Wie so oft bei dem Apostel Paulus wird das 'Leben' hier in seiner Fülle in Herrlichkeit gesehen, und in diesem Sinn verweist es als eine Verheißung darauf. Kein Verderben der Versammlung kann dieses Leben, das in Christus Jesus ist und jedem wahren Gläubigen gehört, antasten.

Verse 2 bis 5: Der Apostel kann Timotheus als sein „geliebtes Kind“ anreden. Welch ein Trost, dass es auch in den Tagen des Niedergangs solche gibt, denen gegenüber wir unsere Zuneigung rückhaltlos ausdrücken können und denen wir in allem Vertrauen unser Herz ausschütten können. Zwei wesentliche Merkmale bei Timotheus riefen die Liebe und das Vertrauen von Paulus hervor: als erstes war er sich der Tränen des Timotheus bewusst, und als zweites erinnerte er sich seines ungeheuchelten Glaubens. Die Tränen von Timotheus bewiesen, dass er ein Mann von tiefen geistlichen Empfindungen war, der den niedrigen und zerrütteten Zustand des christlichen Bekenntnisses fühlte; sein ungeheuchelter Glaube bewies, dass er in der Lage war, sich im Gehorsam und Vertrauen auf Gott über all dies Böse zu erheben.

Timotheus mag tatsächlich von scheuer Natur gewesen sein, und daher in Gefahr gestanden haben, durch das in die Versammlung eindringende Böse überwältigt zu werden; da er aber durch Tränen und Glauben gekennzeichnet war, wurde der Apostel ermutigt, ihn zu unterweisen und zu ermahnen. Paulus wusste, dass Timotheus Eigenschaften besaß, die ihn befähigten, seinem Aufruf zu folgen. Auch heute ist dies nicht anders. Die Belehrungen dieses Briefes werden nur geringe Ergebnisse haben, es sei denn, dass bei dem Leser Tränen da sind, die von einem empfindsamen Herzen zeugen, das die Sorgen des Volkes Gottes beklagt, und dass der Weg Gottes inmitten des Verfalls im Glauben gegangen wird.

Paulus freute sich darüber, sich in seinen Gebeten an diesen Mann der Tränen und des Glaubens zu erinnern. Welch eine Ermunterung für jeden Heiligen, der wegen des Zustandes des Volkes Gottes ein gebrochenes Herz hat, zu wissen, dass es treue und hingebungsvolle Heilige gibt, die im Gebet an ihn denken. Treue in den Tagen des Verlassenseins bindet die Herzen in dem Band der göttlichen Liebe zusammen.

Vers 6: Nachdem Paulus seiner Liebe und seinem Vertrauen zu Timotheus Ausdruck gegeben hat, geht er nun zu Ermahnungen, Ermunterungen und Unterweisungen über. Als erstes ermahnt er Timotheus, „die Gnadengabe Gottes anzufachen“, die ihm für den Dienst für den Herrn verliehen worden war. In dem Fall des Timotheus wurde sie diesem durch den Apostel zuteil. In Anbetracht der Schwierigkeiten, der Gefahren und der allgemeinen Untreue, wenn es anscheinend nur wenig Ergebnisse in dem Dienst für den Herrn gibt, ist die Gefahr groß, zu denken, es sei beinahe nutzlos, die Gnadengabe zu benutzen und auszuüben. Deshalb haben wir nötig, davor gewarnt zu werden, die Gnadengaben zu vernachlässigen und nicht mehr auszuüben. Wir sollen sie anfachen und in den Tagen des Verfalls umso mehr beharrlich benutzen. Etwas später sagt der Apostel: „Predige das Wort, halte darauf zu gelegener und ungelegener Zeit“ (Kapitel 4, 2).

Vers 7: Nachdem Paulus von den Gaben gesprochen hat, die in besonderer Weise Einzelnen gegeben sind, geht er nun dazu über, Timotheus auf die Gabe hinzuweisen, die alle Gläubigen miteinander gemein haben. Gott gibt Einzelnen besondere Gaben für den Dienst des Wortes, aber Seinem ganzen Volk gibt Er den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Es scheint hier kaum eine Anspielung auf den Heiligen Geist zu sein, obwohl die Gabe des Geistes indirekt darin einbegriffen ist. Es ist vielmehr der Zustand und die Gesinnung des Gläubigen als Ergebnis der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, und hat deshalb den Charakter des Geistes an sich, wie auch der Herr Jesus gesagt hat: „Was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3, 6). Von Natur her mag Timotheus schüchtern und zurückhaltend in seiner Veranlagung gewesen sein, aber der Heilige Geist bewirkt nicht einen Geist der Furchtsamkeit, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. In den natürlichen Menschen können wir Kraft ohne Liebe finden, oder Liebe, die zu bloßer Sentimentalität verkümmert ist. Bei einem Christen, der unter der Leitung des Geistes steht, ist die Kraft verbunden mit der Liebe, und die Liebe drückt sich in der Besonnenheit aus.

Wie schwierig die Zeiten auch sein mögen, der Gläubige ist also gut ausgerüstet mit Kraft, um den Willen Gottes zu tun, um der Liebe Gottes Ausdruck zu geben, und um inmitten des Verfalls ein nüchternes Urteil walten zu lassen.

Vers 8: Nachdem der Apostel uns an den uns gegebenen Geist der heiligen Kühnheit erinnert hat, kann er nun sofort sagen: „So schäme dich nun nicht des Zeugnisses unseres Herrn noch meiner, seines Gefangenen“. Das Zeugnis unseres Herrn ist das Zeugnis von der Herrlichkeit Christi, die Ihn als Mensch in höchster Macht vorstellt, nachdem Er über alle Macht Satans triumphiert hat.

Petrus schämte sich des Zeugnisses unseres Herrn nicht, denn er bezeugte kühn: „Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, dass Gott ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat“ (Apg 2, 36). Jemand hat gesagt: „Nachdem der Teufel den Menschen dazu verführt hat, sein Äußerstes gegen Christus aufzubieten, siehe – Jesus ist über alles mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Dies ist zweifellos der Sieg“.

So war der Apostel in jenen Tagen, in denen das Verderben inmitten des Volkes Gottes eingedrungen war, wo Satan darüber triumphierte, dass Paulus im Gefängnis war, die Heiligen sich von ihm abgewandt hatten und das Böse ständig zunahm, durch diese Umstände hindurch erhalten und aufgerichtet worden. Er hatte all dies Versagen tief empfunden, doch er war sich bewusst, dass der Herr Jesus auf dem Platz höchster Autorität über jeden Einfluss Satans erhoben ist. Der Herr in der Herrlichkeit war seine Hilfsquelle. Deshalb konnte er sagen: „Der Herr stand mir bei und stärkte mich“; „Der Herr wird mich retten von jedem bösen Werk und bewahren für sein himmlisches Reich“ (Kapitel 4, 17.18).

Wir reden mit Recht viel über Christus auf Seinem Weg über diese Erde, über Christus auf dem Kreuz, und über den wiederkommenden Christus; aber wie selten reden wir über Christus, wie Er gegenwärtig in der Herrlichkeit Gottes ist und gerade dies ist das Zeugnis unseres Herrn; das große Zeugnis, das in dieser Zeit so nötig ist, das Zeugnis, dessen sich zu schämen wir gewarnt werden.

Wie groß der Verfall auch sein mag, wie viel Versagen es unter dem Volk Gottes geben mag, wie vielen Schwierigkeiten wir zu begegnen haben mögen, wie viel Heilige sich auch abwenden mögen (Kapitel 1, 15), wie groß der Eigenwille der Widersacher sein mag (Kapitel 2, 25.26), wie groß die Bosheit derer sein mag, die uns Böses erzeigen (Kapitel 4, 14) – wir finden unsere nie versagende Hilfsquelle in dem Herrn Jesus zur Rechten Gottes. Wenn wir wie der Apostel auf Ihn blicken, erheben wir uns über alles Versagen entweder in uns selbst, oder in anderen. Aber ach! In unseren Schwierigkeiten versuchen wir zu allem Unglück noch, sie in unserer eigenen Kraft zu beseitigen; während, wenn wir uns an den Herrn wenden, wir wie Paulus finden werden, dass der Herr mit uns ist, um uns zu kräftigen und uns von jedem bösen Werk zu befreien.

Wie notwendig ist es dann, dass wir von der gegenwärtigen Stellung des Herrn an dem Platz der Vormachtstellung und Macht als Mensch in der Herrlichkeit ein deutliches Zeugnis ablegen. In Ihm finden wir jede Hilfsquelle, damit wir selbst in den dunkelsten Tagen erhalten werden.

Wir wollen uns darüber hinaus davor hüten, uns solcher zu schämen, die in den Tagen des allgemeinen Abweichens kühn versuchen, dem Herrn Seinen gebührenden Platz einzuräumen; und wir wollen bereit sein, wenn es nötig ist, Trübsal zu leiden in der Aufrechterhaltung des Evangeliums, indem wir wissen, dass wir auf die Kraft Gottes zu unserer Unterstützung rechnen können.

Verse 9 und 10: Nachdem uns der Apostel davor gewarnt hat, uns weder des Zeugnisses des Herrn noch eines solchen zu schämen, der von dieser höchsten Stellung des Herrn zeugt und für dieses Zeugnis Trübsal leidet, und nachdem er uns ermutigt hat, Trübsal zu leiden mit dem Evangelium, fährt er damit fort, uns an die Größe dieses Evangeliums zu erinnern, welches Kraft ist für solche, die errettet und berufen sind (1. Kor 1, 18.24). Das Bewusstsein von der Herrlichkeit des Herrn und von der Größe des Evangeliums wird uns davor bewahren, uns des Zeugnisses zu schämen, und es wird uns zubereiten, Trübsal mit dem Evangelium leiden zu können.

Aus diesen Versen wird deutlich, dass die zwei großen Gegenstände des Evangeliums die Errettung und die Berufung sind. Auf der einen Seite verkündigt das Evangelium den Weg zur Errettung, und auf der anderen Seite stellt es uns vor, dass es der Vorsatz Gottes ist, durch den und für dessen Erfüllung wir gerettet worden sind. Wir neigen leicht dazu, das Evangelium auf die wichtige Frage unserer Errettung zu beschränken; aber dabei entgeht uns der weit tiefere Segen, der mit dem ewigen Vorsatz Gottes verbunden ist, und wir versagen darin, unserer himmlischen Berufung zu entsprechen. Es ist offensichtlich, dass der erste große Gegenstand des Evangeliums unsere Errettung ist, und Gott möchte nicht, dass der Gläubige irgendwie in Ungewissheit darüber bleibt; deshalb lesen wir in der Schrift: „...der uns errettet hat...“ Die gesegnete Wirkung des Todes und der Auferstehung des Herrn Jesus Christus ist, den Glaubenden von dem Gericht zu befreien, das ihn seiner Sünden wegen hätte treffen müssen, und ihn von dem Zeitlauf dieser Welt zu befreien. So lesen wir, dass Er „sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt“ (Gal 1, 4). Obwohl wir in dieser Zeit tatsächlich in der Welt sind, sind wir doch von ihrer Macht und ihrem Einfluss befreit und moralisch nicht von ihr.

Dies ist der erste Teil des Evangeliums, und die große Masse des Volkes Gottes scheint sich damit begnügen zu wollen. Dennoch verkündet das Evangelium noch weit größere Segnungen, denn es berichtet uns von der Berufung Gottes. Gott hat uns nicht nur errettet, sondern wir lesen, dass Er uns berufen hat mit heiligem Ruf. In dieser Stelle wird unsere Berufung als „heilige Berufung“ bezeichnet; an anderen Stellen wird von ihr als einer „himmlischen Berufung“ (Heb 3, 1) und einer „Berufung Gottes nach oben“ (Phil 3, 14) gesprochen. Die Errettung befreit uns von unseren Sünden und von der dem Gericht verfallenen Welt; die Berufung verbindet uns mit dem Himmel und mit all den geistlichen Segnungen, die nach dem Vorsatz Gottes in den himmlischen Örtern in Christo für uns bereitet sind. Deshalb sind die Segnungen der Berufung Gottes „nicht nach unseren Werken“, auch nicht nach unseren Gedanken oder unseren Verdiensten, „sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade“.

Es ist nicht nur so, dass unsere Schuld bezahlt worden ist und dass wir dem Einfluss und der Macht dieser Szene, in der diese Schuld aufgehäuft wurde, befreit worden sind; wir lernen zu unserem großen Staunen und unserer großen Bewunderung, dass nach dem Vorsatz Gottes für solche, die Ihn lieben, Dinge bereitet sind, die „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und in keines Menschen Herz aufgekommen ist“ (1. Kor 2, 9). In der Berufung Gottes wird uns das Geheimnis Seines Herzens offenbart, wie Er vor unseren Blicken einen unermesslichen Ausblick himmlischer Segnungen enthüllt, und uns versichert, dass all diese Segnungen vor Grundlegung der Welt für uns bereitet worden sind. Wir lernen also, dass Gott einen festen Vorsatz zu unserem ewigen Heil gefasst hatte, lange bevor wir gesündigt hatten oder Schuld aufgehäuft hatten. Weder unsere schlechten Handlungen noch das Versagen der Versammlung in ihrer Verantwortlichkeit kann den Vorsatz Gottes abändern; genauso wenig wie wir ihn durch noch so gute Handlungen hätten herbeiführen können.

Dieser ewige Vorsatz ist jetzt durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus offenbart worden, „der den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium“. Indem Christus in den Tod gegangen ist, hat Er für den Glaubenden das auf diesem ruhende Urteil des Todes auf Sich genommen, und ihm eine neue Szene des Lebens und der Unverweslichkeit eröffnet. Der Tod kann den Glaubenden nicht länger davon abhalten, diese Szene des Lebens und der Segnungen nach dem Vorsatz Gottes zu betreten. Nicht nur, dass die Seele vom Tod in das Leben übergegangen ist, sondern auch der Leib wird Unverweslichkeit anziehen (1. Kor 15, 53.54). Durch das Evangelium ist also ein Bereich des Lebens und der Unverweslichkeit ans Licht gebracht worden, der nie mehr durch Tod oder Verwesung verdorben werden kann. In der Kraft des Geistes können wir uns schon jetzt an dieser neuen Szene erfreuen.

Vers 11: Außerdem ist uns diese Evangelium in seiner ganzen Fülle durch ein besonders berufenes Gefäß bekannt gemacht worden – durch einen, der als Apostel Jesu Christi zu uns, den Nationen gekommen ist. Wenn ein Apostel durch Offenbarung und Inspiration zu uns redet, ist ausreichend Autorität damit verbunden.

Vers 12: Überdies musste der Apostel Paulus seines treuen Zeugnisses wegen leiden. Es war nicht verkehrtes Verhalten, das ihn in Leiden und Widrigkeiten geführt hatte. Sein Eifer als Herold, seine Hingabe als Apostel Jesu Christi, seine Treue zu der Versammlung als Lehrer führten dazu, dass er sagen konnte: „Aus diesem Grund leide ich dies (diese Dinge) auch“. Gefangenschaft war nur eines „dieser Dinge“, die dieser treue Knecht zu erleiden hatte. Es gab darüber hinaus Leiden, die sein empfindsames Herz tief fühlte; denn „diese Dinge“ schließt mit ein, dass solche in Asien, die er liebte und unter denen er so lange Zeit gewirkt hatte, sich von ihm abgewandt hatten. Dann litt er wegen des Widerstandes solcher bloßen Bekenner, die der Wahrheit widerstanden (Kapitel 2,25), er litt durch die Verfolgungen böser Menschen (Kapitel 3,11–13), und er litt durch die aktive Bösartigkeit einzelner Bekenner, die, wie Alexander der Schmied, dem Apostel viel Böses erzeigt hatten (Kapitel 4,14). Obwohl er sah, dass er für seine Treue als Knecht Jesu Christi leiden musste, konnte er trotzdem sagen: „...aber ich schäme mich nicht...“ Daneben schämte er sich nicht nur nicht, sondern er war auch nicht niedergeschlagen und es kam auch kein Wort ärgerlichen Zorns wegen der Ungerechtigkeit dieser Welt, seines Verlassenseins, der Undankbarkeit und sogar des Widerstandes seitens vieler Christen über seine Lippen. Er erhob sich über alles Niedergeschlagensein, allen Ärger und alle Bitterkeit, da er davon überzeugt war, dass Christus mächtig sein würde, das Ihm von Paulus Überantwortete auf jenen Tag zu bewahren. Als Christus gescholten wurde, schalt Er nicht wieder, als Er litt, drohte Er nicht, sondern übergab Sich selbst Dem, der recht richtet (1. Pet 2,23). Angesichts der Leiden, des Verlassenseins und der Schmähungen übergab Paulus in der Gesinnung seines Herrn alles in die Hände Christi. Seine Ehre, sein Ansehen, seine Wesensart, seine Rechtfertigung, sein Glück – alles war Christus übergeben, da er wusste, dass Christus ihn nie versäumen würde, wenn auch die Heiligen sich von ihm abwenden oder ihm sogar widerstehen würden. Er war davon überzeugt, dass Christus mächtig sein würde, für seine Angelegenheiten Sorge zu tragen, seine Ehre wiederherzustellen, und jedes Unrecht an jenem Tag richtig zu stellen.

Im Licht „jenes Tages“ konnte Paulus triumphierend durch „diesen Tag“ mit all den damit verbundenen Beleidigungen, Verachtungen und Schmähungen gehen. Wir mögen uns fragen, warum dieser treu ergebene Apostel verlassen werden durfte und sogar Widerstand von den Heiligen erleiden musste; aber an „jenem Tag“, an dem jedes Unrecht richtig gestellt und alle Schmach und Leiden und Widerstand befunden werden „zu Lob und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi“ (1. Pet 1, 7), werden wir nichts mehr fragen. Die Treuen in diesen Tagen mögen tatsächlich eine kleine und unscheinbare Minderheit sein – so wie der Apostel Paulus mit den Wenigen, die am Ende seines Lebens noch mit ihm verbunden waren – doch an „jenem Tag“ wird es als weit besser empfunden werden, mit diesen verachteten Wenigen gewesen zu sein, als mit der untreuen großen Masse.

Die Eitelkeit des Fleisches liebt es, beliebt und angesehen zu sein, und sie stellt sich selbst vor der Welt und vor den Heiligen in den Vordergrund; aber im Licht „jenes Tages“ ist es besser, in Zurückhaltung einen niedrigen Platz einzunehmen, als durch Eigenreklame einen öffentlichen Platz. Dann nämlich wird festgestellt werden, dass viele Erste Letzte, und Letzte Erste sind (Mk 10, 31).

Es mag in der Tat sein, dass wir wegen unseres eigenen Versagens leiden müssen, und dies sollte uns demütigen. Doch mit dem Beispiel des Apostels vor uns tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass wir bei einem Wandel in absoluter Treue noch mehr zu leiden haben werden; es bleibt nämlich immer wahr, dass „alle aber auch, die gottselig leben wollen in Christus Jesus, verfolgt werden“ (Kapitel 3, 12). Wenn wir dem Licht entsprechend treu sind, welches Gott uns gegeben hat, und wenn wir danach trachten, in Absonderung von allem, was nicht Christus ist, unseren Weg zu gehen, werden wir finden, dass wir in unserem kleinen Maß Verfolgung und Widerstand begegnen werden – in ihren schmerzlichsten Formen sogar von unseren Mitgläubigen. Und es wird gut für uns sein, wenn wir beim Auftreten von Schwierigkeiten – wie Paulus – alles dem Herrn anbefehlen und auf Seine Rechtfertigung an „jenem Tag“ warten können. Allzu oft sind wir angesichts der Ungerechtigkeiten unruhig und ungeduldig und wollen sie schon an „diesem Tag“ richtig gestellt haben, anstatt auf „jenen Tag“ zu warten. Wenn die Herrlichkeit „jenes Tages“ durch den Glauben unserer Herzen vor unseren geistlichen Augen erstrahlen kann, statt dass wir in Versuchung kommen, gegen die Beleidigungen und Ungerechtigkeiten aufzubegehren, dann werden wir uns freuen und frohlocken, sagt der Herr: „…denn euer Lohn ist groß in den Himmeln“ (Mt 5, 12).

Verse 13 und 14: Da dieses gewaltige Evangelium mit seiner Errettung und seiner Berufung aus inspirierter Quelle zu Timotheus gelangt ist, wird dieser ermahnt, ein Bild gesunder Worte zu haben, die er von dem Apostel gehört hatte. Die Wahrheiten, die dem Timotheus in gesunden Worten mitgeteilt worden waren, sollten von ihm in geordneter Weise oder als Umriss festgehalten werden, damit er klar und deutlich angeben konnte, was er besaß. Mit einem solchen Umriss werden die durch gesunde Worte übermittelten Wahrheiten in ihrer richtigen Beziehung zueinander gesehen. Für uns findet sich dieser Umriss in dem geschriebenen Wort, und speziell in den Briefen des Apostels Paulus. So haben wir in dem Brief an die Römer eine geordnete Darstellung der Wahrheiten, die unsere Errettung betreffen, während seine anderen Briefe Umrisse betreffs der Versammlung, des Kommens des Herrn und anderer Wahrheiten enthalten. Im Christentum ist dieser Umriss, dieses Bild, weitestgehend verloren gegangen, da einzelne Textstellen aus ihrem Zusammenhang gerissen und so benutzt werden. Über dieses Bild, wie es uns in der Schrift vorgestellt wird, muss sorgfältig gewacht werden. Aufrichtige Menschen mögen versuchen, ihre Glaubensgrundsätze in religiösen Bekenntnissen, Religionsartikeln oder theologischen Glaubensbekenntnissen zu formulieren; dennoch bleiben solche menschlichen Hilfsmittel, so nützlich sie an ihrem Platz auch sein mögen, weit hinter der Wahrheit zurück und können nie den Platz des inspirierten Bildes, wie es in der Schrift vorgestellt wird, einnehmen.

Außerdem soll dieses Bild gesunder Worte, das wir durch den Apostel erhalten haben, nicht als ein bloßes Glaubensbekenntnis, dem wir unsere Zustimmung geben können, festgehalten werden, sondern „in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind“ – der lebendigen Person, von welcher die Wahrheit spricht. Es ist nicht genug, ein Bild gesunder Worte zu haben; wenn es in unserem Leben wirksam sein soll, muss es „in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind“ festgehalten werden. Die Wahrheit, die, wenn sie das erste Mal der Seele vorgestellt wird, mit Freuden aufgenommen werden wird, wird ihre Frische verlieren, wenn sie nicht in der Gemeinschaft mit dem Herrn festgehalten wird.

Mehr noch, wenn die Wahrheit in der Gemeinschaft mit Christus festgehalten werden muss, kann dies nur in der Kraft des Heiligen Geistes geschehen. Deshalb muss der ganze Umfang der Wahrheit, der in dem dem Timotheus gegebenen Bild gesunder Worte enthalten ist, durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt, bewahrt werden.

Vers 15: Die enorme Bedeutung des Festhaltens des Umrisses der Wahrheit in Gemeinschaft mit Christus und durch die Kraft des Geistes wird noch durch die ernste Tatsache betont, dass derjenige, durch den diese Wahrheit offenbart worden war, von allen Heiligen in Asien verlassen worden war. Genau die gleichen Heiligen, denen die himmlische Berufung und der ganze Umfang der christlichen Wahrheit offenbart worden war, hatten sich von Paulus abgewandt. Es ist nicht so, dass sich diese Heiligen von Christus abgewandt oder das Evangelium ihrer Errettung aufgegeben hatten; aber die durch  den Apostel entfaltete Wahrheit von der himmlischen Berufung war nicht in der Gemeinschaft mit Christus und in der Kraft des Geistes bewahrt worden. Daher waren sie nicht darauf vorbereitet, mit Paulus außerhalb, an dem Platz der Verwerfung in dieser Welt, verbunden zu sein – die vollständige Wahrheit des Christentums schließt dies aber mit ein.

Es ist also offensichtlich, dass wir selbst den erleuchtetsten Heiligen in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Wahrheit nicht vertrauen können. Nur wenn Christus unsere Zuneigungen in der Kraft des Geistes bewegen kann, können wir das uns überlieferte, anvertraute Gut bewahren.

Verse 16 bis 18: Die Anführung des Onesiphorus mit seinem Haus ist sehr bewegend. Sie beweist, dass die Gleichgültigkeit und das Sich-Abwenden der großen Masse den Apostel nicht dahin leitete, die Liebe und Freundlichkeit eines einzelnen mit seinem Haus zu übersehen. Im Gegenteil, das Abwenden der großen Masse machte die Zuneigung dieser wenigen umso köstlicher. Wenn die große Masse dem Herzen des Paulus Kummer bereitete, so gab es doch wenigstens noch solche, von denen er sagen konnte: „…denn er hat mich oft erquickt“. Andere mochten sich seiner schämen, doch von diesem Bruder konnte er sagen: „…er hat sich meiner Kette nicht geschämt“. Wenn andere ihn verließen, gab es doch noch einen, von dem er schreiben konnte: „…er suchte mich fleißig und fand mich“. Wenn andere ihn vernachlässigten, konnte er bei diesem Bruder mit Freude anerkennen: „…wie viel er in Ephesus diente, weißt du am besten“.

Wie erquickend muss es für das Herz des Apostels gewesen sein, in den Tagen seines Verlassenseins zu erkennen, wie das Mitgefühl und die Tröstungen Christi in diesem treuen Bruder zum Ausdruck kamen. Wenn Paulus diese Äußerung der Liebe des Onesiphorus in den Tagen seines Verlassenseins nicht vergessen hat, wird auch der Herr „an jenem Tag“, dem Tag der zukünftigen Herrlichkeit, es nicht vergessen.

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